70. Berlinale 2020
Radikales Kino |
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Halt in der Kadrierung suchen: Malmkrog | ||
(Foto: Mandragora / Berlinale) |
Von Dunja Bialas
Eine akristokratische Gesellschaft diskutiert einen ganzen Weihnachtsabend lang über Moraltheologie, Europa und den Anti-Christen. Scharfsinnig-rational geht es zu, während die zwei Damen und drei Herren im feinen Esszimmer mit einem Glas in der Hand herumstehen. Hin und wieder wird ein Menügang angekündigt, man setzt sich zu Tisch. Die Diener tragen Speisen herein, füllen Gläser nach. Die Störung durch fast unsichtbare Hand provoziert. Irritiert, ja angenervt blickt die Dame des Hauses auf ihr Gesindel, trotzdem bricht der intellektuelle Schlagabtausch der feinen Gesellschaft nicht ab. Sie genügen sich eigentlich selbst, sind vertieft in ihre Gedanken, Argumentationslinien, in ihr Fragen und Suchen. Cristi Puiu, der in Sieranevada bereits die unausweichliche Insichgekehrtheit einer (familiären) Zusammenkunft zeigte, inszeniert die Gesellschaft oft von hinten. Sie kehrt der vierten Wand, dem Zuschauer, den Rücken zu. Gruppiert um den Mittelgrund des vornehmen Settings, sieht es so aus, als würde sie im geometrischen Zentrum des Bildes Halt suchen, rationalen Halt.
Rahmungen schieben sich von allen Richtungen hinein, begrenzen und verankern zusätzlich diese diskutierte, instabil gewordene Welt: die Kadrierung der Kamera, die Türrahmen, aus denen weitere Zimmerfluchten hervortreten, die Gemälderahmen, die wiederum mit Ansichten auf gemalte Landschaften den engen Raum des Speisezimmers aufweiten. Schließlich geben auch Fensterrahmen, hin und wieder, den Blick auf das verschneite Land frei. Puiu zeigt uns eine Gesellschaft in Klausur, die in hochkonzentrierten und argumentationsreichen Dialogen Gewissheit finden will.
Mit dem Schnellfeuergewehr werden die Sätze durch den Salon geschleudert, parliert wird auf Französisch, der Sprache auch der osteuropäischen Adeligen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Malmkrog heißt der Film, der als Wettbewerbsbeitrag in der neu geschaffenen Reihe »Encounters« der Berlinale gezeigt wird. Benannt ist er nach einem Ort im rumänischen Siebenbürgen, den wiederum eine ungarische Adelsfamilie geprägt hat, wie auf Wikipedia nachzulesen ist. Puiu setzt den Ortsnamen als Rätsel ein. Unter den Zuschauern – den nichtrumänischen, vielleicht sind die Rumänen ja selbst ortskundiger – gab es heiße Tipps, wie der Titel zu vestehen sei. Am Ende festigte sich die Annahme, dass Malmkrog ein Ort in Norwegen sei, der mit dem Film ansonsten nicht viel zu tun habe – nicht ganz abwegig, denn Puiu hatte dies schon bei seinem letzten Film gemacht: mit »Sieranevada«, absichtlich falsch geschrieben, die Zuschauer in die weite Wüste möglicher Interpretationen geschickt. Und jetzt: »Malmkrog«. Der Inhalt: nicht weniger kryptisch als der Filmtitel. Ein Blick in den Katalog vorab ergab den vagen Hinweis, dass es um Texte eines russischen Philosophen gehe, die die Vorlage bilden. Wladimir Solowjow, so heißt der Philosoph, begann vor dem Hintergrund des gewaltsamen Zarentodes, verstärkt über Religion und Gott nachzudenken, eine düster gefärbte Theodizee, die vor der Gewaltargumentation in die Knie geht. Puiu beschäftigt sich von jeher mit den philosophischen Fragestellungen vor gesellschaftlichem Hintergrund, davon hat er auch im artechock-Interview erzählt.
Aber er ist auch ein witziger Typ, wie sich damals im Gespräch herausstellte. Hier bricht sich sein Witz punktuell Bahn, wenn in einem dramaturgischen Blindgänger die steife Abendgesellschaft im besten Sinne André Bretons in einem revolutionären Akt niedergeschossen wird. Dann herrscht zum ersten Mal befreiende Ruhe. Doch bald darauf geht es weiter mit dem beredten Kabinett der Scheintoten, das an Marguerite Duras' India Song, an Alain Resnais' Letztes Jahr in Marienbad oder auch an Jacques Rivettes Céline und Julie fahren Boot erinnert, alles Meisterwerke vom gespenstischen Innehalten des Lebens.
Die politische Dimension des dreistündigen Films lässt sich beim ersten Sehen nicht wirklich entschlüsseln. Aber es zeigt sich ein radikales, wuchtiges Kino, voller traumwandlerischer Sicherheit in der Inszenierung und der Schauspieler, das noch lange nachhallt. Und auf dessen Wiedersehen man sich schon jetzt freut.
Radu Jude gehört wie Cristi Puiu, der eigentlich vor ein paar Jahren angekündigt hatte, sich von nun an nur noch der Malerei zu widmen und mit dem Filmemachen aufhören zu wollen, zu den Regisseuren der »Neuen rumänischen Welle«, die seit fünfzehn Jahren (Cristi Puius Der Tod des Herrn Lazarescu brach 2005 mit einem gewaltigen Schwall die Welle los) mit ihren ruhig gefilmten Familienstudien zu den Lieblingen der meist westlichen Festivals gehört. Wie Puiu aber hat Jude dieses Jahr den bewährten Pfad der narrativen Inszenierungen verlassen. Zuletzt sah man von ihm »Mir ist es egal, ob wir als Barbaren in die Geschichte eingehen«, in dem es um das Massaker von Odessa im Jahre 1941 geht, ein Kernverbrechen der rumänischen Geschichte. Jetzt stellt er im Berlinale-Forum gleich zwei Filme vor, die man sich vielleicht besser als einen Zwillingsfilm denkt. Tipografic majuscul / Uppercase Print und The Exit of the Trains sind essentialistische Dokumentarfilme, die ganz auf das Zeigen von Archiv-Dokumenten vertrauen. Tipografic majuscul ist dabei leichter rezipierbar. Der Film dreht sich um in den 1980er Jahren an die Häuserwände der Stadt Botoșani geschriebene Parolen aus Kreide, die Freiheit einfordern. Verfasst wurden sie von einem Schüler, das findet die Staatssicherheit heraus. Stark stilisiert sagen Schauspieler die Protokolle der Erkundungen und Verhöre auf, direkt in die Kamera. Ein mehrstimmiges Kaleidoskop entsteht so, aus unterschiedlichen Perspektiven (die Eltern, die Securitate, der Schüler, die Mitschüler, die Lehrer), vor einfarbigen roten, grünen und blauen Szenenbildern. Dazwischen sieht man die Akten, die von dem Schüler gesammelt und fein säuberlich in Ordner abgeheftet wurden.
Auch The Exit of the Trains räumt mit der rumänischen Geschichte auf, vor der, das wissen wir aus »Mir ist es egal«, die Rumänen bis heute lieber wegblicken, sie vergessen wollen oder leugnen. In vier langen Stunden rollt Jude die Mitverantwortung Rumäniens an der Deportation von Juden auf. Dokument folgt auf Dokument, es sind die Akten der Deportierten, mit Passfoto, Name, Wohnort. Aus dem Off zu hören: Die Zeugenaussagen der mit dem Leben Davongekommenen. Die anderen sind erstickt, qualvoll verreckt während des Transports. Eingeblendet wird das immer gleiche Datum der Deportation: Es ist der 29. Juni 1941, der wohl als der dunkelste Tag des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingeht. »Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen« – Radu Jude kratzt weiter am rumänischen National-Heroismus.
Jude und Puiu haben ihre Filme vor der rumänischen Situation des politischen Vergessens und der Nichtaufarbeitung der Geschichte gedreht. Daraus resultiert der unbedingte Drang der Filme auf die Leinwand, sie drücken unbedingte Notwendigkeit und statementhafte Verve aus. So lang sie auch sein mögen und so mühevoll man sie sich erarbeiten muss: Diese neuen rumänischen Filme erweisen sich als unhintergehbar.