ABSTAND/ZOOM
Filmalphabet: Y_YOU |
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Statt der Algorithmen YouTubes lieber die der Gregors... (in: Alice Agneskirchners Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors) | ||
(Foto: Realfictionfilme) |
Von Nora Moschuering
Ich denke also erst einmal an eine Plattform, ehe ich an eine Person denke, noch dazu an eine Plattform, in deren Namen das You mich anspricht.
Aber ich skippe das jetzt doch erst mal und als nächstes kommen mir, über die Jahre gehörte Pop-Song-Schlager-Lieder in den Sinn, die einem das Wort fast schon überdrüssig haben werden lassen. Da wurde es dupliziert, in die Länge gezogen, personalisiert, neutralisiert und manchmal auch beschimpft. Plötzlich denke ich an irgendwelche
Liebesbriefe, die ich nie geschrieben habe, um dann doch noch die Kurve zu Filmen zu bekommen.
Das DU im Film, das DU, das von jemandem, an jemand anderen adressiert wird. Vom 06.–12.10. findet das Underdox-Filmfestival statt und zu den wenigen Filmen, die ich dort schon gesehen habe, gehören just zwei Liebesfilme, die, zusammen mit einem dritten, am 10.10. um 19:30 im Werkstattkino laufen. Es sind beides zarte, sehnsuchtsvolle Filme, die sich entlang der Hamburger Elbe bewegen: First Time von Nicolaas Schmidt und Die geheimnisvollen Inseln von Marian Freistühler, der dritte Film ist Ununterbrochen reden von Frédéric Jaeger, in dem die Spree eine Rolle spielt. Wasser scheint unbedingt was mit Sehnsucht zu tun zu haben. In First Time fährt man mit der Hamburger Ringbahn, der U3 von den Landungsbrücken zu den Landungsbrücken, man hört dabei Musik, die Sonne geht unter und taucht alles in romantisches Licht, während sich zwei Jungs gegenübersitzen, die sich (noch) nicht kennen: Einsamkeit, Unsicherheit, Konsum, verschämte Blicke und ein zartes Flirren zwischen den beiden und die Umgebung, dich sich um diese statische Intensität bewegt. In Die geheimnisvollen Inseln sitzt das DU nicht unbekannterweise vor einem, sondern steckt auf einem Schiff im Hafen fest. Ein junger Mann blickt auf ein diffuses Grau, wartet am Elbufer, beobachtet andere Menschen, snackt und hofft auf eine Nachricht. Körperlich sind sie zwar weiter voneinander entfernt, aber die Sehnsucht ist doch eine ähnliche. Ununterbrochen reden kenne ich zwar noch nicht, aber laut Inhaltsangabe ist es hier ein Vater und seine Tochter, die die Mutter an der Spree treffen wollen, an der sie feiert. Ein anderer Fluss, unterschiedliche Arten des Abstands, aber eine ähnliche Sehnsucht nach einem distanzierten DU.
Nun kann ich mich dann doch dem anderen zuwenden: YouTube, bzw. YouTube hier auch nur als kurzer Übergang zum Kino. Es ist ja nicht so, dass ich mir mein YouTube-Programm selbst zusammenstelle (geschweige denn, dass ich eigene Videos hochlade) – das könnte ich natürlich, ich kann mich, wie die meisten anderen aber auch, einfach auf den Algorithmus verlassen. Das ist eine Art des Kuratierens, die mich meistens aber nicht weiterbringt, sondern eher da abholt und hängen lässt, wo ich eh schon bin. Ich vertraue aber gerne auf das Wissen anderer, auf ihre Kompetenz, die heute manchmal als Macht wahrgenommen wird, aber auf Leidenschaft, Interesse, Respekt und Erfahrung beruhen kann und mit der man sich selber – gemeinsam mit ihnen – weiterentwickeln kann. Kinoprogramme können so entstehen, Kinos können so geleitet werden. (Jetzt mal abgesehen von den anderen Vorteilen: der Größe der Leinwand, dem Sound, Popcorn, fremde Menschen, die sich für das Interessieren, für das man sich auch interessiert, Gespräche, Werbung, Trailer ...). Alice Agneskirchner erzählt in Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors von einem Paar, das genau das gemacht hat und 30 Jahre das Arsenal Kino in Berlin geführt hat. Filme wurden ausgewählt, Filmvorstellungen wurden von Gesprächen mit den Filmemacher*innen, dem Publikum und Informationszettel begleitet. Bei diesem Cinephilen-Paar ist auch das DU dabei und das Glück ein Gegenüber zu haben, das einem in seinen Interessen sehr ähnlich ist, mit dem man aber auch diskutieren und streiten kann. Noch dazu haben sie den für mich idealen Beruf: Ein Kino zu leiten und nebenbei auch noch die damals neu geschaffenen Sektion der Berlinale: Das internationale Forum des jungen Films. Anhand von Archivmaterial geht man zusammen mit den Gregors durch die Zeiten, begleitet ihre Generation, der um die 1930 Geborenen: die Beziehung zu den Eltern, das politische Geschehen, die 68er Generation, zu der sie nicht gehören, aber mit der sie zu tun hatten (auf einen Vorschlag von Ulrich Gregor soll es zurückzuführen sein, dass die Studierenden die DFFB 1968 in »Dsiga-Wertow-Akademie« umbenannten. Damals war er dort Filmgeschichtsdozent). Neben dem Material und den Gesprächen mit den Gregors, gibt es immer wieder sehr klassische Interviews verschiedener, bekannter Menschen, wie Jim Jarmusch und Doris Dörrie, die das dann ein wenig einordnen sollen, aber am Interessantesten ist es doch, wenn die Gregors selber über die Filme und ihr Leben durch die Zeit erzählen.
Von einem DU, das scheinbar nicht dem eigenen DU entspricht, das einen allerdings doch viel näher ist, als alle anderen, erzählt Andrew Dominik in »Blond«, der auf Netflix läuft, ja, und eigentlich ins Kino müsste. Wegen Allem: Wegen seiner Länge von 2 Stunden 45 Minuten, wegen seiner visuellen und akustischen Einfälle, er wechselt zwischen schwarz-weiß und Farbe, das Format ändert sich, der Schnitt ist assoziativ und nicht chronologisch, der Ton bricht ab oder fokussiert sich auf
einzelne Geräusche, Geräusche werden künstliche hinzugefügt, die Münder werden ins Groteske verzerrt und wegen dem, wie er vom Kino erzählt, beispielsweise in Spiegelungen der Kinozuschauer*innen in »Blond« mit uns, in der Jetztzeit ... Marilyn Monroe wird erzählt, oder besser ihr Innenleben, denn alles was man sieht und hört, ist mit ihrer Wahrnehmung verschmolzen, erzählt, wie sie sich fühlt. »Blond« erinnert an zwei Filme von Pablo Larraín: Spencer und Jackie, geht aber in der Erzählung viel weiter, wird viel verstörender. Jackie Kennedy und Lady Di müssen zwar auch mit ihrem öffentlichen und ihrem privaten Bild leben, die sich nicht decken, aber der Kampf findet nicht so stark im Inneren statt, wie es bei Dominik passiert. Es ist
das Psychogramm einer Frau, das somit natürlich auch aus Mutmaßungen besteht. In Dominiks »Blond« ist in einem ICH, in Norma Jeane, ein DU, Marilyn Monroe mutiert, mit dem sie sich nicht identifiziert, an dem sich aber alle andere orientieren und das besonders für Männer zu einer Projektionsfläche wird. Was man dem Film vorwerfen kann, ist, dass er genau das zu sehr ausrollt und ständig wiederholt und das ziemlich oft sehr wortwörtlich, gefühlt alle 10 Minuten ist sie schockiert
darüber und benennt es: »ich konnte nicht glauben, dass ich das bin«. »Wer ist das auf der Leinwand?« immer wieder. Zu Beginn nimmt sie das aus ihrem Schauspielunterricht mit: »Es ist ein Kreis des Lichts und der Aufmerksamkeit, du umhüllst dich mit diesem Kreis, du trägst ihn mit dir wohin du auch gehst, du wirst dir vorstellen, dass es neben diesem echten Körper den imaginären Körper deiner Figur gibt, den du im Geiste erschaffen hast.« Sie kann sich davon aber nicht mehr lösen und
wird, auch aufgrund ihrer Biografie, das Opfer davon. So schön der Film ist, so ist er auch fast drei Stunden Verzweiflung, ein Abarbeiten am Ich, der Rolle, die man sich auferlegt hat, dem Druck, den Erwartungen, der Gier anderer, aber auch vom Leben, den Beziehungen, der Abtreibung und den Abgängen, die sie belasten. Fast alle sie umgebenden Figuren sind verzerrt, Frauenfiguren gibt es fast keine, einzig ihre Mutter spielt eine Rolle, über die sich auch ihre »Daddy-Sehnsucht«
erklärt. Das ihre Mutter in Wirklichkeit ihren ersten Mann verlassen hat und immer wieder versucht hat Norma Jeanne aufzunehmen, wird hier verkehrt, bzw. radikalisiert, ihre Mutter ist so, wie sie ist, weil ihr Mann sie verlassen hat und sie versucht ihre Tochter umzubringen, weil sie sie als Grund dafür sieht. Natürlich war das komplexer und das Krankheitsbild und Leben ihrer Mutter komplizierter.
Man hat oft das Gefühl, dass Marilyn überrascht ist über ihre Wirkung, als passiere
ihr das Alles nur und als gäbe es grundsätzlich ein Missverständnis zwischen ihr und der Welt. Das ist auf Dauer doch einseitig. Irgendwie suhlt sich da ein Regisseur in ihrem Leiden, ihrer Schönheit, das er selber nicht minder glamourös darstellt und für sich arbeiten und sich wiederholen lässt. Aber zurück zum Guten: Ana de Armas als Norma Jeanne/Marilyn ist toll, der Film als Film ist toll und die Inszenierung der Studiobosse, der Männer an den Sets und der Fans, ihren Blicken und
um sie herum ist so verstörend wie wichtig.
Es laufen gerade noch zwei andere Frauenbiografien im Kino: Claudia Müllers unbedingt empfehlenswerter Film Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen und Alice Schwarzer von Sabine Derflinger. Jelinek und Schwarzer, zwei Frauen, bzw. zwei Filme, in denen es um die Arbeit der Frauen geht, die jeweils das Private außen vor lassen. Das heißt jetzt nicht, dass sie an der Oberfläche bleiben, sondern Frauen zeigen, die Entscheidungen treffen, kämpfen und zu dem stehen, was sie machen und auch damit umgehen können anzuecken und nicht gemocht zu werden.
Zum Schluss noch ein TV-Tipp: Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre in der Arte oder ARD-Mediathek. Die Super-8-Aufnahmen, gedreht zwischen 1972 und 1981, stammen von Ernaux’ Ehemann Philippe Ernaux, Regie führte ihr Sohn David Ernaux-Briot, sie schrieb die Texte. Annie Ernaux ist für ihre autobiografischen Bücher bekannt, letztes Jahr wurde ihr Buch Das Ereignis verfilmt, es behandelt die ungewollte Schwangerschaft und die darauf folgende Abtreibung im Frankreich der 1960er-Jahre. Also eine ähnliche Zeit wie Marilyn Monroe und auch ein Thema, das in »Blond« vorkommt, aber unter ganz anderen Vorzeichen. Die Bilder in Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre sagen etwas über Philippes Blick auf seine Ehefrau. Ihre Blicke zurück und ihr gesprochener Text erzählt etwas von einer Annie, die sich in die Rolle einer Familienmutter begeben hat, darüber und über ihre Umgebung nachdenkt und darüber, dass sie schreiben will. Mittelstandsfamilie, viele Reisen, Interesse an dem, was einen umgibt, auf den ersten Blick: alles so wie es sich gehört. Es sind aber nicht nur Erinnerungen, die Bilder und Texte erzählen von einer Sehnsucht, der Sehnsucht einer sozialen Klasse und der Frauen in ihr. Die Oberfläche verändert sich, irgendwann fallen die Menschen aus den Aufnahmen, das scheinbare Ideal zerbröckelt und wir wissen: es war nie da. Philippe und Annie trennen sich. Annie schreibt und findet ihren eigenen Ausdruck. Da wird aus dem DU eines Anderen, das ICH eines Selbst, etwas was Marilyn Monroe in »Blond« nicht gelingt.