06.10.2022
ABSTAND/ZOOM

Filmalphabet: Y_YOU

Die Gregors
Statt der Algorithmen YouTubes lieber die der Gregors... (in: Alice Agneskirchners Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors)
(Foto: Realfictionfilme)

Die erste Assoziation ist YouTube, so viel wurde in den letzten 17 Jahren dann doch bei mir geprägt

Von Nora Moschuering

Ich denke also erst einmal an eine Plattform, ehe ich an eine Person denke, noch dazu an eine Plattform, in deren Namen das You mich anspricht.
Aber ich skippe das jetzt doch erst mal und als nächstes kommen mir, über die Jahre gehörte Pop-Song-Schlager-Lieder in den Sinn, die einem das Wort fast schon über­drüssig haben werden lassen. Da wurde es dupli­ziert, in die Länge gezogen, perso­na­li­siert, neutra­li­siert und manchmal auch beschimpft. Plötzlich denke ich an irgend­welche Liebes­briefe, die ich nie geschrieben habe, um dann doch noch die Kurve zu Filmen zu bekommen.

Das DU im Film, das DU, das von jemandem, an jemand anderen adres­siert wird. Vom 06.–12.10. findet das Underdox-Film­fes­tival statt und zu den wenigen Filmen, die ich dort schon gesehen habe, gehören just zwei Liebes­filme, die, zusammen mit einem dritten, am 10.10. um 19:30 im Werk­statt­kino laufen. Es sind beides zarte, sehn­suchts­volle Filme, die sich entlang der Hamburger Elbe bewegen: First Time von Nicolaas Schmidt und Die geheim­nis­vollen Inseln von Marian Freis­tühler, der dritte Film ist Unun­ter­bro­chen reden von Frédéric Jaeger, in dem die Spree eine Rolle spielt. Wasser scheint unbedingt was mit Sehnsucht zu tun zu haben. In First Time fährt man mit der Hamburger Ringbahn, der U3 von den Landungs­brü­cken zu den Landungs­brü­cken, man hört dabei Musik, die Sonne geht unter und taucht alles in roman­ti­sches Licht, während sich zwei Jungs gegen­ü­ber­sitzen, die sich (noch) nicht kennen: Einsam­keit, Unsi­cher­heit, Konsum, verschämte Blicke und ein zartes Flirren zwischen den beiden und die Umgebung, dich sich um diese statische Inten­sität bewegt. In Die geheim­nis­vollen Inseln sitzt das DU nicht unbe­kann­ter­weise vor einem, sondern steckt auf einem Schiff im Hafen fest. Ein junger Mann blickt auf ein diffuses Grau, wartet am Elbufer, beob­achtet andere Menschen, snackt und hofft auf eine Nachricht. Körper­lich sind sie zwar weiter vonein­ander entfernt, aber die Sehnsucht ist doch eine ähnliche. Unun­ter­bro­chen reden kenne ich zwar noch nicht, aber laut Inhalts­an­gabe ist es hier ein Vater und seine Tochter, die die Mutter an der Spree treffen wollen, an der sie feiert. Ein anderer Fluss, unter­schied­liche Arten des Abstands, aber eine ähnliche Sehnsucht nach einem distan­zierten DU.

Nun kann ich mich dann doch dem anderen zuwenden: YouTube, bzw. YouTube hier auch nur als kurzer Übergang zum Kino. Es ist ja nicht so, dass ich mir mein YouTube-Programm selbst zusam­men­stelle (geschweige denn, dass ich eigene Videos hochlade) – das könnte ich natürlich, ich kann mich, wie die meisten anderen aber auch, einfach auf den Algo­rithmus verlassen. Das ist eine Art des Kura­tie­rens, die mich meistens aber nicht weiter­bringt, sondern eher da abholt und hängen lässt, wo ich eh schon bin. Ich vertraue aber gerne auf das Wissen anderer, auf ihre Kompetenz, die heute manchmal als Macht wahr­ge­nommen wird, aber auf Leiden­schaft, Interesse, Respekt und Erfahrung beruhen kann und mit der man sich selber – gemeinsam mit ihnen – weiter­ent­wi­ckeln kann. Kino­pro­gramme können so entstehen, Kinos können so geleitet werden. (Jetzt mal abgesehen von den anderen Vorteilen: der Größe der Leinwand, dem Sound, Popcorn, fremde Menschen, die sich für das Inter­es­sieren, für das man sich auch inter­es­siert, Gespräche, Werbung, Trailer ...). Alice Agnes­kirchner erzählt in Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors von einem Paar, das genau das gemacht hat und 30 Jahre das Arsenal Kino in Berlin geführt hat. Filme wurden ausge­wählt, Film­vor­stel­lungen wurden von Gesprächen mit den Filme­ma­cher*innen, dem Publikum und Infor­ma­ti­ons­zettel begleitet. Bei diesem Cine­philen-Paar ist auch das DU dabei und das Glück ein Gegenüber zu haben, das einem in seinen Inter­essen sehr ähnlich ist, mit dem man aber auch disku­tieren und streiten kann. Noch dazu haben sie den für mich idealen Beruf: Ein Kino zu leiten und nebenbei auch noch die damals neu geschaf­fenen Sektion der Berlinale: Das inter­na­tio­nale Forum des jungen Films. Anhand von Archiv­ma­te­rial geht man zusammen mit den Gregors durch die Zeiten, begleitet ihre Gene­ra­tion, der um die 1930 Geborenen: die Beziehung zu den Eltern, das poli­ti­sche Geschehen, die 68er Gene­ra­tion, zu der sie nicht gehören, aber mit der sie zu tun hatten (auf einen Vorschlag von Ulrich Gregor soll es zurück­zu­führen sein, dass die Studie­renden die DFFB 1968 in »Dsiga-Wertow-Akademie« umbe­nannten. Damals war er dort Film­ge­schichts­do­zent). Neben dem Material und den Gesprächen mit den Gregors, gibt es immer wieder sehr klas­si­sche Inter­views verschie­dener, bekannter Menschen, wie Jim Jarmusch und Doris Dörrie, die das dann ein wenig einordnen sollen, aber am Inter­es­san­testen ist es doch, wenn die Gregors selber über die Filme und ihr Leben durch die Zeit erzählen.

Von einem DU, das scheinbar nicht dem eigenen DU entspricht, das einen aller­dings doch viel näher ist, als alle anderen, erzählt Andrew Dominik in »Blond«, der auf Netflix läuft, ja, und eigent­lich ins Kino müsste. Wegen Allem: Wegen seiner Länge von 2 Stunden 45 Minuten, wegen seiner visuellen und akus­ti­schen Einfälle, er wechselt zwischen schwarz-weiß und Farbe, das Format ändert sich, der Schnitt ist asso­ziativ und nicht chro­no­lo­gisch, der Ton bricht ab oder fokus­siert sich auf einzelne Geräusche, Geräusche werden künst­liche hinzu­ge­fügt, die Münder werden ins Groteske verzerrt und wegen dem, wie er vom Kino erzählt, beispiels­weise in Spie­ge­lungen der Kino­zu­schauer*innen in »Blond« mit uns, in der Jetztzeit ... Marilyn Monroe wird erzählt, oder besser ihr Innen­leben, denn alles was man sieht und hört, ist mit ihrer Wahr­neh­mung verschmolzen, erzählt, wie sie sich fühlt. »Blond« erinnert an zwei Filme von Pablo Larraín: Spencer und Jackie, geht aber in der Erzählung viel weiter, wird viel vers­tö­render. Jackie Kennedy und Lady Di müssen zwar auch mit ihrem öffent­li­chen und ihrem privaten Bild leben, die sich nicht decken, aber der Kampf findet nicht so stark im Inneren statt, wie es bei Dominik passiert. Es ist das Psycho­gramm einer Frau, das somit natürlich auch aus Mutmaßungen besteht. In Dominiks »Blond« ist in einem ICH, in Norma Jeane, ein DU, Marilyn Monroe mutiert, mit dem sie sich nicht iden­ti­fi­ziert, an dem sich aber alle andere orien­tieren und das besonders für Männer zu einer Projek­ti­ons­fläche wird. Was man dem Film vorwerfen kann, ist, dass er genau das zu sehr ausrollt und ständig wieder­holt und das ziemlich oft sehr wort­wört­lich, gefühlt alle 10 Minuten ist sie scho­ckiert darüber und benennt es: »ich konnte nicht glauben, dass ich das bin«. »Wer ist das auf der Leinwand?« immer wieder. Zu Beginn nimmt sie das aus ihrem Schau­spiel­un­ter­richt mit: »Es ist ein Kreis des Lichts und der Aufmerk­sam­keit, du umhüllst dich mit diesem Kreis, du trägst ihn mit dir wohin du auch gehst, du wirst dir vorstellen, dass es neben diesem echten Körper den imaginären Körper deiner Figur gibt, den du im Geiste erschaffen hast.« Sie kann sich davon aber nicht mehr lösen und wird, auch aufgrund ihrer Biografie, das Opfer davon. So schön der Film ist, so ist er auch fast drei Stunden Verzweif­lung, ein Abar­beiten am Ich, der Rolle, die man sich auferlegt hat, dem Druck, den Erwar­tungen, der Gier anderer, aber auch vom Leben, den Bezie­hungen, der Abtrei­bung und den Abgängen, die sie belasten. Fast alle sie umge­benden Figuren sind verzerrt, Frau­en­fi­guren gibt es fast keine, einzig ihre Mutter spielt eine Rolle, über die sich auch ihre »Daddy-Sehnsucht« erklärt. Das ihre Mutter in Wirk­lich­keit ihren ersten Mann verlassen hat und immer wieder versucht hat Norma Jeanne aufzu­nehmen, wird hier verkehrt, bzw. radi­ka­li­siert, ihre Mutter ist so, wie sie ist, weil ihr Mann sie verlassen hat und sie versucht ihre Tochter umzu­bringen, weil sie sie als Grund dafür sieht. Natürlich war das komplexer und das Krank­heits­bild und Leben ihrer Mutter kompli­zierter.
Man hat oft das Gefühl, dass Marilyn über­rascht ist über ihre Wirkung, als passiere ihr das Alles nur und als gäbe es grund­sätz­lich ein Miss­ver­s­tändnis zwischen ihr und der Welt. Das ist auf Dauer doch einseitig. Irgendwie suhlt sich da ein Regisseur in ihrem Leiden, ihrer Schönheit, das er selber nicht minder glamourös darstellt und für sich arbeiten und sich wieder­holen lässt. Aber zurück zum Guten: Ana de Armas als Norma Jeanne/Marilyn ist toll, der Film als Film ist toll und die Insze­nie­rung der Studio­bosse, der Männer an den Sets und der Fans, ihren Blicken und um sie herum ist so vers­tö­rend wie wichtig.

Es laufen gerade noch zwei andere Frau­en­bio­gra­fien im Kino: Claudia Müllers unbedingt empfeh­lens­werter Film Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen und Alice Schwarzer von Sabine Derf­linger. Jelinek und Schwarzer, zwei Frauen, bzw. zwei Filme, in denen es um die Arbeit der Frauen geht, die jeweils das Private außen vor lassen. Das heißt jetzt nicht, dass sie an der Ober­fläche bleiben, sondern Frauen zeigen, die Entschei­dungen treffen, kämpfen und zu dem stehen, was sie machen und auch damit umgehen können anzuecken und nicht gemocht zu werden.

Zum Schluss noch ein TV-Tipp: Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre in der Arte oder ARD-Mediathek. Die Super-8-Aufnahmen, gedreht zwischen 1972 und 1981, stammen von Ernaux’ Ehemann Philippe Ernaux, Regie führte ihr Sohn David Ernaux-Briot, sie schrieb die Texte. Annie Ernaux ist für ihre auto­bio­gra­fi­schen Bücher bekannt, letztes Jahr wurde ihr Buch Das Ereignis verfilmt, es behandelt die unge­wollte Schwan­ger­schaft und die darauf folgende Abtrei­bung im Frank­reich der 1960er-Jahre. Also eine ähnliche Zeit wie Marilyn Monroe und auch ein Thema, das in »Blond« vorkommt, aber unter ganz anderen Vorzei­chen. Die Bilder in Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre sagen etwas über Philippes Blick auf seine Ehefrau. Ihre Blicke zurück und ihr gespro­chener Text erzählt etwas von einer Annie, die sich in die Rolle einer Fami­li­en­mutter begeben hat, darüber und über ihre Umgebung nachdenkt und darüber, dass sie schreiben will. Mittel­stands­fa­milie, viele Reisen, Interesse an dem, was einen umgibt, auf den ersten Blick: alles so wie es sich gehört. Es sind aber nicht nur Erin­ne­rungen, die Bilder und Texte erzählen von einer Sehnsucht, der Sehnsucht einer sozialen Klasse und der Frauen in ihr. Die Ober­fläche verändert sich, irgend­wann fallen die Menschen aus den Aufnahmen, das schein­bare Ideal zerbrö­ckelt und wir wissen: es war nie da. Philippe und Annie trennen sich. Annie schreibt und findet ihren eigenen Ausdruck. Da wird aus dem DU eines Anderen, das ICH eines Selbst, etwas was Marilyn Monroe in »Blond« nicht gelingt.