69. Berlinale 2019
It was the worst of times, it was the best of times |
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Einer der Männerbünde-Filme: Silberner Bär für Roberto Savianis Paranza dei bambini | ||
(Foto: Prokino Filmverleih GmbH) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Im Vorfeld der Berlinale hatte man den Eindruck, dass für jede Pressemitteilung zu den mäßig interessanten Filmen des Programms zwei bis drei Ankündigungen im Maileingang landeten zu den mannigfaltigen Initiativen zu Gleichstellung, Diversifikation und Weltrettung durch Recyclingbecher. Sehr opportunistisch hat sich die Berlinale – seit ihr die boulevardtauglichen Stars und die filmemachenden Idole der Cineasten abhanden gekommen sind – auf die Fahne geschrieben, das »politische«, das sozial »wachste« und engagierteste unter den A-Festivals zu sein.
In der Praxis scheitert an diesen ja durchaus begrüßenswerten Zielen zumindest das Filmprogramm. Einerseits rutschen zu viele Filme über eine bloße Themencheckliste in die Auswahl, nicht nur ohne erkennbare Rücksicht auf künstlerische Kompetenz auf diversen Ebenen, sondern auch ohne genaueres, vorheriges Hinschauen, was die Filme zu ihren Themen letztendlich – ob absichtlich oder versehentlich – wirklich sagen.
Der erste massive Ausrutscher war dann auch sogleich der Eröffnungsfilm The Kindness of Strangers.
Auf dem Papier ein herzerwärmender Film über den notwendigen Zusammenhalt von Menschen in prekären Lebenslagen. Auf der Leinwand ein in jeglicher Hinsicht, von Lone Scherfing so nicht erwartbar dilettantisches Debakel, dem es in keiner einzigen Szene gelingt, Figuren darzustellen, die wie menschliche Wesen sprechen und handeln. Man hat nicht das Gefühl, dass er seine Protagonistin – eine mittellose Mutter, die mit ihren beiden Söhnen vor dem gewalttätigen Familienvater ausgerechnet nach Manhattan flieht – bewusst als von der Situation völlig überfordert und deshalb irrational handelnd porträtieren möchte. Doch so sehr häuft er aus schierem erzählerischen Unvermögen die nicht nachvollziehbaren Verhaltensweisen, die – man kann es nicht anders nennen – strunzdummen Überlebensstrategien, dass man jegliches Wohlwollen und Geduld für diese Frau verliert. Womit der Film freilich genau den Leuten in die Karten spielt, die insbesondere weiblichen Gewaltopfern eine nicht geringe Mitschuld und strafenswerte Unbedarftheit unterstellen.
Andererseits entpuppte sich als insgeheimer Themenschwerpunkt dann doch wieder das altvertraute Kreisen um Männerbünde, um das Ringen um Rang innerhalb männerbestimmter Soziotope.
Es sind Parallelgesellschaften mit eigenen Regeln, mit eigenen (Spitz-)Namen. Spitznamen, die man sich entweder ruhmreich verdient oder deren Schmach man nie wieder ablegen kann.
Der Tiefpunkt dieser Filme war recht früh durchschritten bei dem kläglich durchschaubaren Versuch von Berlinale und Verleih, einen Skandal zu inszenieren. Fatih Akins Der Goldene Handschuh soll laut Regisseur dem Frauenmörder Fritz Honka die Würde zurückgeben; ohnehin ein von vornherein fragwürdiges Unterfangen, bei dem man fast erleichtert sein muss, dass es in der Praxis mit solchem Karacho gegen die Wand (ha!) fährt.
Heinz Strunks Romanvorlage ist wahrlich keine angenehme und leicht zu ertragende Lektüre, aber sie belohnt die Zumutung und ist in der tatsächlichen Darstellung von Gewalt überraschend zurückhaltend und schmerzhaft nüchtern. Der Film hingegen radiert jeglichen größeren historischen Kontext und bleibenden Erkenntnisgewinn aus und wählt stattdessen langweilige Krassheit und krasse Langeweile. Vollkommen ins Lächerliche zieht er sich letztendlich selbst mit der absurden Regieentscheidung, den vierzigjährigen missgestalteten, vom Schicksal elend zermürbten Honka von dem 22-jährigen, virilen und hübschen Jonas Dassler mit Gumminase darstellen zu lassen, dem die freudige Unverbrauchtheit nur so unter der Kontaktlinse hervorblitzt und der sich der Figur hauptsächlich über die Gumby-Sketche von Monty Python angenähert zu haben scheint.
Dieses Experiment geht schon nicht auf, wenn Dassler allein auf der Leinwand rumpelstilzt, und gleich zweimal nicht, wenn sich der maskierte Bub das Bild mit Männern teilt, die sich ihre Lebensnarben wirklich am Tresen vom »Goldenen Handschuh« hätten schlagen lassen können. Männern, denen man abnimmt, dass sie sich ihre derben Spitznamen wie Soldaten-Norbert, Anus und Doornkaat-Willy verdient haben.
Freilich kann man über Männergesellschaften auch gelungene Filme drehen.
In nicht unbedingt frauenbestimmteren Milieus bewegen sich Mid90s und La paranza dei bambini, der kalifornischen Skaterszene in den titelgebenden Jahren und respektive der Mafia in Neapels Stadtvierteln. Auch hier wird Prestige in Form von Spitznamen verliehen und gefestigt.
Der Protagonist von Jonah Hills sympathisch-nostalgischem Regiedebüt Mid90s überholt sehr schnell den zuvor Jüngsten, Untersten in der Hierarchie der Skater-Clique – es ist ein Affront für den Übergangenen, dass Stevie fix zu »Sunburn« wird, während er selbst über seinen Taufnamen nicht hinauskommt. So lässig und rebellisch gegen Autoritäten sich die Teenager geben, so ernst und strebsam konstruieren und verteidigen sie ihre eigene Rangordnung, definieren sie sich über sie.
In Paranza dei bambini, der nicht zu Unrecht für Roberto Savianis Drehbuch mit einem silbernen Bären ausgezeichnet wurde, gehören die »Kosenostranamen« für die alteigesessenen Dons zum Genre. Wie der Film überhaupt einen sehr klassischen Plot durchspielt von Verführung, Aufstieg und Fall durch das organisierte Verbrechen. Dass jedoch der Held und seine Mitstreiter durchweg Jugendliche oder gar Kinder sind, bringt nicht nur eine neue Note, sondern verändert die ganze Komposition. Was der Film entgegen aller Erwartungen ausspart, ist der typische Übertritt ins Mannesalter durch eine Feuerprobe. Nicht nur bleiben die Nachwuchs-Mafiosi konsequent wirklich jugendlich, völlig unbefangen legen sie oft sonst eher als typisch weiblich kodierte Verhaltensweisen wie exzessives Kleidungsshoppen, Selfies knipsen und gemeinsames Aufstylen an den Tag. Und Nicola begeht seinen ersten Mord sogar – vorgeblich zur Tarnung – wie selbstverständlich verkleidet als Frau. Der Film stellt das nie groß aus, so weitgehend, dass er auf der Berlinale oft als austauschbarer Camorra-Film abgetan wurde. Was im Umkehrschluss jedoch die gewohnten Männlichkeitsinszenierungen des Genres neu ausleuchtet, die Perspektive aus dem gefestigten Lot kippt.
Im Grunde könnte man ja auch die Toten Hosen als einen Männerclub betrachten. So gäbe diese Band sicher genug Stoff für eine Doku über Rollenbilder, Identitätssuche und Testosteronpegel in der Punk-Musik. Aber obwohl mit Cordula Kablitz-Post eine Regisseurin hinter Weil du nur einmal lebst – die Toten Hosen auf Tour steht, bleiben solche tieferen Fragen Randnotizen. Was dem eher glatten Film aber – zumindest im Umfeld dieser Berlinale – gelungen ist: einem eine Injektion Energie zu geben.
Und damit fügte er sich in die erschreckend große Reihe von sehr konventionellen Dokumentationen, die selbst filmisch keinen Kunstanspruch erkennen ließen, die einem aber zumindest aus zweiter Hand die Leidenschaft für Kino kurzzeitig wieder erwecken konnten. Was das restliche Programm aus erster Hand nur sehr, sehr selten vermochte. Es waren Filme, die ihre Begeisterungskraft parasitär allein aus ihrem Gegenstand zogen.
Es hätte schlimmer kommen können – Mario Adorf begleitet den junggebliebenen Alt-Star auf einem launigen, mit Anekdoten und Liedlein gepflasterten Spaziergang durch Städte seines wild bewegten Lebens… ja, so in etwa. Kritisch-analytisch nähert sich Dominik Wesseleys Film seinem Sujet nicht. Aber es war erstaunlich erquicklich, daran erinnert zu werden, wie lebendig und vielfältig, avantgardistisch und hinreißend trashig europäisches Kino mal war. Und was für großartige und espritvolle Filme von damals man hätte anschauen können, wenn man nicht seine Zeit mit dem Berlinale-Wettbewerb vertrödelte.
Vielleicht war die Programmierung von What She Said: The Art Of Pauline Kael nichts als eine Maßnahme der Berlinale, um den anwesenden Filmkritikern ein Gefühl von Wertigkeit und Lebenssinn zurückzugeben. Biederer als diesen Zusammenschnitt von Archivmaterial und Talking Heads zu einem unablässigen Dudelsoundtrack kann man einen Dokumentarfilm kaum gestalten. Doch trotzdem lässt es einen wieder träumen, wenn Regisseure wie Quentin Tarantino, Paul Schrader und John Boorman der legendären Großkritikerin des »New Yorker« huldigen, statt anders herum. Freilich: man wächst beim Schreiben über Filme an seinen Gegenständen…
Strahlend und funkelnd wie das Feuerwerk im Berlinale-Trailer hat sich Kosslicks Abschied wahrlich nicht gestaltet. Im Gegenteil: not with a bang, but with a whimper schien sich die Berlinale einfach aufzulösen.
Rückblickend hatte es etwas von einem Omen, dass die schlecht verarbeiteten diesjährigen Festival-Taschen sich quasi mit Inbetriebnahme in den Selbstzerstörungsmodus begaben, ausfransten, ihre Nähte rissen und sie in ihre Einzelteile zerfielen.
Das Fehlen einer begleitenden Ausstellung von angemessener Dimension in der Deutschen Kinemathek ist den meisten schon gar nicht mehr aufgefallen. Aber die dargebotene Handvoll Räume mit einer eher beliebig scheinenden Auswahl an historischen Pressefotos stellt dann doch ein neues Minimum an Aufwand und Engagement dar. (Und wir sagen das als Besucher der »Best Actress«-Ausstellung von 2015.)
Dass der Rote Teppich zum Schutze der Umwelt aus recycelten Fischernetzen gefertigt wurde, ist lobenswert. Aber wir empfinden es als einen Schritt zu viel, ihn für kommendes Jahr wiederverwertbar zu halten, indem man ihn einfach nicht abnutzt durch zu viele Gäste mit Massenappeal.
Dass der Eröffnungsfilm quasi ein Totalausfall war, haben wir eingangs schon erwähnt.
Der letzte Wettbewerbsflm hat das dann noch einmal zu übertreffen gewusst – und ist tatsächlich komplett ausgefallen. Ob wirklich wegen technischer Probleme bei der Post-Produktion oder – wie gemunkelt – aufgrund von Einspruch der chinesischen Zensur: Die Leere, die Zhang Yimous fehlender Beitrag hinterließ, sorgte dafür, dass man bereits am Freitag das Gefühl hatte, das Festival sei nun endgültig schon vorbei und man sich von der Abschlussgala am Samstag etwas überrumpelt fand.
Aber zu dem Zeitpunkt war man ohnehin längst dazu übergegangen, die Filme Filme sein zu lassen und sich mit realen, zumeist gleichgesinnten, gleich desillusionierten Menschen zu treffen. So saß man dann gemütlich bei ein paar Bier zusammen, die Frage nach unverzichtbaren Filmempfehlungen war meist schnell mit einem allseitigen Schulterzucken geklärt und schon stand einem wirklich netten Abend kein lästiges Kino mehr im Weg.
Aber vielleicht war ja genau das der passendste Abschied für einen Festivalleiter wie Kosslick, dessen Filmauswahl nie unbedingt von cineastischer Dringlichkeit geprägt war.
Dem man aber bei aller Kritik nie den Vorwurf machen konnte, dass es ihm missglückt sei, seinem Festival ein menschliches Gesicht zu geben.