Form follows Folter |
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Auf der diesjährigen Viennale waren zwei Dokumentarfilme zu entdecken, die man unbedingt gegeneinanderhalten muss. Der eine, El Sicario, Room 164, des New Yorker Regisseurs Gianfranco Rosi, hatte auf den Filmfestspielen in Venedig für große Aufmerksamkeit gesorgt und dort den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen. Der andere, 48, der Portugiesin Susana de Sousa Dias, gewann dieses Jahr den Grand Prix beim Pariser Festival Cinéma du Réel. Die beiden Filme sind ähnlich reduziert in ihrer Machart, vertrauen auf das gesprochene Wort und eine mehr oder minder unveränderte Bildeinstellung dazu, und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. So wie die Filmemacher selbst unterschiedlich sind: Gianfranco Rosi fiel auf durch seine große Hornbrille mit den getönten Gläsern und ließ sich nachts auf dem Badeschiff feiern, Susana de Sousa machte sich fast unsichtbar und zog sich hinter ihre reflektierten Wort |
Von Dunja Bialas
El Sicario, Room 164, der »düsterste Film des Festivals« (Standard), lässt einen Auftragskiller (den Sicario) erzählen, wie das mexikanische Drogenkartell funktioniert und wie er Hunderte von Menschen entführt, gefoltert, getötet hat. Über eine Reportage aus »Harper’s Magazine« ist Rosi auf ihn gestoßen. Der Sicario ist mittlerweile aus dem Geschäft ausgestiegen und wird von seinen ehemaligen Auftraggebern gesucht, die eine Belohnung von 250 000 Dollar auf seinen Kopf ausgeschrieben haben. Ein Umstand, der seine bloße Anwesenheit auf der Leinwand als etwas höchst Exklusives erscheinen lässt. In drei Tagen, so erzählt Rosi nach der Vorführung, hat er mit ihm den Film abgedreht. Um seine Anonymität zu wahren, hat der Sicario sich ein schwarzes Häkeltuch über den Kopf geworfen, ein augenfälliges Sinnbild für einen, der »tot oder lebendig« eine Viertelmillion wert ist. Die Erzählungen, die der Sicario auf der Leinwand zum besten gibt, sind in der Tat aufsehenerregend, enthüllen die Machenschaften der mexikanischen Drogenmafia. Sie rekrutiert ihren Nachwuchs bereits in den unteren Klassen der Schulen, schickt die herangewachsenen Mafiosis zur Ausbildung zur Polizei, von wo aus sie ins ganze Land ausschwärmen. Wie eine Krake mit einer Unzahl an Armen greift das Drogenkartell so nach den Stadtvierteln des Landes und kann diese beherrschen, kontrolliert dabei zugleich die Polizei. Die Fußsoldaten der Mafia bleiben dabei in Abhängigkeit von dem unbekannten Big Boss und werden tyrannisiert vom Klingeln des Handys, das immer neue Folter- oder Tötungsanweisungen ankündigt. Kein Zweifel, ein aufregender Film, der auch stilistisch einiges zu bieten hat: Während man nämlich den Enthüllungen lauscht, sieht im Bild meist nur die schwarze sprechende Kapuze, wahlweise auch die kräftigen, sehr präsenten Killerhände, wie sie das Gesagte mit Filzstift grob in einem Skizzenbuch visualisieren. – Rosi verzichtet auf Archivaufnahmen oder Nachrichtenausschnitte, die es sicherlich in Unmengen gegeben hätte. Ein stilistisch überaus überzeugender Verzicht und eine wohltuende Reduktion der Bilder.
Aber dann, trotz aller vordergründigen Begeisterung für den Film, ganz langsam und schleichend überkommen einen Zweifel gegenüber dem Filmprojekt als solchem. Noch ganz schemenhaft manifestiert sich der vage Gedanke, dass man womöglich einem großen Aufschneider und Ausschmücker zuhört. Schon stärker empört sieht man ihm zu, wie er in einem perfekten Reenactment routinierte Griffe des Auftragskillers nachspielt und sich dabei als großer Selbstdarsteller offenbart. Ganz klare Gänsehaut bekommt man, als man ihn gegen Ende des Films in theatralischen Posen sieht, die illustrieren sollen, wie sich seine Bekehrung zu Gott und dem Guten abgespielt hat. Schließlich bleibt nur noch die Frage: Was für ein Filmregisseur muss man sein, um dieser Figur zu begegnen?
Gut, dass Regisseur Rosi nach dem Film ähnlich auskunftsfreudig ist wie sein Protagonist. Um ihn für das Projekt zu gewinnen, habe er dem Sicario 4000 Dollar für seinen filmischen Auftritt gezahlt, einen Preis, den er in der Vergangenheit angeblich für einen Auftragsmord erhalten habe. Rosi lapidar dazu: »Dieser Preis erschien mir angemessen.« Einem höchst umstrittenen, halbseidenen Verfahren im Dokumentarfilm, den Filmprotagonisten zu bezahlen, wird hier, im Wissen um den wertvollen »Fang«, einfach das Wort geredet, ohne auch nur mit einem Wort das eigene Vorgehen und die Implikationen, die sich daraus für das Filmprojekt insgesamt ergeben, zu befragen. Und genau so geht es weiter: Die Visualisierungen in Form der Skizzen und des Reenactments waren nach Aussagen Rosis Regieeinfälle, also seine Idee, was auch erklärt, warum das große, irgendwie elegante Skizzenbuch so unpassend in dem Kontext erscheint (Zettel hätten es auch getan), und vor allem, weshalb die Zeichnungen des Sicarios meist so unaussagekräftig sind: sie gehören einfach nicht zu seinem Ausdrucksrepertoire. Die nachgespielten Szenen habe man dann am Schluss am Stück gedreht, als alles schon gesagt war, so Rosi. Dies ist natürlich ein plausibles Vorgehen für einen Regisseur, ob aber damit der Grad an Wahrhaftigkeit erzeugt wird, mit dem der Film wirbt, sei dahingestellt. Ein elender Nachgeschmack macht sich breit angesichts dieser Enthüllungen und fest steht leider: Dieser Film ist ein Blendwerk.
Ganz anders dagegen der Dokumentarfilm mit dem zurückgenommenen Titel »48«. »48« hat zum Gegenstand die Diktatur in Portugal, in der António de Oliveria Salazars und sein »Estado novo« 48 Jahre lang das Land autoritär beherrschte, bis es 1974 zur Nelkenrevolution kam. 48 Jahre Diktatur, das sind 48 Jahre Inhaftierungen, Folter, Angst einer terrorisierten Bevölkerung. Die Regisseurin Susana de Sousa Dias ist für ihren Film in die Archive gegangen, auf der Suche nach den Spuren politischer Gefangener. Sie hat Fotos gefunden, die die politische Polizei PIDE von den Menschen bei ihrer Verhaftung machte, und die entsprechenden Entlassungsfotos. Sodann hat sie sich auf die Suche gemacht, die Menschen zu den Fotos zu finden. Ein mühsames, oft scheiterndes Unterfangen, aber de Sousa Dias konnte einige von ihnen treffen. Sie bat sie, ihre Geschichte zu erzählen, von der Verhaftung, von den Jahren im Gefängnis, von den Umständen ihrer Entlassung. Diese Erzählungen lässt sie im Film aus dem Off ertönen. Im Bild sieht man die Inhaftierungsfotos, die die Zeit dokumentieren, von der erzählt wird. Man sieht Menschen, wie sie mit klarem Blick in die Fotokamera schauen, während sie sich um einen größtmöglich neutralen Ausdruck bemühen. Einmal irritiert ein Lächeln, ein typisches Fotogesicht, den Reigen der beklemmenden Aufnahmen. Die Augen der Fotografierten richten sich dabei meist nicht auf den Zuschauer, man merkt eine leichte Verschiebung zwischen dem Blick des Porträtierten und dem Okular, das ihn festhält. Keine durchdringenden Blicke von der Leinwand auf den Zuschauer also, sondern deutliche Situationen, die sich im funktionalen Bildarrangement mitteilen: die Situation der Verhaftung, der Ernst der Lage. Während man die Gesichter studiert, die während der Erzählungen unverändert auf der Leinwand stehen bleiben, forscht man in ihren Zügen nach den Spuren, der Verhaftung, nach den vielleicht unbeschwerten Stunden, die ihr vorausgingen und die sich vielleicht noch in den Gesichtern reflektieren, nach dem vollen Leben, aus dem die Verhafteten durch den Zugriff des Regimes herausgerissen wurden. Man kann die Verzweiflung, vielleicht auch Hoffnung, die Resignation, Wut, Trauer, das Aufbegehren in ihren Gesichtern erahnen. Und man erhält Gewissheit über das, was sich subkutan abgespielt hat, durch die Off-Erzählungen der polizeilich Porträtierten, 35 Jahre später. De Sousa Dias lässt im Laufe der Erzählungen das jeweilige Inhaftierungsbild in das Entlassungsfoto hinüberfließen. Teilweise befinden sich zwischen den Aufnahmen nur wenige Jahre, teilweise sind es Jahrzehnte. Die Deformation der Porträtierten springt einen dabei direkt an, es ist eine körperliche und seelische Deformation, die den Fotografierten »ins Gesicht geschrieben steht«.
Im Unterschied zu Gianfranco Rosi und seinem Exploitation-Sicario, hat de Sousa Dias sich Zeit genommen für ihre Protagonisten, sie in mehreren Sitzungen zu dem großen Komplex der portugiesischen Diktatur befragt, hat sie dabei auch gefilmt, die Aufnahmen später wieder verworfen, zugunsten der Aussagestärke des Archivmaterials. Im Schnitt hat sie aus den Erzählungen Themenstränge herausgearbeitet – den Umstand der Verhaftung, die Zeit der Inhaftierung, Schilderungen von Folter, die Entlassung, die inneren Zustände, die die Gefangenen in dieser Zeit durchliefen. Es kristallisiert sich dabei ein strukturelles Gemeinsames von Folter und Angst heraus, die Einzelschicksale gehen auf im großen Schreckenssystem der Diktatur.
Fazit ist: De Sousa Dias hat für ihren Film aufwendig recherchiert, während Rosi mehr oder minder einfach den Artikel aus »Harper’s« nahm und mit Hilfe des Autors Charles Bowden (der auch beim Drehbuch mitwirkte) Kontakt zum Sicario herstellte. Sodann hat er dem Film seinen Stempel aufgedrückt, der mindestens genauso mächtig ist, wie die Präsenz des Sicario. Auch de Sousa Dias hat ihrem Film die Stilmittel vorgegeben, sich dabei an das gehalten, was sie auffinden konnte, hat also vom vorgefundenen Material ausgehend gearbeitet. Im Schnitt hat sie dem Film seine tiefgreifende, ins Allgemeine tendierende Richtung gegeben, die sie erst festlegen konnte, nachdem sie wusste, was ihr erzählt wurde. Anders Rosi: Er wusste vorher, was ihm erzählt werden würde, dachte sich ein paar Bildideen aus und: That’s it. Mal sehen, was Schule macht. Das große Getöne um seinen Film jedenfalls gibt Rosi recht.