76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Ein Mann will nach oben |
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Gefangene ihrer Klasse in: Pietro Marcellos Martin Eden | ||
(Foto: Piffl) |
»Die Gletscher der Arktis rücken jährlich drei Millimeter auf uns zu. Ausrechnen, wann sie ankommen werden. In einem Film vorher sehen, was dann geschehen wird.«
Michelangelo Antonioni
Die Amerikaner reisen ab nach Toronto. Wurde auch Zeit. Aber das Wochenende stand noch ganz in ihrem Bann. Etwas zu viel geredet wurde über Joker.
Joker ist der Versuch, den schillerndsten Gegenspieler von Batman in unsere Gegenwart zurückzuholen. Dazu kommt Medienreflexion – böse Talkshows!! – und Filmgeschichte. Todd Phillips zeigt aber vor allem einen Soziopathen. Die Säule, auf der dieser Film ruht, ist Joaquin Phoenix. Man muss dessen exaltiertes Spiel nicht mögen, aber Phoenix ist interessant. Ansonsten ist der Film ziemlich leer und unsympathisch: Die politische Agenda dieses Films ist reaktionär und faschistoid. Hier wird ein gewalttätiger,
psychopathischer Wutbürger zum Ventil der Erleichterung des Publikums.
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Ein junger Mann aus der Unterschicht will Schriftsteller werden, er ist hochbegabt, aber auch ein grober Klotz. Er verliebt sich in eine höhere Tochter, die will auch was von ihm wissen, ihre Familie aber um so weniger. Nebenbei schreibt er, und wird politischer Aktivist. Erst als er in der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt wird, darf sich auch die höhere Tochter wieder für ihn interessieren.
Das ist in groben Zügen die Geschichte von Martin Eden, Pietro Marcellos Film, der Jack Londons gleichnamigem Roman von 1909 folgt, ihn aber in das Italien des 20. Jahrhunderts versetzt, in ein imaginäres Italien, das manchmal in den 60er, 70er Jahren zu existieren scheint und manchmal in den 20ern. In dieser Unklarheit liegt der Reiz des Films, aber auch eines seiner Probleme.
Ästhetisch ist der Film in jedem Fall eine Wucht. Ein überaus origineller und sehr, sehr schöner Film, der mit altem dokumentarischen Material arbeitet und es zum Teil aus den Archiven hervorholt, es zum Teil durch Farbgebung und Körnung imitiert oder seine Figuren digital in es hineinsetzt.
Die alten Aufnahmen zeigen Neapel und Süditalien in tollen Technicolor-Farben. Vieles stammt aus italienischen Filmen. Ganz groß z.B. sind Bilder, die Jungen beim Baden im Meer zeigen. Die tauchen da untereinander weg, jagen Fische und dann Oktopusse, fangen sie, essen sie auch frisch und lebendig, töten sie, all das ist heute weniger sinnlich verlockend und vermutlich nicht mehr politisch korrekt.
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Dies ist also Elena-Ferrante-Land. So wie diese Filme hätte mal die Verfilmung von Ferrante sein sollen. Zugleich sind dieses Buch und seine Handlung als solche überaus dürftig, altbacken, und nervtötend in ihrem Schematismus. Man weiß bei den allermeisten Figuren sofort, was mit ihnen los ist, wo sie stehen. Und sie ändern sich den ganzen Film über nicht, sondern sind statisch.
Alle Menschen bleiben hier am Ende Gefangene ihrer Klasse: Die höhere Tochter des Bürgertums, die Martin
zähmen will, das Arbeitermädchen, das ihn einfach anhimmelt und mit ihm bis ans Ende der Welt gehen würde, der kleinbürgerliche Schwager mit seinem primitiven Aufstiegswahn und seinem Autoritarismus. Wir haben Kleinbürger mit ihrem Hass aufs Individuelle, ihrem Hass auf die Kunst, während die Arbeiter das bewundern. Die Eigentümerin des Kramladens gibt Kredit, aber nicht mehr, als sie mitbekommt, dass er Schriftsteller ist und dass er Sozialist sein soll.
Der latente
Faschismus der Kleinbürger, die Gewaltbereitschaft und ein Frauenbild, wo Frauen in diesem Film den Mann am Ende vor allem stören. Sie sind gut, wenn sie seine Dienerinnen sind, den Haushalt für ihn machen, und Elena ist zwar die große Liebe von Martin Eden, ist es aber offenbar nicht wert, dass er irgendwas für sie aufgibt. Das Werk ist wichtiger.
Schließlich ist dies wieder einmal erkennbar ein sehr amerikanischer Stoff. Im Prinzip geht es auch hier um das Selbstmitleid eines amerikanischen Mannes: Einmal mehr sieht man einen jungen Mann, der seine Umgebung und alle möglichen anderen Menschen dafür verantwortlich macht, was mit ihm passiert und die Verhältnisse. Das Männerbild ist genauso fragwürdig wie das Frauenbild, und es gibt auch Deus-ex-machina-Momente, etwa, als es Martin ganz schlecht geht, kommt plötzlich
eine positive Antwort eines Verlegers. Oder auch Maria, die verwitwete Mutter mit den zwei Kindern, die ihn aufnimmt und ihm Unterkunft und Essen gibt, ohne etwas von ihm zu wollen.
Da hätten sie mal besser »Die Kartause von Parma« verfilmt.
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Es gibt so verschiedene Fahrradwege vom Palazzo de Cinema zum Maleti oder zu anderen Cafés, Bars und Restaurants auf der Via Santa Elisabetta. Es gibt einen Weg, den ich mit Michael öfter gefahren bin, der am Afrika entlangführt, und jedes Mal, wenn ich da lang fahre, denke ich an Michael und auch daran, wann es wohl für mich mein letztes Mal sein wird, dass ich hier entlang fahre.
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Sonne, Nebel, Shakespeare. Ein Schlachtfeld am nächsten Morgen. Es herrscht Bürgerkrieg. Schotten und Walliser gegen den König. Heinrich IV. hat Chaos gesät. »You must be King« sagt man dem Kronprinzen, der es nicht sein will, am Sterbebett. »The King needs rest.« – »He soon will have it.«
Hass auf den Vater – vielleicht ist dies die europäische Note. Dann zeigt der Film The
King von David Michod (Animal Kingdom) die Krönung. Die Krönung ist toll, der König wird ganz nackt gesalbt und man bekommt ein Gefühl für die Kraft der Rituale und charismatische Momente.
Bald sieht man, wie die Macht den, der sie innehat, verändert. Es gibt Geschenke zur Krönung, etwa aus Byzanz einen mechanischen Vogel – »unnatural mechanism from the edge of Christendom«. Und Weisheiten wie »Great Reforms are best acted with regime change.« oder
»No one ever speaks the truth at court.«
The King ist eine Melange aus historischen Fakten und Shakespeares Dramen »Henry IV.1«, »Henry IV.2« und »Henry V.« Bald gibt es Krieg gegen Frankreich, Falstaff und dazu einen irren Dauphin von Frankreich, den Robert Pattinson spielt. Dann die Schlacht von Azincourt mit Morgenstern und Matsch. Und zum Sieg die von Johnny Depps Tochter gespielte kluge Prinzessin: »All monarchy is illegitimate«
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Heinrich V. ist der Superheld des englischen Mittelalters. Shakespeare hat ihn verklärt. Auch er wird nun in diesem Film auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Stilistisch ist das grob und gritty, pur und schmutzig.
Der Film zeigt, wie aus dem Prinzen der König wurde. Und wie aus dem Krieg der Frieden kommt: »This is how peace is achieved. It is achieved in victory.«
Sieben Jahre nach Azincourt allerdings war der König tot und es kam Jeanne d’Arc.
(to be continued)