05.03.2020
70. Berlinale 2020

Jetzt nochmal ganz von vorne: Wie man ein Mensch ist

First Cow
Die mit der Kuh tanzen: Kelly Reichardts First Cow gab die Grundstimmung vor
(Foto: Berlinale | Kelly Reichardt)

Edelmann und Willmann auf der 70. Berlinale

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Alles auf Anfang:
Was er an den (noch jungen) USA so liebe, sagt King Lu (Orion Lee) einmal in First Cow sei, dass man hier noch der Geschichte zuvor­kommen könne. Viel­leicht bekommt man es dieses Mal ja richtig hin.
Früh im Wett­be­werb hat Kelly Reichardts Film einen Großteil der Themen ausge­breitet, die die ganze Berlinale umtrieben. Nach den letzt­jäh­rigen Versuchen der Ära Kosslick, sich auf quali­ta­tiven Gedeih und Verderb an tages­po­li­ti­sche Relevanz zu klammern, wirkte es im Jahr 1 unter Chatrian und Rissen­beek, als ginge es den Filmen mehr ums Funda­men­tale.

First Cow handelt als Quasi-Western freilich wie alle Vertreter des Genres von Zivi­li­sa­ti­ons­stif­tung. Anders aber als seinen Kollegen, geht es ihm erstmal nicht um die Rolle von Gewalt, die Ausein­an­der­set­zung mit dem Anderen, das Aufein­an­der­treffen wider­stre­bender Grund­prin­zi­pien. Nicht um das Vordrängen in uner­schlos­senen Raum, sondern darum, es sich dort, wo man bereits ist, heimelig zu machen.
Die windige Heim­wer­ker­hütte, die durch einen Strauß Wiesen­blumen in der Ecke wohn­li­cher wird.
Die hilfs­be­reite Zufalls­be­geg­nung, die erst zum Mitbe­wohner erkoren und dann zum besten Freund ernannt wird.
Das Schmalz­ge­bäck, das für jeden nach Luxus und hinter sich gelas­sener Heimat schmeckt.
Damit beginnen aber auch die Luxus-Probleme. Für diese »Oily Cakes« benötigen die Freunde Cookie (John Magaro) und King Lu die Milch der ersten und einzigen Kuh in ihrem Eck des Oregon Territory. Die eigent­lich bestimmt ist, dass Groß­grund­be­sitzer Chief Factor (Toby Jones) seinen Tee wie daheim auf englische Art trinken kann. Die Beiden schlei­chen jede Nacht zur Kuh – mit der sie dabei Freund­schaft schließen.
Die ganze Ökonomie, die sich auf dem Verkauf des Gebäcks aufbaut, steht also auf prekärem Fundament. Und türmt sich dabei zu einem »Währungs­system« von demons­tra­tiver Will­kür­lich­keit: Drei Bissen Heimat­ge­schmack mit Honig und Zimt sind je nach Kunde zehn Münzen oder drei Schnüre oder ¾ Gold­nugget oder sieben Knöpfe wert.
Von der ersten Szene an weiß man, dass die Geschichte nicht gut enden kann. Und tatsäch­lich wirken der Streit um Besitz­ver­hält­nisse und der Zorn von einem, der sich zu kurz gekommen glaubt, letztlich fatal. Aber der ganze Film ist getragen von dem Wunsch, diese so beschei­dene Utopie hätte eine Chance zu bestehen. Damit war First Cow recht typisch für die Beiträge dieser Berlinale.

Im Chaos der gegen­wär­tigen Welt, wo viele scheinbar alles verlernt haben, was einen mensch­lich macht, hat man sich offenbar geeinigt, noch einmal ganz von vorne zu beginnen: »Freund­schaft gut«, »Essen wichtig«, »Geld nicht alles«, »Sei lieb zu Mensch und Tier«.

Mensch­wer­dungs­fabel

Viel­leicht war es deshalb schon wieder Zeit für eine Neu-Neuver­fil­mung der klas­si­schen Mensch­wer­dungs­fabel »Pinocchio«. In Matteo Garrones Version ist der ehemalige Hampel­mann Roberto Benigni zum Gepetto gealtert und schnitzt sich seinen eigenen Spröss­ling. Wie schon in Tale of Tales hobelt und feilt Garrone die Vorlage nicht auf heutige Passform zurecht, sondern bringt sie in all ihrer Klobig­keit und mit all ihren Spreißeln auf die Leinwand. Er bleibt Collodi treu, und so wird Pinocchio letzt­end­lich schon zum echten Buben als Belohnung dafür, dass er einmal kurz keine komplett egois­ti­sche Kack­bratze mehr ist. Es ist Gepetto, der in diesem Film wahrhaft mensch­lich wirkt, mit seiner bedin­gungs­losen Sehnsucht nach Gesell­schaft und Häus­lich­keit.

Deutlich an den Rand verbannt gegenüber Kosslicks Zeiten fanden sich Filme, die mit bedeu­tungs- und mitleids­hei­schender Geste von der Schlech­tig­keit der Welt dozieren. Und dabei doch nur vorge­fasste Klischees abbilden und in Wahrheit völlig menschen­fremd alles der verkrampft insze­nierten Message unter­ordnen. Schon regel­recht anti­quiert fühlte sich etwa Anne Fontaines Police an, der mit dem Privat­leben seiner Poli­zisten-Prot­ago­nisten Elends-Bingo spielt, während er den geflüch­teten Tadschiken, den sie abschieben sollen, als reines narra­tives Hand­ge­päck auf den Rücksitz verdammt. Oder Sally Potters The Roads Not Taken, der eine für die Regis­seurin, die unlängst ihren demenz­kranken Bruder bis zu dessen Tod pflegte, sehr nahe und persön­liche Erfahrung leider völlig verkün­s­telte und verkitschte.

Es ist nicht, dass die Filme der dies­jäh­rigen Auswahl verleug­neten oder vergaßen, dass es mehr als genug Schlechtes gibt in der Welt. Das kleine bisserl Idylle blieb stets bedroht. Nur dass man sein Hüttchen und Hühnchen hat, heißt nicht, dass man es sicher weiß – in mehreren Filmen wurden die selbst­ge­zim­merten Behau­sungen am Ende mit erbar­mungs­loser Zers­törungs­freude nieder­ge­rissen. Dieser Jahrgang setzte das Übel nur eher als bekannt voraus und richtet seine Haupt­au­gen­merk darauf, wie man unter diesen Gege­ben­heiten Mensch im empha­ti­schen, huma­nis­ti­schen Sinne bleibt.

Katalog der Miss­stände

Ein Film wie Alexandre Rockwells wunder­barer Sweet Thing bietet einem schon auch einen Katalog der Miss­stände: Der alko­hol­kranke Vater, die abwesende Mutter mit dem pädo­philen und gewalt­tä­tigen neuen Freund, Obdach­lo­sig­keit, Poli­zei­ge­walt, Alltags­ras­sismus, Prekariat… Und der Film verleugnet den Schmerz keines­wegs, redet ihn nicht klein, macht keine verlo­genen Hoff­nungen.
Aber wie schlimm alles ist, das ist dabei so wenig der Punkt und das Grund­ge­fühl, wie es Sweet Thing um einen drama­ti­schen Triumph gegen die Widrig­keiten geht. Er ist schlicht getragen von der Vision, dass es trotz allem klappen kann. Dass es mit dem mensch­li­chen Zusam­men­leben nicht unmöglich schwer sein muss, wenn alle sich ein bisserl anstrengen.

Viel­leicht konnten auch deshalb, im dritten Anlauf, endlich Kervern/Delépine von einem Berlinale-Wett­be­werb mit einem Preis heimgehen – auch wenn Effacer l’histo­rique ihr bisher leicht­ge­wich­tigster Beitrag war, und es sich nur um den Ex-»Alfred Bauer Preis« handelte, der aus bekannten Gründen diesmal »Silberner Bär – 70. Berlinale« hieß. (Immerhin offenbar eine der wenigen einstim­migen Entschei­dungen einer eher uneinigen Jury…) Kervern/Delépine waren schon immer Meister darin, mit viel Witz von der Soli­da­rität zu erzählen. Den Zumu­tungen des Spät­ka­pi­ta­lismus' keinen zerknirschten Ernst zu gönnen, sondern sie in präch­tigster Absur­dität zu demon­tieren und konter­ka­rieren. Das verkauft sich einem bildungs­bür­ger­li­chen Publikum und Festi­val­jurys freilich stets weniger leicht als das selbst­ge­fäl­lige, billige Beden­ken­trä­gertum etwa eines Michael Haneke – und dessen Habitus, alle nach­fol­genden Gene­ra­tionen für dumm und verloren zu erklären. Dabei ist das, was Kervern/Delépine treiben, deutlich wahr­haf­tiger und klüger. Und bei aller Skepsis gegenüber den tech­ni­schen Weiter­ent­wick­lungen findet auch Effacer l’histo­rique in Smart­phones, Online-Handel, Social Media nur neue Möglich­keiten für die Mensch­heit, sich als (trotz allem liebens­werte, immer wieder zu uner­war­teter Größe fähige) Narren zu gebärden. Es gibt keinen Zustand vor dem Sünden­fall bei ihnen – wer in Effacer l’histo­rique in die Natur geht, wird dort vom Esel gebissen. Und die momen­tanen Lästig­keiten sind keine Apoka­lypse – am Ende ist die Erde immer noch rund und blau.

Liebes­be­zie­hung

Erstaun­lich selten ging es um das klas­si­sche Thema »Liebes­be­zie­hung«. Selbst bei Hong Sang-soo, bei dessen Filmen sich bisher fast nie etwas Großes geändert hat, die sich im immer­glei­chen Tonfall um die immer­glei­chen semi-roman­ti­schen Geschicht­lein drehten – und der auf der Berlinale wohl eher fürs Lebens­werk ausge­zeichnet wurde, als wirklich für die Regie seiner mit Heimvideo-Zooms durch­setzten Fingerü­bung The Woman who run / Domang­chin yeoja… Selbst also bei Hong Sang-soo mussten die Männer diesmal vor der Tür auf ihren Einsatz warten. Während die Frauen erst einmal unter sich ihr Leben disku­tieren und sortieren, erst einmal mit sich selbst ausmachen, wer sie sind und sein wollen. (Und ob das Wohl feli­n­o­phober (für Fachleute: ailurophob (halt das, wo man Angst vor Miezen hat)) Nach­ba­rinnen oder hungriger Straßen­katzen höher steht.)
Auf andere Art spielte Natalia Metas (für unser Dafür­halten im Wett­be­werb unter Wert geschla­gener) El prófugo/ The Intruder das durch: Im ersten Teil ein hinreißender Film über das latente Grauen der Zweisamkeit. In dem die Protagonistin Inés (Erica Rivas) mit einem Mann in den Urlaub fährt, von dem ihr längst klar ist, dass sie ihn nicht wirklich liebt, dass sie mit ihm zusammen ist, weil man halt mit jemand zusammen sein soll. Das eskaliert umso brillanter zum großen Fremdschämen, als der Film den Mann nicht denunziert, nicht zum Ekel, Fiesling macht. Sondern nur sehr klar zeigt, wie sehr, und wie zu- und aufdringlich, sein schwärmerisches Bild von der Beziehung differiert von jenem Inés'.
Im zweiten Teil aber wandelt sich El prófugo zum für Berlinale-Verhältnisse erfreulich unverbrämten Horrorfilm. In dem die Synchronsprecherin Inés beginnt, unheimliche Stimmen zu hören und ihr der Sinn für die Realität verwischt, verrutscht. Jedoch just mit der Genre-Volte, dass es letztendlich um die Überwindung der Angst geht. Darum, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Einen Raum zu finden für das Andere, das (vermeintlich) Fremde in einem selbst.

Wie ein Relikt wirkte dagegen im Wett­be­werb der eine halbwegs klas­si­sche Film über die Liebe.
Es gibt in Philippe Garrels Le sel des larmes / The Salt of the Tears prompt eine Prüfung für angehende Kunst­tischler, in der nach Stil und Epoche eines noch unfer­tigen Stuhls gefragt wird. Der Stil ist einer des 18. Jahr­hun­derts – die Epoche jedoch ist die Moderne, da das Möbel ja in der Jetztzeit gebaut wird, lautet die Lösung. Und freilich redet da der Film eigent­lich über sich selbst: Nur weil vieles an ihm anti­quiert scheinen mag, sei er dennoch nicht weniger heutig, behauptet er. Sein Produk­ti­ons­jahr allein mache ihn schon zur gegen­wär­tigen Kunst.
Der ganze Rest des Films beweist, was für ein Unfug das ist. Garrel erzählt von jungen Menschen, die zwar offenbar Handys besitzen, aber via Fest­netz­te­lefon und Briefen kommu­ni­zieren, sich Notizen mit Kuli auf die Hand schreiben. Und wenn man all das noch als Details abtun mag: Le sel des larmes behauptet, dass junge Frauen 2019 noch immer nichts anderes zu tun haben, als sich in den schluf­figsten, daher­ge­lau­fensten Typen unsterb­lich zu verlieben und dann weinend im Kämmer­lein zu hocken, wenn er sie sitzen lässt. (Sofern sie sich nicht gerade beim Duschen ausgiebig von der Kamera nackt begaffen lassen.) Unge­wollte Schwan­ger­schaften werden im Off, via Boten­be­richt abge­trieben, bevor sie dem Prot­ago­nisten zum ernst­haf­teren Problem werden könnten, ohne dass dabei die Frau auch nur nochmal ins Bild kommen darf. Was alles weniger verhee­rend gewesen wäre, wenn wenigsten der Prot­ago­nist nicht eine derart uncha­ris­ma­ti­sche, strunz­lang­wei­lige, von jedem Interesse freie Figur wäre.
Da ist einer mit seiner Weltsicht, seinem Welt­in­ter­esse in den 1960ern hängen geblieben. Und hat sich eine Poeto­logie zurecht­ge­zim­mert, die das für zeitlos relevant erklärt. Doch selbst diesem Film spürte man – siehe die Stuhl-Probe – ein latentes Bewusst­sein an, wie sehr er aus der Zeit gefallen ist, wie schon fast rührend peinlich irrele­vant. Immerhin weiß er offenbar, dass sein Prot­ago­nist nicht gerade ein toller Hecht, strah­lender Held ist. Sondern womöglich ein rechter Kack­specht. Aber das bringt ihn leider dennoch nie auf die Idee, die Welt könne sich um irgendwen anders drehen als diesen jungen Mann. Irgend­eine der anderen Figuren könnte von Belang sein, könne ein eigen­s­tän­diges Lein­wand­leben bekommen, eine eigene Stimme erheben, außer in Beziehung auf Monsieur Kunst­tischler.

Bis vor Kurzem noch wäre ein Garrel die Regel, wären Reichardt & Co. eher die Ausnahme gewesen.
Es war die Grund­stim­mung auf dieser Berlinale gewiss besser, schlicht weil die allge­meine Qualität der Filme höher war, einen das täglich Darge­bo­tene nicht derart zermürbt und runter­ge­zogen hat. Viel­leicht aber lag es schon auch daran, dass die Filme selbst nicht die Grun­dü­ber­zeu­gung vertraten, dass Kunst allein dann die Welt verbes­sert, wenn nur möglichst viele Gleich­ge­sinnte untätig im Kino sitzen und sich – ihre Vorur­teile bestä­ti­gend – einander auf die Schultern klopfen.
Sondern dass sie einem die Hoffnung vorlebten, einem die Möglich­keit proji­zierten, dass die Mensch­heit noch nicht verloren ist, solange es allen indi­vi­duell gelingt, Pinocchio gleich, mal für 30 Sekunden kein völliges Arschloch zu sein.