76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Weltraumfahrer, Ankläger, Joker und ein lachender Dritter |
||
Wird Venedig wieder zum Oscar-Orakel: James Grays »Ad Astra«... |
»Verliere nicht den Mut, bilde dir stets dein eigenes Urteil und laß die anderen ruhig lachen.«
Der Dichter Giorgio Baffo (1694 –1768) zum jungen Casanova
+ + +
Ein bisschen Vivaldi-Klänge, ein bisschen Dogenpalast und giftige Lagunendämpfe, ein wenig Lidoglanz – sanft und lautlos schreiten die Tatzen des Löwen, des Wappentiers von Venedig, den Kinosaal herab auf dem neuen Kino-Trailer, der vor jedem Film an den nächsten 12 Tagen gezeigt werden wird. Dieser Löwe, angeblich der König der Tiere, ist sichtbar entspannt. Ein ruhiger Herr, der nicht viele Bewegungen braucht, um seine Majestät zu zeigen.
+ + +
Heute Abend geht es wieder los – in dieser einmaligen Mischung aus italienischem Flair, schick-lässiger Leichtigkeit, und dem feierlichen Pathos einer Stadt, die über 1000 Jahre lang eine unabhängige Republik war. Venedig ist Italien, aber es ist noch etwas mehr. Und Rom, wo mal wieder eine Regierungskrise tobt, und Faschisten, Clowns und Demokraten einander mit Tricks und Finten überlisten, ist weit entfernt.
Die Mostra, also die Filmfestspiele von Venedig, sind das
älteste aller Filmfestivals. Und für viele das allerschönste: In seinem morbiden Charme, der die Qualität der hier gezeigten Filme unterstreicht, und doch auch ins richtige Verhältnis setzt zum Rest der Welt.
+ + +
Venedig, ohne die störende Geschäftemacherei eines Filmmarkts, ist vor allem eine große Bühne, Show, Theater, mitunter billiger Glitter, und genau damit den Ursprüngen des Kinos aus dem Unterleib, aus Jahrmarkt und Karneval am nächsten.
Was nicht etwa bedeutet, dass man hier sein Hirn ausschalten muss, im Gegenteil. Man gebraucht es nur anders – und das passt auch am besten zum leicht betäubenden grüngelben Schwefelhauch der Lagune.
Die Mostra ist das heiterste und entspannteste unter den großen Filmfestivals, sie ist auch ein Spätsommerstrandvergnügen; Kino ist hier immer unbedingt Kunst, aber auch immer Entertainment, zumal amerikanisches.
Und so wird man hier ab heute Abend der Crème de la Crème des internationalen Autorenkinos ebenso begegnen, wie den vermutlichen Favoriten auf den nächsten Oscar.
+ + +
Denn als Oscar-Orakel mit sicherem Instinkt hat sich die Mostra in den letzten Jahren auch entpuppt. Zu dieser Gruppe gehören mit Sicherheit zwei Filme: Ad Astra, der langerwartete Weltraumthriller von James Gray: Nach Gravity und First Man ist das der dritte Weltraumfilm in acht Jahren unter Festivalleiter Alberto Barbera. Nun also eine Mars Mission mit Brad Pitt und Tommy Lee Jones. Nach allem, was man vorab wissen kann, ist dies pathetisches Männerkino auf den Spuren von Stanley Kubrick. Ein Vater, ein Sohn und der Mars.
Und so geht alles nicht nur psychoanalytisch ans Eingemachte, es wird, so deutet der Trailer an, auch philosophisch: »What did he find up
there?« – »In the abyss there is the endless void.« Eine Meditation über die endlose Leere.
+ + +
»My mother always tells me to smile and put on a happy face.« Nicht um den Vater, sondern um die Mutter geht es im zweiten amerikanischen Film: Joker erzählt die Lebensgeschichte des berühmtesten Gegenspielers von Batman, erzählt, wie Joker der wurde, der er ist. Joaquin Phoenix. der eben noch bei Quentin Tarantino gut den Massenmörder Charles Manson hätte spielen können – ist jetzt in der Nachfolge von Jack Nicholson und Heath Ledger als Joker zu sehen in einem Werk, das allem Anschein nach weniger ein Superheldenfilm ist, als die Geschichte eines modernen Taxi Driver. Und wohl auch ein weiteres in der endlosen Reihe der Melodramen um den amerikanischen – weißen – Mann: »My life was a tragedy ... now I realize: It’s a comedy.«
+ + +
Etwas Ähnliches würde vermutlich auch Roman Polanski sagen. Er hat J'accuse gedreht, einen Film über die Dreyfus-Affaire. Wie schön!
Nicht nur weil Polanski ein meisterhafter Regisseur ist, dessen Filme immer einen zweiten oder dritten Blick lohnen. Sondern auch, weil Polanski darin sicherlich lustvoll die Doppelmoral der Gegenwart sezieren wird, mit den Anklagen, dem
moralistischen Furor und der Hexenjagd gegen ihn selbst spielen wird. Und dabei gewiss auch den Antisemitismus der Gegenwart nicht übersieht. Das ist der vorab spannendste Film.
+ + +
Eröffnet wird heute Abend mit einem anderen Film, der ein wenig französisch ist und ein wenig etwas anderes: La Vérité – Catherine Deneuve und Juliette Binoche spielen die Hauptrollen, Regie führte aber ein Japaner: Hirokazu Kore-eda, der zuletzt im vorigen Jahr in Cannes die Goldene Palme bekam.
The Truth ist ein Familiendrama. Kore-eda drehte erstmals außerhalb seiner Heimat.
+ + +
Aus China kommt Saturday Fiction, der neue Film von Lou Ye, dem für mich spannendsten Autorenfilmer aus dem Reich der Mitte.
Aus Deutschland gibt es im Wettbewerb diesmal nichts – dafür wird die wichtigste Nebensektion, Orizzonti, mit dem Film einer jungen Hamburgerin eröffnet: Kathrin Gebbes zweiter Film Pelikanblut. Das ist schon mal ein guter
Titel.
+ + +
Natürlich gibt es das übliche Gemecker. Von den Rächern der Enterbten: Zu viel Streamingdienste. So what? Es geht um gute Filme und interessante Filmemacher.
Und von politisch Überkorrekten: Die Anzahl der Regisseurinnen im Wettbewerb sei verschwindend gering.
Ja, welche Filme hätte man denn zeigen sollen?
Der »lachende Dritte« zwischen den zuletzt etwas gestresst wirkenden Franzosen in Cannes und einer schwächelnden Berlinale im Umbruch sei Venedig, kommentierte im Vorjahr die »Süddeutsche Zeitung«. Mal sehen, wie sich der derzeitige Umbruch der Kinolandschaft und Verwertungsketten in diesem Jahr in der »Mostra« spiegelt.
(to be continued)