21 films
Kein Hundertmeterlauf |
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Lars von Triers Melancholia | ||
(Foto: Concorde Filmverleih) |
Von Arne Birkenstock
Von Arne Birkenstock (Regisseur & Produzent, Köln)
Die 21 besten Filme des abgelaufenen Jahrzehntes? Objektiv »beste« gibt es anders als beim Hundertmeterlauf im Film nicht, auch wenn wir immer wieder versuchen, eben solche zu küren und uns dabei fürchterlich in die Wolle kriegen. Was also blieb in Erinnerung? Es ist Silvester. Die Zehner Jahre gehen zu Ende und ich habe schon wieder die Hälfte vergessen.
Das Jahrzehnt begann humorvoll: 2010 zeigten uns die Şamdereli-Schwestern unser Land Almanya aus Sicht einer türkischen Einwandererfamilie und taten das klug, humorvoll und empathisch, Banksy wiederum führt uns an der Nase herum zum Banksy – Exit Through the Gift Shop. Und welcher deutsche Sender, Verleih oder Vertrieb wäre darauf angesprungen, wenn ihm jemand zu Anfang des Jahrzehnts einen Film über die Freundschaft eines Ausländers zu einem Rollstuhlfahrer gepitcht hätte? Richtig. Und doch fegten Olivier Nakache und Éric Toledano mit Intouchables 2011 die Straßen leer. Unbegreiflicher deutscher Titel dieses groovig geschnittenen Werkes: Ziemlich beste Freunde. Im selben Jahr erscheint mit Wim Wenders Pina einer der erfolgreichsten Kino-Dokumentarfilme des Jahrzehnts. Immer dort betörend, wo die Gehuldigte über ihre berauschenden Choreographien selbst zu uns spricht.
Mit Mailik Bendjelloul suchen wir Sixto Rodriguez mit in Searching for Sugar Man, erfreuen uns an chilliger Jazzmusik und einem chilligen Tom Schilling in Oh Boy von Jan-Ole Gerster und lassen uns in The Act of Killing von Joshua Oppenheimer und seinen Protagonisten als wiederauferstandene Folterknechte schockieren.
Darf ich mich auch an Fack ju Göhte erinnern? In Deutschland werden zu viele Komödien produziert, in denen sich Akademiker verlieben, Berliner Loftwohnungen behausen und die Belanglosigkeit ihres Daseins durch melodramatisches Balzverhalten kompensieren. Ich fand es komisch, mit Bora Dagtekin die Goethe-Gesamtschule zu besuchen und mich mit politisch unkorrekten Prols zu amüsieren. Nebenbei der mit Abstand erfolgreichste deutsche Film des Jahrzehnts. Dagtekin ist jetzt allerdings bei den Akademiker-Pärchen und ihren Loftwohnungen angekommen, sein perfektes Geheimnis hat man vergessen, noch bevor der Abspann durch ist.
Apropos Deutsche Komödien: Eine Ode an Maske, Kostüm und Szenenbild könnte ich schreiben, wenn ich mich an Toni Erdmann erinnere. Man riecht Omas muffiges Sofa und Vaters verschwitztes Kunstfellkostüm förmlich durch die Leinwand. Keine Möbelhauskatalogbilder, kein Loftwohnungsgeplänkel. Alltagsabsurditäten rund um eine komplizierte Vater-Tochter-Beziehung. Wunderbar! Intensiv hängen geblieben ist mir auch Lars von Triers Melancholia, der seine Zuschauer und auch mich mit einer tiefen und anhaltenden Traurigkeit aus dem Kino entließ.
Die Welt hat schon viele Auswandererepen gesehen, aber keiner beschreibt die Sehnsucht nach der Neuen Welt besser als Edgar Reitz, dessen Held in Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht niemals abreist. Jafar Panahi ist einer, der bleibt oder bleiben muss, obwohl ihn vermutlich weit mehr als »nur« Sehnsucht plagt. Auf der Berlinale 2015 bewegt mich Taxi Teheran als Zeugnis innerer Freiheit, menschlicher Würde, Empathie und Humor in allen Lebenslagen.
Ich erinnere mich auch an Django Unchained mit Jamie Fox und Christoph Waltz als anarchisches Heldenpaar im Sklavenland und an den großartigen Sam Rockwell als Officer Jason Dixon in Three Billboards Outside Ebbing, Missouri von Martin McDonagh.
Unvergesslich sind die grauenhaft schönen Bilder aus Gianfranco Rosis Fuocoammare. Ein beredtes Zeugnis des moralischen Versagens Europas, welches dieses Jahrzehnt für mich mehr als alles andere geprägt hat. Ein cineastischer und bildstarker Dokumentarfilm war für mich auch das beeindruckende Debüt Above and Below von Nicolas Steiner. Großes Kino. Das im Kino leider kaum noch stattfindet.
Womit wir bei den Plattformen wären: War im Kino. Habe Netflix geguckt. Wo außer im Kino sollte man sich Alfonso Cuaróns Roma auch ansehen? Das Kino war rappelvoll, obwohl der Film schon seit vier Wochen auf der Plattform lief. Auch den fulminanten Abschiedsgruß von Scorsese, Pacino, Pesci und De Niro sollte man im Kino sehen. Ich habe jede Sekunde von The Irishman genossen. Auch das im Kino, schon während er auf Netflix lief.
Im kommenden Jahrzehnt werden wir Kinoenthusiasten andere Antworten auf Netflix und Co. finden müssen, als Boykottaufrufe, Sperrfristen und Festivalausschlüsse. Die Zeit der Abwehrschlachten ist vorbei, es gilt, selbst anzugreifen, Strategien zu finden und uns gemeinsam den Herausforderungen und Chancen in digitalen Zeiten zu widmen.
Aber manchmal klappt das mit dem Kino ja auch noch, und eine halbe Millionen Menschen schaut sich einen Film über ein verhaltensauffälliges neunjähriges Mädchen und ihren Leidensweg durch Pflegefamilien, Therapien, Psychiatrie- und Heimaufenthalten an. Nora Fingscheidts Systemsprenger ist ein kraftvoller und energiegeladener Kinofilm. Für die Regisseurin durfte ich vor zwei Jahren mal eine Laudatio halten – auf ihren großartigen Abschlussfilm Ohne diese Welt, mit dem sie den First Steps Award gewann: Ein Dokumentarfilm, cineastisch, sensibel und nah. Das Glück mag mit den Tüchtigen sei, mit den Mutigen ist es seltener. Umso größer die Freude, wenn es auch noch mit den Richtigen ist: Nora Fingscheidt dreht jetzt mit Sandra Bullock in Hollywood. Helena Zengel, ihre elfjährige Hauptdarstellerin, mit Tom Hanks. Systemsprenger ging für Deutschland ins Oscar-Rennen und war für den Europäischen Filmpreis nominiert. Toll!
Last not least: Heimat ist ein Raum aus Zeit von Thomas Heise. Ein Dokumentarfilm. Und was für einer!
Banksy – Exit Through the Gift Shop (2010)
Almanya – Willkommen in Deutschland (2010)
Melancholia (2011)
Intouchables (2011)
Pina (2011)
Searching for Sugar Man (2012)
Oh Boy (2012)
Django Unchained (2012)
Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (2013)
The Act of Killing (2013)
Fack ju Göhte (2013)
Above and Below (2015)
Taxi Teheran (2015)
Toni Erdmann (2016)
Ohne diese Welt (2016)
Fuocoammare (2016)
Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (2017)
Roma (2018)
The Irishman (2019)
Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019)
Systemsprenger (2019)