76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Mit den Clowns kamen die Tränen |
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Seicht, unzusammenhängend, reaktionär – Todd Philipps Joker | ||
(Foto: Warner Bros.) |
»Is it just me or is the world getting crazier out there?«
Joker in: Joker
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Joker, die schillerndste Figur des Batman-Universums, außer Batman selbst natürlich und Catwoman, dieser Joker ist mehr als nur ein Gegenspieler des Helden. Er ist eine Institution für sich selbst. Ein Horror-Clown. Ein Unternehmer des Wahnsinns, der auch den Wahnsinn des Unternehmertums repräsentiert. Er ist aber auch ein Zeichen für die Bosheit der Unterhaltung, die Bosheit des Humors.
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Der Film beginnt mit Medien. Aus dem Off die Worte eines TV-Nachrichtensprechers. Die Rede ist vom Zustand von Gotham City: Alles sei vermüllt, »Even the richest areas are looking like slums«. Man sieht Feuer, die Rede ist von »garbage and rats«.
Das nächste Bild zeigt dann die Hauptfigur vor einem Spiegel, die Finger greifen in seinen Mund, ziehen die Mundwinkel erst nach unten, danach nach oben. Trauer und Lachen wie die beiden griechischen Theatermasken im Film Seberg. Er trainiert Lachen und Lachmuskeln, denn er arbeitet als Clown, den man mieten kann. Dann ein Schnitt: Das Bild zeigt nun eine Straße, an den Autos und der Werbung erkennbar 70er Jahre. Viele Geschäfte haben offenbar Probleme, viele Schlussverkäufe, »everything must go« steht auf einem Schild. Vor dem Geschäft ein Clown, der Werbung macht und ein Schild mit der gleichen Aufschrift trägt. Kurz darauf klaut ihm eine Gruppe Jugendlicher das Hinweisschild, es
kommt zu einer Verfolgungsjagd, die dem Film die Möglichkeit gibt, uns ein paar Panorama-Shots von der Innenstadt zu zeigen. Der Clown lässt sich in eine Seitenstraße locken, dort wird er brutal zusammengeschlagen.
Dann erst, über dem Lachen des Zusammengeschlagenen, ist der Filmtitel zu sehen: »Joker«.
Nächster Schnitt: Joker, der Arthur heißt, ist wieder zu sehen. Wie er sowieso fast in jedem Bild dieses Films zu sehen ist, der ganz und gar aus seiner Sicht erzählt ist, sogar im doppelten Sinn, denn dem, was wir hier sehen, ist nicht immer zu trauen. Er lacht vor einer Sachbearbeiterin des Sozialamts. Sein Lachen ist ein Weinen und sein Weinen ist ein Lachen. Auch hier wird nochmals die Epoche deutlich als 70er Jahre markiert, man sieht metallene Regale, man sieht eine
Schreibmaschine, keine Computer, keine Mobiltelefone, dafür Metall.
Arthur muss sein Journal vorzeigen, tut das auch, dort steht »I hope my death makes more cents than my life«. Jetzt sollte ein Lacher kommen, denn Arthur möchte Comedian werden, das klappt aber nicht. Er ist selbstmitleidig: »I haven’t been happy my whole entire fucking life.« Er möchte seine Medikamentendosis heraufgesetzt bekommen, und sagt den interessanten Satz: »I think I felt better when I was
locked up in hospital.«
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Arthur hat eine Visitenkarte bei sich, die er Passanten reicht, wenn es mal wieder nötig ist. Auf der steht etwas von einer Gehirnoperation und unkontrollierbarem Lachen, einer Krankheit – ob das eine Wahnvorstellung ist oder stimmt, gehört zu den Fragen, die offenbleiben. Er wohnt nach wie vor bei der Mutter in einem ziemlich heruntergekommen Sozialbau. Abends schaut man fern zusammen. Besonders beliebt ist »Live with Marvin Franklin«, ein Late-Night-Dings, in dem
Robert de Niro als Showmaster zu sehen ist. Die Show endet immer mit dem Lied »That’s life« gesungen von Frank Sinatra.
That’s life (that’s life) that’s what people say/ You're riding high in April/ Shot down in May/ But I know I’m gonna change that tune/ When I’m back on top, back on top in June...
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A propos Robert de Niro: Der ganze Film wirkt wie eine Kreuzung aus Taxi Driver und The King of Comedy. Der Film ist eine One-Man-Show von Joaquin Phoenix, aber eine, die immer im Schatten dieses anderen Schauspielers steht.
Ich bin mir jedenfalls nicht ganz sicher, ob Joaquin Phoenix
wirklich so gut ist, wie viele glauben und dieser Film uns glauben machen will; mir scheint, dass der Film vor allem zeigt, dass Phoenix ein Wannabe-de-Niro ist.
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Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Die gute: Arthur hat eine Nachbarin kennengelernt, die alleinstehende Mutter Sophie (die von der in Berlin geborenen Deutsch-Amerikanerin Zazie Beetz gespielt wird).
Die schlechte: Als ihm bei einem Auftritt vor Kindern im Krankenhaus ein Revolver aus der Tasche fällt, wird er entlassen. »What kind of Clown carries a gun?« Als er geht, ist seine letzte Tat, das Schild im Treppenhaus zu bearbeiten. Darauf steht in Businesssprache fürs
Dienstleistungsgewerbe »don’t forget to smile«. Arthur streicht »forget to« durch.
Nun beginnt ein Amoklauf. In der U-Bahn wir er von drei jungen reichen weißen Yuppies, Deppen in Business-Anzügen, provoziert und zusammengeschlagen. Und nun wehrt er sich und tötet die drei. Die Schießerei erinnert an den Fall Goetz.
Er entkommt, für ihn beginnt ein Amoklauf, für die Gesellschaft eine Bürgerbewegung von Menschen mit Clowns-Masken. »A good swell of anti-rich-sentiment«,
wie es heißt. Manche empören sich, seine Nachbarin aber sagt zu ihm mit dem sicheren Instinkt der Frau aus der Unterklasse: »Three pricks less in Gotham City and one million more to go.«
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Nun kommt ein anderer Erzählstrang hinzu. Auftritt Thomas Wayne, von dem Batman-Erfahrene wissen, dass er der Vater von Bruce Wayne/Batman ist und vor den Augen des Sohnes ermordet werden wird. Hier ist er zunächst mal ein arroganter Reicher. Wayne nennt die Armen, die Erniedrigten und Beleidigten »Clowns«, das darf er nicht, hier greift die Political Correctness – denn Wayne will Bürgermeister werden.
Interessant, dass dieser Film endlich einmal die dunkle und böse Seite
von Thomas Wayne zeigt, dass er zeigt, dass man zu dieser Art von Reichtum in der Regel nicht auf sauberen Wegen und mit sympathischem Verhalten gekommen ist.
Es scheint irgendwann, dass Arthur der Sohn von Thomas Wayne ist, und die Szene, wenn die beiden vermeintlichen Brüder sich begegnen, ist eine der besten des Films: »I am Bruce« – »I am Arthur«. A und B by the way. Allerdings heißt es dann schnell, die Mutter sei »delusional«, aber ganz geklärt ist alles auch am Ende noch
nicht. Der Bruce des Films ist einfach ein kleiner eingeschüchterter Schweiger. Bruce ist auch so ein amerikanischer Papa-Sohn, der von seinem Vater nicht loskommt, der sein Leben lang im Schatten des Vaters steht, Superheld oder nicht.
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Es kommt dann, wie alles kommen muss. Eine Fortsetzung wäre denkbar. Regie führt Todd Phillips, der bisher nicht weiter von sich reden gemacht hat. Hier sieht man warum. Eine Verfolgungsjagd zu Fuß durch die U-Bahn erinnert immerhin stilistisch an French Connection. Der Rest ist zwar auch aus zweiter Hand, aber prätentiös. Nie geht der Film das entscheidende Stück weit genug, sondern
macht nur viel Lärm.
Ganz am Schluss singt Sinatra »Where are the Clowns«. Das ist schön. Trotzdem vergisst man die Frage nicht, was der Film denn nun für eine Agenda hat, ästhetisch, politisch? Und ob da alles zusammenhängt, trotz ungelöster Erzählfäden wie der Geschichte der Nachbarin.
Die Geschichte ist seicht, die Gedanken unzusammenhängend, die Haltung so reaktionär, wie die Hauptfigur. Ein Held für alle destruktiven Charaktere.
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Dieser Film ist der Versuch einer Ehrenrettung für seine Hauptfigur. Der Film ist wie eine gut zweistündige Therapiesitzung. Noch der nihilistischste Verbrecher, das bringt der Film uns bei, ist eigentlich ein Opfer. Krankheit und Trauma allerorten – das Böse aber gibt es nicht und persönliche Verantwortung verdampft vor der sozialen und administrativen Katastrophe. Das passt zum Zeitgeist und mag manche kranke Seele beruhigen. Ein Erkenntnisgewinn ist es so
wenig, wie einer für die Gesellschaft.
Auch die plattesten Klischees unserer Tage – psychische Krankheiten und Kindesmissbrauch –, mit denen sich heute alles erklären lässt, dürfen in so einem Film nicht fehlen. Und es bleibt festzuhalten, dass auch dieser Film sich dem roten Faden vieler Filme – Mütter, Familie – fügt. Und dass auch er das Sujet Adoption streift. Die Wirklichkeit berührt er nur von fern, andere Menschen auch nicht. Er kreist wie
Arthur/Joker narzisstisch um sich selbst.
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Das Rating, das dieser Film zur Zeit, als ich dies schreibe, um 1.30 Uhr in der Nacht zum Sonntag, gerade auf der imdb bekommt, 9.8 von möglichen 10 bei 1680 imdb-Usern, ist natürlich purer Wahnsinn.
Das wird sich einpendeln bei einer guten 8 etwa, aber es verrät ebenfalls einiges über den Zeitgeist: Rache- und Revolutionsphantasien, vereint durch das in ihnen liegende Wutbürgertum, werden bedient, Verachtung für Rechtsstaat, Medien, Politik sowieso. Das sei doch »bloß« Unterhaltung, werden jetzt wieder viele einwenden. Eben! Als Konsument schluckt man Dinge bereitwillig, als Bürger ist man innerlich zu gelähmt, um sie zu bekämpfen.
Darüber hinaus: Die Primitivität, mit
der man das manierierte, exaltierte und im Grunde genommen höchst redundante Spiel von Phoenix abfeiert, sein Abnehmen und seine Grimassen zur Kunst erklärt. Diesem Schauspieler, für den Dezenz und Subtilität Fremdworte sind, lässt man einfach alles durchgehen. Meinetwegen. Aber selbst wer Phoenix für ein Genie hält, muss blind sein, um über die Stärken des Films die Schwächen von Joker zu übersehen.
(to be continued)