72. Filmfestspiele Cannes 2019
Cannes on Speed 04: Mary Poppins als Horrorfilm |
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Little Joe von Jessica Hausner | ||
(Foto: Sony Pictures Deutschland / X Verleih) |
»Mary Poppins« als Horrorfilm. Alice hat ihr Kostüm immer bis zum obersten Knopf geschlossen, und gibt sich auch sonst eher zugeknöpft. Sie ist – dies zuallererst – eine hochbegabte Naturwissenschaftlerin, die in einem Labor genmanipulierte Pflanzen züchtet. Daneben ist sie auch noch alleinerziehende Mutter eines niedlichen, begabten Zwölfjährigen namens Joe.
Perversion steht früh im Raum. Oder wie will man es nennen, wenn eine Mutter ihre besonders vielversprechende Züchtung nach dem Sohn benennt: »Little Joe«. Auch sonst greifen die Kategorien der Psychoanalyse: Verdrängung und Zurückweisung, Unterdrückung von Wünschen. Außerdem Mütterlichkeit und Sexualität in verschiedensten Varianten.
Die Pflanzen gelingen übrigens auch nur so gut, weil sie künstlich steril gemacht wurden. Doch die unterdrückte Pflanzensexualität
bricht sich Bahn, denn die vielen (hochintelligenten?) »Little Joes« im Labor finden Wege, sich die Menschen Untertan zu machen indem sie diese in roboterähnliche Sklaven ihrer Überlebensinteressen verwandeln.
Jessica Hausner hat diesen Film in England gedreht. Und zwar offenbar nicht, weil sie musste, sondern weil sie wollte, weil sie Little Joe nicht in Österreich machen wollte. Trotzdem ist dies ein durch und durch österreichischer Film geworden: Kalt und pervers, klug und gekünstelt, geprägt von einer aseptischen pastellfarbenen Ästhetik, die hier vor allem mit dem Production Design, der Kamera und einer allzu tendenziösen Musik arbeitet, die wunderschön aussieht, aber allzufrüh ins Leere läuft, sodass »Little Joe« fast die Anmutung eines breit getretenen Kurzfilms hat.
Die schönsten Momente sind die exquisiten Kamerafahrten ins Nichts, die Hausners Stammkameramann Martin Gschlacht schon in Hausners Hotel (der in Cannes 2006 Premiere hatte) zur Perfektion führte.