18.11.2010

Form follows Folter

Auf der diesjährigen Viennale waren zwei Dokumentarfilme zu entdecken, die man unbedingt gegeneinanderhalten muss. Der eine, El Sicario, Room 164, des New Yorker Regisseurs Gianfranco Rosi, hatte auf den Filmfestspielen in Venedig für große Aufmerksamkeit gesorgt und dort den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen. Der andere, 48, der Portugiesin Susana de Sousa Dias, gewann dieses Jahr den Grand Prix beim Pariser Festival Cinéma du Réel. Die beiden Filme sind ähnlich reduziert in ihrer Machart, vertrauen auf das gesprochene Wort und eine mehr oder minder unveränderte Bildeinstellung dazu, und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. So wie die Filmemacher selbst unterschiedlich sind: Gianfranco Rosi fiel auf durch seine große Hornbrille mit den getönten Gläsern und ließ sich nachts auf dem Badeschiff feiern, Susana de Sousa machte sich fast unsichtbar und zog sich hinter ihre reflektierten Wort

Form follows Folter

Von Dunja Bialas

»I hired a contract killer«

El Sicario, Room 164, der »düsterste Film des Festivals« (Standard), lässt einen Auftrags­killer (den Sicario) erzählen, wie das mexi­ka­ni­sche Drogen­kar­tell funk­tio­niert und wie er Hunderte von Menschen entführt, gefoltert, getötet hat. Über eine Reportage aus »Harper’s Magazine« ist Rosi auf ihn gestoßen. Der Sicario ist mitt­ler­weile aus dem Geschäft ausge­stiegen und wird von seinen ehema­ligen Auftrag­ge­bern gesucht, die eine Belohnung von 250 000 Dollar auf seinen Kopf ausge­schrieben haben. Ein Umstand, der seine bloße Anwe­sen­heit auf der Leinwand als etwas höchst Exklu­sives erscheinen lässt. In drei Tagen, so erzählt Rosi nach der Vorfüh­rung, hat er mit ihm den Film abgedreht. Um seine Anony­mität zu wahren, hat der Sicario sich ein schwarzes Häkeltuch über den Kopf geworfen, ein augen­fäl­liges Sinnbild für einen, der »tot oder lebendig« eine Vier­tel­mil­lion wert ist. Die Erzäh­lungen, die der Sicario auf der Leinwand zum besten gibt, sind in der Tat aufse­hen­er­re­gend, enthüllen die Machen­schaften der mexi­ka­ni­schen Drogen­mafia. Sie rekru­tiert ihren Nachwuchs bereits in den unteren Klassen der Schulen, schickt die heran­ge­wach­senen Mafiosis zur Ausbil­dung zur Polizei, von wo aus sie ins ganze Land ausschwärmen. Wie eine Krake mit einer Unzahl an Armen greift das Drogen­kar­tell so nach den Stadt­vier­teln des Landes und kann diese beherr­schen, kontrol­liert dabei zugleich die Polizei. Die Fußsol­daten der Mafia bleiben dabei in Abhän­gig­keit von dem unbe­kannten Big Boss und werden tyran­ni­siert vom Klingeln des Handys, das immer neue Folter- oder Tötungs­an­wei­sungen ankündigt. Kein Zweifel, ein aufre­gender Film, der auch stilis­tisch einiges zu bieten hat: Während man nämlich den Enthül­lungen lauscht, sieht im Bild meist nur die schwarze spre­chende Kapuze, wahlweise auch die kräftigen, sehr präsenten Killer­hände, wie sie das Gesagte mit Filzstift grob in einem Skiz­zen­buch visua­li­sieren. – Rosi verzichtet auf Archiv­auf­nahmen oder Nach­rich­ten­aus­schnitte, die es sicher­lich in Unmengen gegeben hätte. Ein stilis­tisch überaus über­zeu­gender Verzicht und eine wohl­tu­ende Reduktion der Bilder.

Aber dann, trotz aller vorder­grün­digen Begeis­te­rung für den Film, ganz langsam und schlei­chend über­kommen einen Zweifel gegenüber dem Film­pro­jekt als solchem. Noch ganz sche­men­haft mani­fes­tiert sich der vage Gedanke, dass man womöglich einem großen Aufschneider und Ausschmü­cker zuhört. Schon stärker empört sieht man ihm zu, wie er in einem perfekten Reenact­ment routi­nierte Griffe des Auftrags­kil­lers nach­spielt und sich dabei als großer Selbst­dar­steller offenbart. Ganz klare Gänsehaut bekommt man, als man ihn gegen Ende des Films in thea­tra­li­schen Posen sieht, die illus­trieren sollen, wie sich seine Bekehrung zu Gott und dem Guten abge­spielt hat. Schließ­lich bleibt nur noch die Frage: Was für ein Film­re­gis­seur muss man sein, um dieser Figur zu begegnen?

Gut, dass Regisseur Rosi nach dem Film ähnlich auskunfts­freudig ist wie sein Prot­ago­nist. Um ihn für das Projekt zu gewinnen, habe er dem Sicario 4000 Dollar für seinen filmi­schen Auftritt gezahlt, einen Preis, den er in der Vergan­gen­heit angeblich für einen Auftrags­mord erhalten habe. Rosi lapidar dazu: »Dieser Preis erschien mir ange­messen.« Einem höchst umstrit­tenen, halb­sei­denen Verfahren im Doku­men­tar­film, den Film­prot­ago­nisten zu bezahlen, wird hier, im Wissen um den wert­vollen »Fang«, einfach das Wort geredet, ohne auch nur mit einem Wort das eigene Vorgehen und die Impli­ka­tionen, die sich daraus für das Film­pro­jekt insgesamt ergeben, zu befragen. Und genau so geht es weiter: Die Visua­li­sie­rungen in Form der Skizzen und des Reenact­ments waren nach Aussagen Rosis Regie­ein­fälle, also seine Idee, was auch erklärt, warum das große, irgendwie elegante Skiz­zen­buch so unpassend in dem Kontext erscheint (Zettel hätten es auch getan), und vor allem, weshalb die Zeich­nungen des Sicarios meist so unaus­sa­ge­kräftig sind: sie gehören einfach nicht zu seinem Ausdrucks­re­per­toire. Die nach­ge­spielten Szenen habe man dann am Schluss am Stück gedreht, als alles schon gesagt war, so Rosi. Dies ist natürlich ein plau­si­bles Vorgehen für einen Regisseur, ob aber damit der Grad an Wahr­haf­tig­keit erzeugt wird, mit dem der Film wirbt, sei dahin­ge­stellt. Ein elender Nach­ge­schmack macht sich breit ange­sichts dieser Enthül­lungen und fest steht leider: Dieser Film ist ein Blendwerk.

Im Angesicht des Schre­ckens

Ganz anders dagegen der Doku­men­tar­film mit dem zurück­ge­nom­menen Titel »48«. »48« hat zum Gegen­stand die Diktatur in Portugal, in der António de Oliveria Salazars und sein »Estado novo« 48 Jahre lang das Land autoritär beherrschte, bis es 1974 zur Nelken­re­vo­lu­tion kam. 48 Jahre Diktatur, das sind 48 Jahre Inhaf­tie­rungen, Folter, Angst einer terro­ri­sierten Bevöl­ke­rung. Die Regis­seurin Susana de Sousa Dias ist für ihren Film in die Archive gegangen, auf der Suche nach den Spuren poli­ti­scher Gefan­gener. Sie hat Fotos gefunden, die die poli­ti­sche Polizei PIDE von den Menschen bei ihrer Verhaf­tung machte, und die entspre­chenden Entlas­sungs­fotos. Sodann hat sie sich auf die Suche gemacht, die Menschen zu den Fotos zu finden. Ein mühsames, oft schei­terndes Unter­fangen, aber de Sousa Dias konnte einige von ihnen treffen. Sie bat sie, ihre Geschichte zu erzählen, von der Verhaf­tung, von den Jahren im Gefängnis, von den Umständen ihrer Entlas­sung. Diese Erzäh­lungen lässt sie im Film aus dem Off ertönen. Im Bild sieht man die Inhaf­tie­rungs­fotos, die die Zeit doku­men­tieren, von der erzählt wird. Man sieht Menschen, wie sie mit klarem Blick in die Foto­ka­mera schauen, während sie sich um einen größt­mög­lich neutralen Ausdruck bemühen. Einmal irritiert ein Lächeln, ein typisches Foto­ge­sicht, den Reigen der beklem­menden Aufnahmen. Die Augen der Foto­gra­fierten richten sich dabei meist nicht auf den Zuschauer, man merkt eine leichte Verschie­bung zwischen dem Blick des Porträ­tierten und dem Okular, das ihn festhält. Keine durch­drin­genden Blicke von der Leinwand auf den Zuschauer also, sondern deutliche Situa­tionen, die sich im funk­tio­nalen Bild­ar­ran­ge­ment mitteilen: die Situation der Verhaf­tung, der Ernst der Lage. Während man die Gesichter studiert, die während der Erzäh­lungen unver­än­dert auf der Leinwand stehen bleiben, forscht man in ihren Zügen nach den Spuren, der Verhaf­tung, nach den viel­leicht unbe­schwerten Stunden, die ihr voraus­gingen und die sich viel­leicht noch in den Gesich­tern reflek­tieren, nach dem vollen Leben, aus dem die Verhaf­teten durch den Zugriff des Regimes heraus­ge­rissen wurden. Man kann die Verzweif­lung, viel­leicht auch Hoffnung, die Resi­gna­tion, Wut, Trauer, das Aufbe­gehren in ihren Gesich­tern erahnen. Und man erhält Gewiss­heit über das, was sich subkutan abge­spielt hat, durch die Off-Erzäh­lungen der poli­zei­lich Porträ­tierten, 35 Jahre später. De Sousa Dias lässt im Laufe der Erzäh­lungen das jeweilige Inhaf­tie­rungs­bild in das Entlas­sungs­foto hinü­ber­fließen. Teilweise befinden sich zwischen den Aufnahmen nur wenige Jahre, teilweise sind es Jahr­zehnte. Die Defor­ma­tion der Porträ­tierten springt einen dabei direkt an, es ist eine körper­liche und seelische Defor­ma­tion, die den Foto­gra­fierten »ins Gesicht geschrieben steht«.

Im Unter­schied zu Gian­franco Rosi und seinem Exploita­tion-Sicario, hat de Sousa Dias sich Zeit genommen für ihre Prot­ago­nisten, sie in mehreren Sitzungen zu dem großen Komplex der portu­gie­si­schen Diktatur befragt, hat sie dabei auch gefilmt, die Aufnahmen später wieder verworfen, zugunsten der Aussa­ge­stärke des Archiv­ma­te­rials. Im Schnitt hat sie aus den Erzäh­lungen Themen­stränge heraus­ge­ar­beitet – den Umstand der Verhaf­tung, die Zeit der Inhaf­tie­rung, Schil­de­rungen von Folter, die Entlas­sung, die inneren Zustände, die die Gefan­genen in dieser Zeit durch­liefen. Es kris­tal­li­siert sich dabei ein struk­tu­relles Gemein­sames von Folter und Angst heraus, die Einzel­schick­sale gehen auf im großen Schre­ckens­system der Diktatur.

Fazit ist: De Sousa Dias hat für ihren Film aufwendig recher­chiert, während Rosi mehr oder minder einfach den Artikel aus »Harper’s« nahm und mit Hilfe des Autors Charles Bowden (der auch beim Drehbuch mitwirkte) Kontakt zum Sicario herstellte. Sodann hat er dem Film seinen Stempel aufge­drückt, der mindes­tens genauso mächtig ist, wie die Präsenz des Sicario. Auch de Sousa Dias hat ihrem Film die Stil­mittel vorge­geben, sich dabei an das gehalten, was sie auffinden konnte, hat also vom vorge­fun­denen Material ausgehend gear­beitet. Im Schnitt hat sie dem Film seine tief­grei­fende, ins Allge­meine tendie­rende Richtung gegeben, die sie erst festlegen konnte, nachdem sie wusste, was ihr erzählt wurde. Anders Rosi: Er wusste vorher, was ihm erzählt werden würde, dachte sich ein paar Bildideen aus und: That’s it. Mal sehen, was Schule macht. Das große Getöne um seinen Film jeden­falls gibt Rosi recht.