Das Hurch-Vermächtnis |
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Vai-e-vem: Ich komme und gehe, so ist das Leben. Monteiros letzter Film war Teil der Hommage an Hans Hurch. |
Von Dunja Bialas
»Ich glaube, man kennt das Kino nur, wenn man es in allen Facetten kennt.« – Hans Hurch
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Mit dem plötzlichen Ableben des langjährigen Viennale-Direktors Hans Hurch am 23. Juli 2017 geht eine Ära Wiener Festivalglückseligkeit zu Ende.
Zwanzig Jahre, so lang dauerte die Direktorenzeit Hurchs, wurden die Cineasten mit Entdeckungen von der kinematographischen Landkarte beschenkt, die sich vor allem Hurchs außergewöhnlichem Blick für das Ungewöhnliche verdankte. Seine »Propositions«, in denen er den Blick auf »eigenständige, radikale Position und einen
inhaltlich und ästhetisch unverwechselbaren Beitrag zum 'State of the Production'« richtete, führten das Weltkino aus seiner Marktstarre hinaus in eine große Lebendigkeit, die sich auf andere Festivals wie Rotterdam und Marseille übertrug. Als Vorschläge konnten zuletzt 2015 Filme von Ion de Sosa, Nicolas Pereda, Raúl Perrone oder Jonathan Perel entdeckt werden. Dann hörte die legendäre Filmreihe auf, und letztes Jahr konnte der Viennale eine gewisse Programm-Müdigkeit bescheinigt
werden, die sich als programmatische Routine manifestierte. Hurch hatte damals noch zwei Festivaljahre vor sich, 2018, also ein Jahr vor dem ebenfalls seit fast zwanzig Jahren amtierenden Berlinale-Chef Dieter Kosslick, sollte er aufhören.
Dass der Abgang von Hurch so radikal als Tod eintreten sollte, ist tragisch. Hurch sollte noch über seine Nachfolge mitentscheiden, wie dies übrigens auch Kosslick zugestanden wird. Während das deutsche A-Festival seitens seiner Dienstherrin, der Kulturstaatsministerin Monika Grütters, als Berlinale-Nachfolge angeblich bereits eine Frau vorsieht und Gerüchte kursieren, dass Bettina Reitz und Diana Iljine aufgefordert sind, ihre Bewerbung vorzubereiten, scheint die Viennale unter der administrativen Obhut der Stadt Wien politisch autonomer agieren zu können. Am vergangenen Freitag wurde die Ausschreibung publik – nur einen Tag nach Beendigung der letzten Festival-Ausgabe Hurch'scher Prägung, als hätte man noch kurz die Trauerzeit eingehalten.
Bis 5. Dezember kann man sich jetzt unter bewerbungen@viennale.at anstrengen, der »neue Direktor oder die künftige Direktorin« zu werden. Spätestens am 31.1.2018 soll dann die Entscheidung gefällt werden, dies vom Viennale-Kuratorium auf Vorschlag einer nicht namentlich benannten Findungskommission. Es winkt ein Jahresgehalt von 90.000 € brutto. Gesucht wird eine »profilierte Persönlichkeit / a prominent person« mit entsprechenden Direktions-Eigenschaften. Vor allem im Kuratieren von Programmen namhafter Festivals soll man sich profiliert haben, schließlich war Hurch alleiniger Programmer der Viennale.
Dieses Jahr offenbarte durch Vakanz, wie wichtig schillernde Prominenz für die Viennale ist. Der Interimsdirektor Franz Schwartz mit seinem ordentlichen und professionellen Auftritt während der Viennale machte den Unterschied deutlich zwischen der Repräsentation eines Festivals und seiner charismatischen Verkörperung. Hurch war ein extremer Charismatiker, der sich nachts unter seine Festivalgäste mischte und auch manche Privatheit nach außen trug. Er war einer, der die internationalen Festivaliers zu seinen privaten Freunden und professionellen Komplizen machte.
Nicht aber erst dieses Jahr erschien einem die Viennale seltsam herrenlos, auch letztes Jahr hatte sich schon das diffuse Gefühl des Verlassenseins breit gemacht. Wer aber hätte gedacht, dass die Viennale auf die wichtige Bindung zu seinem Publikum, wie sie Hurch über Jahre durch seine persönliche Anwesenheit bei den Vorstellungen und im Festivalzentrum praktiziert hatte, dieses Jahr so gedankenlos verzichtet? Ausgerechnet in der Hommage an Hans Hurch wurde dies manifest. Unter dem Titel »14 Friends, 14 Films« war ein Retroprogramm, zusammengestellt von Regisseuren wie Hartmut Bitomsky, Peter Nestler, Kelly Reichardt, Jean-Marie Straub oder Agnès Varda, die jeweils eine Carte Blanche aus der Filmgeschichte zückten, in Erinnerung an den großen Cineasten Hurch. Alle Filme wurden auf 35mm gezeigt, eine Selbstverständlichkeit, wie sie nur die Wiener kennen. So weit, so großartig. Beschämend aber waren die Ansagen, wenn kein Filmpate da war (und meist war keiner da). Die Saalbetreuer stammelten die Filmtitel und Regisseursnamen herunter, gaben keine Hinweise auf den kuratorischen Zusammenhang und noch weniger auf Hurch. Ein mehr Gedenken und Sorgfalt hätte man sich da gerne gewünscht. So war die Hommage dann doch leider nur das Zeigen von Filmen, ohne inhaltlich-biographische Film-Vermittlung (das konnte dann im Katalog nachgelesen werden).
Die Verwaisung der Viennale wurde besonders auch dort spürbar, wo Hurch jenseits der Programmierung aktueller Filme gearbeitet hatte. Die Reihe »Napoli! Napoli!«, die noch einmal sein Interesse zeigte, sich ins Abwegige hineinzubegeben, um dort tiefere Gründe für unsere heutigen Kinematographien aufzuspüren, widmete sich der Entstehung des Neuen Neapolitanischen Kinos. Die in Paris ansässige Filmkritikerin Maria Giovanna Vagenas, als Moderatorin eine langjährige Vertraute des Festivals, hatte elf Filme zusammengestellt, die eine seit den 90er Jahren anhaltende Erneuerung des italienischen Kinos in Neapel sichtbar machen sollten. Schön wäre es auch hier gewesen, hätte die Kuratorin die Filme jeweils durch eine kleine Einführung begleitet. Es galt aber auch hier: Bitte vorab den Text im Katalog lesen und vor den Filmvorführungen die heruntergespulten Programmhinweise der Kinobetreuer über sich ergehen lassen. Nicht der Akademisierung des Kinoerlebnisses soll hiermit das Wort geredet, sondern für ein Kino als Erkenntnisort gesprochen werden. Dies erfordert einen liebevolleren Umgang mit dem eigenen Programm und letztlich auch mit dem interessierten Publikum. Filmvermittlung könnte hier stattfinden, für die Festivals ja auch da sind, gerade, wenn es sich um historische Programme handelt.
Das anderweitige Programm, gewohnt schlicht unterteilt in Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme (eine Schlichtheit, die seit jeher Ratlosigkeit aufwirft, als könnten Kurzfilme keine Spiel- oder Dokumentarfilme sein, und überhaupt, dieses Schubladendenken…) braucht diese spezielle Filmvermittlung natürlich nicht. Das Programm sprach auch dieses Jahr in gewohnt hoher Qualität für sich. Wenige Ausreißer waren darunter, die dann aber auch wieder auf ihre Art für sich sprechen, erhielt doch mein persönlicher Tiefpunkt der Viennale Der Affront den »Standard«-Publikumspreis. Die französisch-libanesische Koproduktion kann als Beispiel dienen für eine Ausformung des Weltkinos, das Pathos scheinbar mit Politik und Anliegen scheinbar mit Aufklärung verbindet. Am Ende ist dann alles gut gemeint, während das Denken und Fühlen des Zuschauers dirigiert werden. Dabei hatte Hurch doch dem »manipulativen, illusionistischen Potenzial des Kinos eine Absage« erteilt, wie dem Nachruf im Katalog zu entnehmen ist und wir aus eigener Anschauung wissen. Auf das Publikum aber ist Verlass. Es möchte sich nunmal gerne beim Denken führen lassen, das gilt auch in Wien.
Von diesem Tiefschlag abgesehen, offerierte das Programm gewohnt anpruchvolles Viennale-Kino, das gleichermaßen Arthouse, Experimentalfilm, Genrekino und Historisches zeigt. Und dies jeweils in seiner ganzen Bandbreite. Generell ist die Viennale ein reines Publikumsfestival ohne Wettbewerb (es werden dennoch ein paar Preise vergeben: der Wiener Filmpreis, der Preis der Fipresci und der MehrWert-Filmpreis des Hauptsponsors Erste Bank, den der österreichische Dokumentarfilm Gwendolyn von Ruth Kaaserer erhielt, der gerade auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival als angebliche Weltpremiere zu sehen ist). In konzentrierten zwei Wochen können auch Filme der letzten A-Festivals gesehen werden: Cannes, Venedig, Locarno, San Sebastian, dazu eine Reihe nicht so ausgestellter Filme, eine Mischung, die seit jeher den Reiz der Viennale ausmacht. Dabei treten die Filme wie in jedem guten Programm in einen inneren Dialog, in dem sich Spiegelungen, Verschwesterungen, Zuspitzungen auftun.
Der Franzose Philippe Garrel und der koreanische Regisseur Hong Sang-soo (gleich mit drei Filmen auf der Viennale vertreten) können so leicht als Brüder im Geiste erkannt werden. Ihre Filme über das amourös-libidinöse Miteinander sind gleichermaßen beiläufige Plotverdrehungen wie beredte Tragikomödien. Esther Garrel spielt im Film ihres Vaters L’amant d’un jour eine Tochter, die zur Komplizin von der Geliebten des Vaters wird, die so alt ist wie sie. In schönster Nouvelle-Vague-Tradition geht es hier nicht nur um das Filmen auf Analogfilm und in kontrastreichem Schwarzweiß, sondern auch um die ewige Vergeblichkeit, sich gegen die Liebe und ihre tragischen Verwerfungen zu stemmen. Hong Sang-soo setzt in allen drei präsentierten Filmen (On the Beach at Night Alone, The Day After, Claire’s Camera) seine Geliebte Kim Minhee als Hauptdarstellerin ein. Wie in vielen seiner Filme zentriert sich der Plot auch hier um die Figur eines Filmregisseurs oder ähnlichem, wie dem Verlagsleiter aus The Day After. Hongs Männer lassen sich mit ihren weiblichen Fans, Schauspielerinnen oder Mitarbeiterinnen ein, während sie verheiratet sind, und sind am Ende meist die Dummen, die Frauen stehen deutlich besser da. Beide Regisseure, Garrel und Hong, folgen der Tradition der Contes moraux, der moralischen Erzählungen à la Eric Rohmer. An deren Ende sich der Ausgangszustand wieder einstellt, als sei nichts passiert.
Drei Dokumentarfilme der Viennale gingen ihrerseits ein nicht ganz so offenes Dreiecksverhältnis ein. Wobei die Dokumentarfilme des Québec-Kanadiers Denis Côté für die Dokumentarfilmpuristen nicht im eigentlichen Sinne als solche durchgehen können. Hatte er bereits mit Bestiaire (2012) publik gemacht, wie sehr für ihn Gestaltung im Dienste einer fiktionalisierten Wirklichkeit als Filmemacher wichtig und wesentlich ist, wiederholte sich diese perfide Manipulation des Zuschauers auch in seinem neuen Film Ta peau si lisse (A Skin So Soft). Inszenierungen, wie dies Côté in seinem Film über die weiche Haut mit dem harten Kern der Bodybuilder tut, sollten den Altmeistern des Direct cinéma, dem 87-jährigen Frederick Wiseman (Ex Libris – Die Public Library von New York) und des jetzt auch schon 75-jährigen Franzosen Raymond Depardon (12 Tage) fremd sein. Wobei daran erinnert werden muss, dass James Benning, dessen Dokumentarfilme scheinbar nur darin bestehen, die Kamera in die Natur zu halten, einmal gesagt hat: »All documentaries are lies.« Dieser überraschende Satz des US-amerikanischen Film-Trappers ist wohltuend bei dem gegenwärtig als Mantra beschworenem Diktum, Dokumentarfilme seien das Antidot gegen das Postfaktische. Als würde sich unsere Welt nur noch um Donald Trump und seine Lügen drehen.
Der 43-jährige Denis Côté ist somit kein Beispiel für die Wahrheitsvergessenheit der Welt von heute. Im Publikumsgespräch unterstrich er: »Ich bin Filmemacher. Ich bin weniger am Sujet des Bodybuildings interessiert, als daran, einen interessanten Film zu machen. In Wirklichkeit verstehe ich nichts von den Bodybuildern.« Aber von Körpern, von Ästhetik, von der angenommenen Verletzlichkeit der Seele, möchte man hinzufügen. Seine starken Männer – auch das ein Tabu heute: die Empfindsamkeit des Manns ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu setzen, wie dies auch der Serbokroate Matjaz Ivanisin in Playing Men tut, einen Film, den man schmerzlich auf der Viennale vermisste – werden hautnah gefilmt, wie man es aus Werbeaufnahmen für Duschgels kennt. Der männliche Körper in seiner Vanitas, seiner Eitelkeit und Vergänglichkeit, das immerwährende Ideal von Jugend und Schönheit gegen »Tempus fugit«: dies modelliert Côté gekonnt aus den lebenden Muskel-Statuen heraus.
Das Interesse für die Mechanismen der Körper verbindet ihn mit Frederick Wiseman, der 2010 Boxing Gym realisierte. Der Körper ist für Wiseman aber noch viel allgemeiner immer auch der institutionelle Körper, wie sich wieder in seinem neuesten Dokumentarfilm über den Organismus der New Yorker Stadtbibliothek zeigt, der sich direkt an At Berkeley (2013) anschließt. Das Interesse am Institutionellen wiederum verknüpft sich mit Depardons aktueller Dokumentation von Vorgängen in einer Psychiatrie von Lyon. Offen bleibt hier der Pakt des Dokumentarfilmers mit den oder dem Gefilmten: Was ist gecastet, was ist Suggestion im Schnitt, was ist pure Dokumentation?
Die inneren Dialoge der Filme könnten hier weitere Fortsetzung finden. Die Metrofahrten der großen Charlotte Rampling in Hannah von Andrea Pallaoro werden im Verlauf der Viennale-Tage zur rhythmisierenden Echokammer von João César Monteiros Vai-e-vem (2002) und dessen aberwitzige Busfahrten, der in der Hurch-Hommage zu sehen war, ein großartig anarchisches Kinoerlebnis. Ausgewählt hat den Film der Portugiese Manuel Mozos, der in seinem an Telenovelas erinnernden, dabei sehr selbstironischen Spielfilm Ramiro von einem erfolglosen Schriftsteller erzählt, der sich als Buchhändler über Wasser zu halten versucht. Was wiederum zurückführt zu den Filmen Hongs, mit seinen verzweifelten Verlegern und Regisseuren…
Bezüge wie diese werden hoffentlich auch in der neuen Viennale groß geschrieben werden. Vermutlich wird das Programm gegen den Strich gebürstet werden, die klaren Einteilungen werden verschwinden. Vermutlich wird es neu einen Wettbewerb geben oder die Preise der Sponsoren deutlicher herausgestellt werden, wie dies das Filmfest München seit einiger Zeit tut. Schon jetzt gab es nur mehr zwei Matineen und zwei Spätvorstellungen am Tag, die Verschlankung im Hinblick auf eine bessere Saalauslastung (dieses Jahr stolz vermeldet: 82,6%) wird weitergehen. Das Gartenbaukino wird weiterhin mit den Filmen aus Cannes und Venedig ausverkauft sein. Ob sich die Viennale aber weiterhin dem neoliberalen Zugriff der selbstberufenen Kulturmanager mit ihren Excel-Tabellen und Zuschauerzahlen entziehen können wird? Hoffen wir mal, dass wir Thomas Mießgang in der Zukunft nicht Recht geben müssen, der in seinem Nachruf im Viennale-Katalog schreibt: »Der unerwartete Tod von Hans Hurch ist (…) ein schrecklicher Verlust (…). Einer wie er, der die politische Auseinandersetzung und den inhaltlichen Streit benahe wie ein Lebenselixier benötigte, hätte heute wahrscheinlich gar keine Chance mehr, in eine solche Funktion zu kommen. Wir können uns geistig vorbereiten auf eine Epoche, bei der es nur noch um den Kulturvollzug bei maximaler Publikumsbeteiligung geht, und nicht mehr um Kunst als Medium der Weltwahrnehmung und der ästhetischen Sensibilisierung.«