70. Berlinale 2020
Agitation und Poesie |
||
Kämpferisch und agitatorisch: Los Conductos | ||
(Foto: Berlinale | Camillo Restrepo) |
Das schier endlose Gleiten, das Paula Gaitán in ihrem meditativen Film-Essay Luz nos trópicos in langen Passagen über die Seitenarme des Amazonas evoziert, kann als schönes Bild gelten für das Driften von Film zu Film, das einen erfasst, wenn man sich quer durch das Programm, quer durch die Reihen der Berlinale treiben lässt, auf jenem unablässigen Strömen von Filmen.
So sitzt man im Kinosessel wie in einem der Boote und wird weitergetragen mit dem steten Bilderfluss und gleitet mühelos hinüber in einer Passage zwischen den Zeiten und den Räumen. Eine Art Traumzeit stellt Gaitán her, geheime Verbindungen zwischen den Kulturen und zwischen den Epochen, zwischen dem modernen New York und den indigenen Kulturen im Amazonas-Regenwald. Die vorüberziehenden Ufer des Hudson River gehen über in die des Amazonas, eine ethnographische Annäherung im Heute wird abgelöst von einer Expedition im 19. Jahrhundert, eine Gruppe von eher müßiggängerischen Europäern bildungsbürgerlicher Provenienz, die immer mehr in den Sog und in den Bann von Initiationsriten gerät, so wie der junge Mann aus New York, der ganz bewusst den Spuren seiner indigenen Vorfahren am Amazonas folgt und sich in deren Kultur einführen lässt.
Trotz gelegentlich esoterisch anmutenden Raunens bleibt dieser mehr als vier Stunden währende essayistisch-poetisch-ethnographische Trip eine der faszinierendsten Erfahrungen dieser Berlinale.
Gaitán, die noch mit Glauber Rocha zusammengearbeitet hat, erweist sich als Nachfahrin jenes Dritten Kinos, das damals vor gut fünfzig Jahren in Lateinamerika proklamiert wurde und das die Gründung des Forums der Berlinale vor 50 Jahren mit befeuert hatte.
Das Prinzip der Korrespondenzen, das Gaitán in ihrem Film zur tragenden, zur weitertragenden und übertragenden Struktur macht, breitet sich über den Film, über die Reihen der Berlinale hinweg aus und strahlt aus etwa bis in die Reihe »Encounters« zu Filmen wie Los Conductos von Camilo Restrepo, der den Preis für das beste Langfilmdebüt erhielt.
Restrepo nimmt den kämpferischen und auch agitatorischen Duktus des Dritten Kinos und damit eines dezidiert politischen lateinamerikanischen Guerilla-Kinos der ‘70er auf. Formal den Forderungen nach einem »unreinen«, nicht nach oberflächlicher und glatter Perfektion strebenden Kino nachkommend, bietet er eine rauhe, ja fast räudige 16mm-Ästhetik, die versucht, die Irrungen der »violencia«-Spirale in Kolumbien ins Bild zu setzen. Ob der Gewalt der sozialen Strukturen sinnvoll mit revolutionärer oder terroristischer Gewalt begegnet werden kann, dieses unauflösliche Dilemma, das die Verhältnisse und den Widerstand nicht nur in Kolumbien auf exemplarische Weise prägt, verdichtet Restrepo zu einem gleichermaßen nüchternen wie halluzinierten Bericht von einem Abgefallenen, Herausgefallenen aus den sozialen Kontexten.
Dieser Vereinzelte, Versprengte erscheint als das isolierte Überbleibsel einer Gruppe (einer religiösen Sekte, einer terroristischen Bande, einer politisch-revolutionären Zelle, einer Drogengang, einer Sweatshop-Besatzung, die gefälschte Marken-T-Shirts bedruckt). Die so angedeutete Allegorik (ein Erbe des politischen Kinos der 60er- und 70er-Jahre in Lateinamerika) reibt sich unaufhebbar mit einer poetischen Enigmatik, die immer wieder auf die unhintergehbare Konkretheit des Filmischen verweist.
Restrepo, der betont, mit Material und Materialitäten – und nicht so sehr mit Ideen – zu arbeiten, positioniert sich mit dem Drehen auf 16mm in seinen Statements ausdrücklich in einer bewussten Distanz zum Großteil des Gegenwartskino. Im Gegenzug legt er Wert darauf, mit dieser Arbeitsweise eine physische Nähe und Unmittelkeit zum Gedrehten, zu den Personen zu wahren, die das digitale Drehen mit den intermediären Monitoren und Displays nicht bietet. Diese Dinglichkeit prägt sich den Bildern wie ein materieller Abdruck des Tastbaren ein und gibt ihnen ihre harsche Dringlichkeit.
Von politisch relevanter Thematik ist auch Responsabilidad Empresarial von Jonathan Perel. Der Regisseur, der auf der diesjährigen Berlinale als Darsteller in Die letzte Stadt von Heinz Emigholz (nicht das erste Mal übrigens, schon in Streetscapes [Dialogue] von Emigholz war das der Fall) zu sehen ist, geht von einem mehr als tausend Seiten umfassenden Bericht des argentinischen Ministeriums für Justiz und Menschenrechte aus, in dem die Verstrickungen der Industrie mit der argentinischen Militärdiktatur der Jahre 1976-1983 dargelegt werden. Ein Bericht, der am Ende der Regierung der Kirchners im November 2015 vorgelegt, dem dann aber von der Folgeregierung Mauricio Macri nicht weiter nachgegangen wurde.
Perel zeigt 32 Standorte von insgesamt 25 Unternehmen und verliest aus dem Bericht die Passagen zu der Kollaboration von den Unternehmen und den Generälen, in deren Zuge insbesondere die gewerkschaftlich engagierten Arbeiter von ihrem Arbeitsplatz entfernt wurden. Sie wurden gefoltert, ermordet, verschleppt, viele gehören zu den berüchtigten »desaparecidos«, den Verschwundenen.
Des weiteren wird akribisch verzeichnet, wie diese Unternehmen auch noch in den Genuss der Verstaatlichung ihrer Schulden kamen. Zu den Firmen gehören nicht nur rein argentinische, sondern auch so bekannte internationale wie Ford, Mercedes Benz und vor allem Fiat. Perel postiert sich in seinem Auto auf der Straße vor den jeweiligen Standorten der Unternehmen und filmt durch das Autofenster, dessen Kadrierung innerhalb des Filmbildes deutlich sichtbar ist. Oft ist noch als eine Art »mise en abyme« der Einfassungen der Seitenspiegel zu sehen, mit virtuellen Bildern aus der Umgebung, vorbeifahrendem Verkehr etwa, der sich dann auch im eigentlichen Bild aktualisiert. Die einzelnen unbewegten Einstellungen von den Standorten der Firmen werden von Zwischentiteln mit den Firmenlogos getrennt.
Gewiss, ein formalistischer Film. Perels Misstrauen in die Mechanik von Geschichten, gerade denen, die dokumentarische Filme etwas »erzählen« lassen wollen, um ihren Stoff gefälliger zu machen, ist tatsächlich tiefgehend und radikal. Der Gestus, eine Kamera vor einer Fabrik zu postieren, ist dem Beginn der Filmgeschichte eingeschrieben. Freilich stellten die Gebrüder Lumière ihre Kamera vor der eigenen Fabrik auf, um die Arbeiter beim Verlassen des Werks zu filmen. Perels Geste ist gewissermaßen eine der Enteignung, wenn er sich klandestin, wie ein Undercover-Agent, vor den Eingängen oder Einfahrten platziert. Er registriert keine Arbeiter, sondern vor allem vorbeifahrenden Verkehr und Wetterphänomene, manche der Standorte scheinen aufgelassen und dem Verfall preisgegeben. Arbeiter sieht man aber auch bei den noch in Betrieb befindlichen Standorten nicht. Das Verschwinden der Arbeiter, von dem Perel in den verlesenen Passagen spricht, ist in den Bildern zu spüren.
Sein protokollarisches Registrieren und Bezeugen ähnelt sich in subversivem Mimetismus der bürokratischen Haltung von Überwachungsapparaten und Geheimdiensten an, reduziert das Imaginäre seiner filmischen Repräsentation ganz auf dieses rigorose Dispositiv. Die konkreten Standorte der Unternehmen werden in ihrer jeweiligen Besonderheit als Orte aufgesucht. Sie stehen nicht einfach für den Firmennamen als Stellvertreter ein, manche der Firmen haben mehrere Werksgelände, Perel betont mit phänomenologischem Blick die jeweils für sich geltende physische Wirklichkeit des Standorts. Die letzten Orte im Film gehören alle zum Unternehmen von Fiat, und Perels Stimme verliest dazu eine kontinuierlich über die Einstellungen hinweg sich ziehende, alphabetisch geordnete Liste der Namen der Verschwundenen: Eine litaneihaft erfolgende Beschwörung, bei der die erschreckend lapidare Aufzählung in erschütternder Weise die Würde des Eingedenkens erlangt.
Das Verfahren Perels kehrt im Forum in abgewandelter Form bei dem Rumänen Radu Jude wieder, insbesondere in der dreistündigen Verarbeitung des Pogroms an der jüdischen Bevölkerung am 29. Juni 1941 in Iași. Der mit Adrian Cioflâncă erstellte Film The Exit of the Trains lässt die alphabetisch nach Namen geordneten Passfotos der Pogromopfer eines nach dem anderen auf der Leinwand erscheinen, dazu werden die protokollierten Zeugenaussagen der Angehörigen verlesen, die von der Verhaftung und dem grausamen Tod der großenteils in Viehwaggons Erstickten berichten. Ein ergreifendes Ritual, das in seiner Zeremonialität das Unfassbare dokumentiert, um dann in einem zweiten Teil in den letzten zwanzig Minuten wortlos, sprachlos Fotografien von den Razzien und den Leichenbergen zu zeigen. Bilder, die direkt in den mit dem Dokumentarfilmpreis der Berlinale ausgezeichneten Wettbewerbsbeitrag Irradiés des in Frankreich lebenden Kambodschaners Rithi Panh führen könnten.
In dem zweiten Film, mit dem Radu Jude im Forum vertreten war, in Tipografic Majuscul / Uppercase Print, wird in einem formal ebenso rigorosen Verfahren die theatrale Umsetzung von Securitate-Protokollen mit Found-Footage-Material des staatlichen rumänischen Fernsehens gegengeschnitten: eine grotesk gewendete Ansicht der Wirklichkeit im Ceauşescu-Rumänien, die ein geradezu perverses Vexierbild von paranoider Repression und schönem Schein der Fernsehunterhaltung entfaltet.
So kann man also einen zu Perel analogen Formalismus in der Auseinandersetzung mit anderen Beispielen totalitärer Herrschaft weiterverfolgen. Die spezifisch argentinische Traumatisierung wiederum führt zu weiteren Filmen aus diesem Land, Spielfilmen nun, in denen die Wahrnehmung des Alltags eine versteckte Heimsuchung durch Angst und Terror aufzubewahren scheint.
Im Panorama war es der Film Un crimen común von Francisco Márquez, der eine solche latente Spannung dem Erleben der alleinerziehenden Soziologiedozentin Cecilia (Elisa Carricajo) zugrundelegt. In einer stürmischen, gewittrigen Nacht klingelt und klopft der ihr kaum bekannte Sohn der Haushälterin an der Tür des Reihenhauses. Aus Unsicherheit und Furcht öffnet sie nicht, durch die Jalousie kann sie auch nicht recht erkennen, was da draußen vor sich geht. Nachdem sie dann erfährt, dass die Leiche des Sohnes in der Nähe gefunden wird, verrücken sich die bis dahin so sicher geglaubten Kategorien ihrer Wahrnehmung. Hinweise auf Polizeigewalt und Proteste dagegen lassen Erinnerungen aufkommen an die Jahre der Militärdiktatur und schaffen tiefgehende Verunsicherung bei ihr.
Das Diffuse und Unbestimmte einer nicht greifbaren Drohung macht gleichermaßen die Stärke und die Schwäche des Films aus. Die Stärke, weil es eine überzeugende Entscheidung ist, die Erzählung strikt auf die Figur der Cecilia auszurichten und so in einem eng begrenzten Wirklichkeitsausschnitt politisch-soziale Symptome zu erfassen. Die Schwäche, weil die Fixierung der Kamera dieser Figur vielleicht zu viel aufbürdet, weil es nicht durchweg gelingt, die beiläufig eingefangenen Alltagselemente tatsächlich so sprechend und sinnlich packend aufzuladen, dass sie einen die behauptete Verschiebung der Gewichte spüren lassen. Es funktioniert sehr gut in der Rahmung durch eine Geister- und eine Achterbahnfahrt zu Beginn und am Ende des Films. Sehr gut funktioniert dies auch, wenn Cecilia im letzten Teil die Haushälterin in einem ärmeren Viertel der Stadt besucht und sich entschuldigen möchte. Beim Rückweg verirrt sie sich in den labyrinthischen Gassen: Wie hier die räumliche Segregation der sozialen Schichten in der urbanen Umgebung unmittelbare Anschaulichkeit bekommt, diese Intensität vermögen Francisco Márquez und sein Kameramann Federico Lastra leider nicht den ganzen Film durch zu erzeugen.
Raffinierter geht hier Natalia Meta in der im Wettbewerb gezeigten argentinischen Produktion El Prófugo / The Intruder vor. Sie arbeitet den in den Alltag einsickernden Horror um die von Érica Rivas gespielte Inés vor allem auf der Ebene der Tongestaltung heraus. Die Zusammenarbeit mit dem Sounddesigner Guido Berenblum, der in Lucrecia Martels Zama bereits eine subtile akustische Zersetzung der Erzählung unterstützte, erweist sich hier als besonders sinnreich, da Inés als Synchronsprecherin und Sopranistin in einem Chor tätig ist und den Tönen damit eine maßgebliche Bedeutung in der Geschichte selbst zukommt. In ihrem Körper hat sich ein Störgeräusch eingenistet, das bei den Aufnahmen im Studio (etwa bei der Synchronisierung von japanischen Bondage-Thrillern) lästige Resonanzen hervorbringt.
Beschwor der großartige Auftakt des Films bei einem traumatisch verlaufenden Urlaub mit ihrem neuen und nervigen Liebhaber Leopoldo (Daniel Hendler) noch genrekonformere Horrormomente herauf, so gerät im weiteren Verlauf Inés' Alltag immer mehr über die Verschiebungen der Hörwahrnehmung aus den Fugen. Die Genreformeln bekommen so eine ganz eigene Pointierung, mit der die Monster, die dem Schlaf der Vernunft am Anfang entstiegen sind, immer ungreifbarer werden, sich mehr und mehr als anormale akustische Phänomene erweisen. Wenn sich am Ende die heraufbeschworenen Schrecken allzu bereitwillig bannen lassen, muss das nicht heißen, dass alles nur Schall und Wahn war.
Einem Bonmot zufolge besteht die Hälfte der Einwohner von Buenos Aires aus Psychoanalytikern und die andere Hälfte aus deren Patienten: diese geheime Komplizenschaft der argentinischen Seele mit Freuds Tiefenpsychologie eröffnete der dortigen Phantastik immer schon ein ganz spezielles Spielfeld. Wenn dieses dann innerhalb eines Filmfestivals wie der Berlinale weiterführende Resonanzen erzeugt, ergeben sich besondere Schwingungen, die ein quer durch die Reihen flanierender Betrachter gerne aufnimmt.