70. Berlinale 2020
Jetzt nochmal ganz von vorne: Wie man ein Mensch ist |
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Die mit der Kuh tanzen: Kelly Reichardts First Cow gab die Grundstimmung vor | ||
(Foto: Berlinale | Kelly Reichardt) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Alles auf Anfang:
Was er an den (noch jungen) USA so liebe, sagt King Lu (Orion Lee) einmal in First Cow sei, dass man hier noch der Geschichte zuvorkommen könne. Vielleicht bekommt man es dieses Mal ja richtig hin.
Früh im Wettbewerb hat Kelly Reichardts Film einen Großteil der Themen ausgebreitet, die die ganze Berlinale umtrieben. Nach den letztjährigen Versuchen der Ära Kosslick,
sich auf qualitativen Gedeih und Verderb an tagespolitische Relevanz zu klammern, wirkte es im Jahr 1 unter Chatrian und Rissenbeek, als ginge es den Filmen mehr ums Fundamentale.
First Cow handelt als Quasi-Western freilich wie alle Vertreter des Genres von Zivilisationsstiftung. Anders aber als seinen Kollegen, geht es ihm erstmal nicht um die Rolle von Gewalt, die Auseinandersetzung mit dem Anderen, das Aufeinandertreffen widerstrebender Grundprinzipien. Nicht um das Vordrängen in unerschlossenen Raum, sondern darum, es sich dort, wo man bereits ist,
heimelig zu machen.
Die windige Heimwerkerhütte, die durch einen Strauß Wiesenblumen in der Ecke wohnlicher wird.
Die hilfsbereite Zufallsbegegnung, die erst zum Mitbewohner erkoren und dann zum besten Freund ernannt wird.
Das Schmalzgebäck, das für jeden nach Luxus und hinter sich gelassener Heimat schmeckt.
Damit beginnen aber auch die Luxus-Probleme. Für diese »Oily Cakes« benötigen die Freunde Cookie (John Magaro) und King Lu die Milch der ersten und einzigen Kuh
in ihrem Eck des Oregon Territory. Die eigentlich bestimmt ist, dass Großgrundbesitzer Chief Factor (Toby Jones) seinen Tee wie daheim auf englische Art trinken kann. Die Beiden schleichen jede Nacht zur Kuh – mit der sie dabei Freundschaft schließen.
Die ganze Ökonomie, die sich auf dem Verkauf des Gebäcks aufbaut, steht also auf prekärem Fundament. Und türmt sich dabei zu einem »Währungssystem« von demonstrativer Willkürlichkeit: Drei Bissen Heimatgeschmack mit Honig
und Zimt sind je nach Kunde zehn Münzen oder drei Schnüre oder ¾ Goldnugget oder sieben Knöpfe wert.
Von der ersten Szene an weiß man, dass die Geschichte nicht gut enden kann. Und tatsächlich wirken der Streit um Besitzverhältnisse und der Zorn von einem, der sich zu kurz gekommen glaubt, letztlich fatal. Aber der ganze Film ist getragen von dem Wunsch, diese so bescheidene Utopie hätte eine Chance zu bestehen. Damit war First Cow recht typisch für die Beiträge dieser Berlinale.
Im Chaos der gegenwärtigen Welt, wo viele scheinbar alles verlernt haben, was einen menschlich macht, hat man sich offenbar geeinigt, noch einmal ganz von vorne zu beginnen: »Freundschaft gut«, »Essen wichtig«, »Geld nicht alles«, »Sei lieb zu Mensch und Tier«.
Vielleicht war es deshalb schon wieder Zeit für eine Neu-Neuverfilmung der klassischen Menschwerdungsfabel »Pinocchio«. In Matteo Garrones Version ist der ehemalige Hampelmann Roberto Benigni zum Gepetto gealtert und schnitzt sich seinen eigenen Sprössling. Wie schon in Tale of Tales hobelt und feilt Garrone die Vorlage nicht auf heutige Passform zurecht, sondern bringt sie in all ihrer Klobigkeit und mit all ihren Spreißeln auf die Leinwand. Er bleibt Collodi treu, und so wird Pinocchio letztendlich schon zum echten Buben als Belohnung dafür, dass er einmal kurz keine komplett egoistische Kackbratze mehr ist. Es ist Gepetto, der in diesem Film wahrhaft menschlich wirkt, mit seiner bedingungslosen Sehnsucht nach Gesellschaft und Häuslichkeit.
Deutlich an den Rand verbannt gegenüber Kosslicks Zeiten fanden sich Filme, die mit bedeutungs- und mitleidsheischender Geste von der Schlechtigkeit der Welt dozieren. Und dabei doch nur vorgefasste Klischees abbilden und in Wahrheit völlig menschenfremd alles der verkrampft inszenierten Message unterordnen. Schon regelrecht antiquiert fühlte sich etwa Anne Fontaines Police an, der mit dem Privatleben seiner Polizisten-Protagonisten Elends-Bingo spielt, während er den geflüchteten Tadschiken, den sie abschieben sollen, als reines narratives Handgepäck auf den Rücksitz verdammt. Oder Sally Potters The Roads Not Taken, der eine für die Regisseurin, die unlängst ihren demenzkranken Bruder bis zu dessen Tod pflegte, sehr nahe und persönliche Erfahrung leider völlig verkünstelte und verkitschte.
Es ist nicht, dass die Filme der diesjährigen Auswahl verleugneten oder vergaßen, dass es mehr als genug Schlechtes gibt in der Welt. Das kleine bisserl Idylle blieb stets bedroht. Nur dass man sein Hüttchen und Hühnchen hat, heißt nicht, dass man es sicher weiß – in mehreren Filmen wurden die selbstgezimmerten Behausungen am Ende mit erbarmungsloser Zerstörungsfreude niedergerissen. Dieser Jahrgang setzte das Übel nur eher als bekannt voraus und richtet seine Hauptaugenmerk darauf, wie man unter diesen Gegebenheiten Mensch im emphatischen, humanistischen Sinne bleibt.
Ein Film wie Alexandre Rockwells wunderbarer Sweet Thing bietet einem schon auch einen Katalog der Missstände: Der alkoholkranke Vater, die abwesende Mutter mit dem pädophilen und gewalttätigen neuen Freund, Obdachlosigkeit, Polizeigewalt, Alltagsrassismus, Prekariat… Und der Film
verleugnet den Schmerz keineswegs, redet ihn nicht klein, macht keine verlogenen Hoffnungen.
Aber wie schlimm alles ist, das ist dabei so wenig der Punkt und das Grundgefühl, wie es Sweet Thing um einen dramatischen Triumph gegen die Widrigkeiten geht. Er ist schlicht getragen von der Vision, dass es trotz allem klappen kann. Dass es mit dem menschlichen Zusammenleben nicht unmöglich schwer sein muss, wenn alle sich ein bisserl anstrengen.
Vielleicht konnten auch deshalb, im dritten Anlauf, endlich Kervern/Delépine von einem Berlinale-Wettbewerb mit einem Preis heimgehen – auch wenn Effacer l’historique ihr bisher leichtgewichtigster Beitrag war, und es sich nur um den Ex-»Alfred Bauer Preis« handelte, der aus bekannten Gründen diesmal »Silberner Bär – 70. Berlinale« hieß. (Immerhin offenbar eine der wenigen einstimmigen Entscheidungen einer eher uneinigen Jury…) Kervern/Delépine waren schon immer Meister darin, mit viel Witz von der Solidarität zu erzählen. Den Zumutungen des Spätkapitalismus' keinen zerknirschten Ernst zu gönnen, sondern sie in prächtigster Absurdität zu demontieren und konterkarieren. Das verkauft sich einem bildungsbürgerlichen Publikum und Festivaljurys freilich stets weniger leicht als das selbstgefällige, billige Bedenkenträgertum etwa eines Michael Haneke – und dessen Habitus, alle nachfolgenden Generationen für dumm und verloren zu erklären. Dabei ist das, was Kervern/Delépine treiben, deutlich wahrhaftiger und klüger. Und bei aller Skepsis gegenüber den technischen Weiterentwicklungen findet auch Effacer l’historique in Smartphones, Online-Handel, Social Media nur neue Möglichkeiten für die Menschheit, sich als (trotz allem liebenswerte, immer wieder zu unerwarteter Größe fähige) Narren zu gebärden. Es gibt keinen Zustand vor dem Sündenfall bei ihnen – wer in Effacer l’historique in die Natur geht, wird dort vom Esel gebissen. Und die momentanen Lästigkeiten sind keine Apokalypse – am Ende ist die Erde immer noch rund und blau.
Erstaunlich selten ging es um das klassische Thema »Liebesbeziehung«. Selbst bei Hong Sang-soo, bei dessen Filmen sich bisher fast nie etwas Großes geändert hat, die sich im immergleichen Tonfall um die immergleichen semi-romantischen Geschichtlein drehten – und der auf der Berlinale wohl eher fürs Lebenswerk ausgezeichnet wurde, als wirklich für die Regie seiner mit Heimvideo-Zooms durchsetzten Fingerübung The Woman who run / Domangchin yeoja… Selbst also bei Hong Sang-soo mussten die Männer diesmal vor der Tür auf ihren Einsatz warten. Während die Frauen erst einmal unter sich ihr Leben diskutieren und sortieren, erst einmal mit sich selbst ausmachen, wer sie sind und sein wollen. (Und ob das Wohl felinophober (für
Fachleute: ailurophob (halt das, wo man Angst vor Miezen hat)) Nachbarinnen oder hungriger Straßenkatzen höher steht.)
Auf andere Art spielte Natalia Metas (für unser Dafürhalten im Wettbewerb unter Wert geschlagener) El prófugo/ The Intruder das durch: Im ersten Teil ein
hinreißender Film über das latente Grauen der Zweisamkeit. In dem die Protagonistin Inés (Erica Rivas) mit einem Mann in den Urlaub fährt, von dem ihr längst klar ist, dass sie ihn nicht wirklich liebt, dass sie mit ihm zusammen ist, weil man halt mit jemand zusammen sein soll. Das eskaliert umso brillanter zum großen Fremdschämen, als der Film den Mann nicht denunziert, nicht zum Ekel, Fiesling macht. Sondern nur sehr klar zeigt, wie sehr, und wie zu- und aufdringlich, sein schwärmerisches
Bild von der Beziehung differiert von jenem Inés'.
Im zweiten Teil aber wandelt sich El prófugo zum für Berlinale-Verhältnisse erfreulich unverbrämten Horrorfilm. In dem die Synchronsprecherin Inés beginnt, unheimliche Stimmen zu hören und ihr der Sinn für die Realität verwischt, verrutscht. Jedoch just mit der Genre-Volte, dass es letztendlich um die Überwindung der Angst geht. Darum,
mit sich selbst ins Reine zu kommen. Einen Raum zu finden für das Andere, das (vermeintlich) Fremde in einem selbst.
Wie ein Relikt wirkte dagegen im Wettbewerb der eine halbwegs klassische Film über die Liebe.
Es gibt in Philippe Garrels Le sel des larmes / The Salt of the Tears prompt eine Prüfung für angehende Kunsttischler, in der nach Stil und Epoche eines noch unfertigen Stuhls gefragt wird. Der Stil ist
einer des 18. Jahrhunderts – die Epoche jedoch ist die Moderne, da das Möbel ja in der Jetztzeit gebaut wird, lautet die Lösung. Und freilich redet da der Film eigentlich über sich selbst: Nur weil vieles an ihm antiquiert scheinen mag, sei er dennoch nicht weniger heutig, behauptet er. Sein Produktionsjahr allein mache ihn schon zur gegenwärtigen Kunst.
Der ganze Rest des Films beweist, was für ein Unfug das ist. Garrel erzählt von jungen Menschen, die zwar offenbar Handys
besitzen, aber via Festnetztelefon und Briefen kommunizieren, sich Notizen mit Kuli auf die Hand schreiben. Und wenn man all das noch als Details abtun mag: Le sel des larmes behauptet, dass junge Frauen 2019 noch immer nichts anderes zu tun haben, als sich in den schluffigsten, dahergelaufensten Typen unsterblich zu verlieben und dann weinend im Kämmerlein zu hocken, wenn er sie sitzen lässt. (Sofern sie sich nicht gerade beim Duschen ausgiebig von der Kamera
nackt begaffen lassen.) Ungewollte Schwangerschaften werden im Off, via Botenbericht abgetrieben, bevor sie dem Protagonisten zum ernsthafteren Problem werden könnten, ohne dass dabei die Frau auch nur nochmal ins Bild kommen darf. Was alles weniger verheerend gewesen wäre, wenn wenigsten der Protagonist nicht eine derart uncharismatische, strunzlangweilige, von jedem Interesse freie Figur wäre.
Da ist einer mit seiner Weltsicht, seinem Weltinteresse in den 1960ern
hängen geblieben. Und hat sich eine Poetologie zurechtgezimmert, die das für zeitlos relevant erklärt. Doch selbst diesem Film spürte man – siehe die Stuhl-Probe – ein latentes Bewusstsein an, wie sehr er aus der Zeit gefallen ist, wie schon fast rührend peinlich irrelevant. Immerhin weiß er offenbar, dass sein Protagonist nicht gerade ein toller Hecht, strahlender Held ist. Sondern womöglich ein rechter Kackspecht. Aber das bringt ihn leider dennoch nie auf die Idee, die
Welt könne sich um irgendwen anders drehen als diesen jungen Mann. Irgendeine der anderen Figuren könnte von Belang sein, könne ein eigenständiges Leinwandleben bekommen, eine eigene Stimme erheben, außer in Beziehung auf Monsieur Kunsttischler.
Bis vor Kurzem noch wäre ein Garrel die Regel, wären Reichardt & Co. eher die Ausnahme gewesen.
Es war die Grundstimmung auf dieser Berlinale gewiss besser, schlicht weil die allgemeine Qualität der Filme höher war, einen das täglich Dargebotene nicht derart zermürbt und runtergezogen hat. Vielleicht aber lag es schon auch daran, dass die Filme selbst nicht die Grundüberzeugung vertraten, dass Kunst allein dann die Welt verbessert, wenn nur möglichst viele
Gleichgesinnte untätig im Kino sitzen und sich – ihre Vorurteile bestätigend – einander auf die Schultern klopfen.
Sondern dass sie einem die Hoffnung vorlebten, einem die Möglichkeit projizierten, dass die Menschheit noch nicht verloren ist, solange es allen individuell gelingt, Pinocchio gleich, mal für 30 Sekunden kein völliges Arschloch zu sein.