70. Berlinale 2020
Bilder, die nachklingen |
||
Los Conductos: Brutal und eindringlich | ||
(Foto: Berlinale | Camillo Restrepo) |
Von Dennis Vetter
Der kolumbianische Regisseur Camilo Restrepo ist ein Freifilmer. Seine Arbeiten folgen nicht Geschichten, sondern Rhythmen, Körpern, Intensitäten. Zuletzt, das heißt 2017, drehte er den Kurzfilm La bouche, darin sind sich Tanz und das gesprochene Wort ebenbürtig, liefern sich einen spielerischen Kampf um Deutungshoheiten. Sein erster Langfilm Los Conductos war im Rahmen der Berlinale im Encounters-Programm zu sehen. Restrepo, wie schon zuvor analog auf 16mm, betritt nun erstmals ansatzweise erzählerisches Terrain. Die Geschichte bleibt im besten Sinne fragmentarisch und wird immerzu zerschnitten von harschen Bildsprüngen und Assoziationsketten.
Ein Mann will Rache nehmen an einem anderen, dem Anführer seiner ehemaligen Straßenbande. Ihn töten bedeutet in diesem Fall, ihn zu erschießen. Die Waffe dafür besitzt der Antiheld, der auf den Namen »Pinky« hört, schon lange. Im Griff sind Buchstaben eingeritzt, die sich zu Worten formen. Anfang und Ende des Films verschwimmen ineinander, gleich zu Beginn fällt aus der Waffe ein Schuss. Vielleicht der Showdown, vielleicht eine Vorahnung. Vielleicht das erste Verbrechen nach der Entlassung aus dem Knast. Ein Körper bricht zusammen, hat revolverbedingt ein Loch. Die Kamera immer darauf zu, beinahe hinein.
Die Löcher werden im Laufe des Films zu Toren, durch die ebenso Licht dringen kann und Dunkelheit. Es zeichnen sich halluzinierende Passagen ab zwischen Raum und Zeit, Leben und Tod. Eine Steckdose in der Wand, aus der Pinky einst Kabel zog, um sie zu verkaufen: Sie strahlt einmal, als wäre hinter der Wand die Sonne selbst, als gäbe es hinter der Fassade der Stadt etwas zu entdecken, das nur diejenigen sehen, die den Gebäuden an die Innereien gehen. Die Obdachlosen erobern sich den Raum, höhlen die Gebäude von innen aus. Dazu kongruent: Zwei Männer mustern eine Straße. Ein tiefes Loch, denn die Steuergelder fließen nicht in Baumaßnahmen, sondern in die Taschen korrupter Menschen in Machtpositionen. Die Kamera im Innern des Lochs, auf die beiden Köpfe blickend. Das Loch im Asphalt ist bodenlos.
Los Conductos verschleiert seine politischen Spitzen immer wieder, um sie dann aus unerwarteten Winkeln der Filmwelt wieder auftauchen zu lassen. Als würde das Politische, also die Spannung zwischen den Kräften der Welt, die Betrachtenden überfallen können, überrumpeln wollen. Auch das Reale lauert auf in diesem Film und gibt sich nicht einfach zu erkennen. Es will entschlüsselt werden. Im Spiel des Protagonisten, einem Freund des Regisseurs, der nie gelernt hat vor der Kamera zu spielen. Im Gedicht, das ganz zum Ende des Films einen Kommentar liefert auf die gesellschaftlichen Zustände, auf Obdachlosigkeit und die vielen Toten auf den Straßen Kolumbiens Mitte des 20. Jahrhunderts. »Elegy to Revenge« von Gonzalo Arango. Pinky war auf den Straßen, seine Hände zeigen, dass er nicht zum ersten Mal eine Pfeife ansteckt um high zu werden. Restrepo behauptet in Gesprächen zum Film, die Rachegeschichte sei echt und die Tötung seines Rivalen im Film stellvertretend. Das experimentelle Kino wird zum symbolischen Akt der Resozialisierung und rettet gleich zwei Seelen. Der Protagonist dreht mittlerweile selbst Filme.
Blind werden durch die Spucke von Obdachlosen: das brutalste und zugleich eindringlichste Gedankenbild des Films. Der Mittelstand betrachtet als Kontamination, was den Sozialdarwinismus sichtbar macht. Die filmische Hoffnung auf die Veränderung der Wahrnehmung vermischt sich mit der Androhung einer endgültigen Eskalation der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Aufstand ist der der Mittellosen, die die Stadt erst aushöhlen, dann übernehmen. Restrepo spricht sich aus für die Destabilisierung und Desorientierung als Hoffnung: »Ohne eine Form wäre die Welt klarer.« Er bringt alle mit wachen Augen dieser Klarheit einen Schritt näher.