Der Exzess der Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Exzess |
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Hochaktuell: Weiner von Elyse Steinberg und Josh Kriegman |
Am Mittwochabend ging sie in Wien zuende – die Viennale, das Filmfestival der österreichischen Hauptstadt. Als eines der renommiertesten und besten europäischen Festivals zeigt die Viennale einen Querschnitt des zurückliegenden Filmjahres. Neben Spielfilmen gehören dazu auch viele Dokumentarfilme.
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Er war der Kettenhund der demokratischen Partei im US-Kongreß, ein Scharfmacher, glänzender Polemiker, zugleich ein Bilderbuchkarrierist im politischen Betrieb von Washington – und ein Vollidiot. So hart muss man das formulieren, nachdem man diesen Film gesehen hat: Weiner heißt der faszinierende Dokumentarfilm, in dem zwei Regisseure, Elyse Steinberg und Weiners ehemaliger Mitarbeiter Josh Kriegman das Geschehen als Wahlkampfbegleiter den Kandidaten Anthony Weiner in der noblen Tradition des »direct cinema« bei einem für ihn desaströsen Wahlkampf begleiten. Denn nicht genug damit, dass Weiner ein begabter Populist und Vulgärcharismatiker ist, ein Politiker von monumentaler Eitelkeit und gigantischem Selbstdarstellungstrieb, ein Kandidat, der sich ohne Scham fast bis in sein Schlafzimmer von der Kamera begleiten lässt. Weiner hat auch in anderer Hinsicht alle Scham- und Geschmacksgrenzen überschritten: Per Twitter versendete er Photos von seiner Unterhose samt Inhalt. 2011 musste er deswegen zurücktreten. Was ihn nicht hinderte, es bald erneut zu versuchen – beides: Zwei Jahre nach den peinlichen Vorfällen versuchte Weiner ein Comeback als New Yorker Bürgermeisterkandidat, doch bald darauf folgten auch neue Enthüllungen über sexuelle Annäherungen an Schülerinnen, die ihn endgültig (?) seine politische Karriere kosteten.
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Dieser Film hätte aktueller nicht sein können: Denn ausgerechnet Huma Abadin, Weiners Ex-Frau – im Film sind sie noch verheiratet – ist ihrerseits eine stählerne Magnolie: eiskalt, hart, sichtbar intelligenter als ihr Mann, aber genauso skrupellos wirkend. Als rechte Hand von Hillary Clinton ist sie so einflussreich wie umstritten, und galt sie bislang als Anwärterin auf den Posten des Stabschefs – jaja, der StabchefIn – im Weißen Haus. Clinton hat sie
einmal ihre zweite Tochter genannt. Doch ist sie nun die Empfängerin jener ominösen E-Mails, die jetzt der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton als Vorwand neuer FBI-Ermittlungen das Leben schwer machen.
Dieser Film lässt Abadin als eine überaus unangenehme Person erscheinen, eine Lady Macbeth im Schatten des fast leutselig-depperten Karrieristen. Eine Kopie Clinton, die auf die peinlichen Enthüllungen so reagiert, wie einst First Lady Clinton: Eherne Rückendeckung für
den Göttergatten.
Was der Film aber ausblendet: Abadin könnte auch zur Lady Macbeth der Clinton-Administration werden: Sie ist die Tochter von Pakistanern, und hat ihre Jugend in Saudi-Arabien verbracht – ihr wird Nähe zu den im Dienste der Saudis stehenden radikalislamistischen Muslimbrüdern nachgesagt, und vieles spricht für diese Vermutung.
Wird sie wirklich im Weißen Haus den Ton angeben, dürfte Clintons Nah-Ost-Politik noch einseitiger, als bereits in ihren
Jahren als Außenministerin zugunsten der Saudis und der Türkei, zu Lasten des Irans, aber auch Ägyptens ausfallen. Die israelischen Rechten werden sich ebenfalls die Hände reiben.
Hierüber schweigt der Film – weil er offenkundig zu feige ist, um es auch mit diesem Feind aufzunehmen.
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Dafür aber glückt den Regisseuren eine Entlarvung und ein Psychogramm des politischen Betriebs. Zu dem gehört das Bedürfnis, das Private in den Dienst des Politischen zu stellen: Homestorys im Hochglanzformat, Puppenstubenidyllen, für die der kleine Sohn des Paares vor die Kameras gezerrt wird, Weiners Mutter dazu. Allein diese Mutter! Würde Woody Allen eine schräge Komödie über den Politbetrieb drehen, eine neue New York Story über eine Jewish Mum, die ihren Boy zur Karriere dressiert hat, täglich unter Druck setzt, aber auch nach den schlimmsten Sünden noch verteidigt, dann wäre dies dieser Film.
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Erst der Hang des politischen Betriebs, einerseits selbst Banalitäten zu skandalisieren oder aufzublasen und andererseits gravierendste Vergehen unter den Teppich zu kehren, macht den Aufstieg von zwielichtigen Figuren wie Weiner überhaupt möglich, der seinem Fall naturgemäß vorausging.
So ist dieser Film eine listige bittere Betrachtung unserer Spektakelgesellschaft.
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Der politische Betrieb der USA, das zeigt der derzeitige »Wahlkampf« glänzend, ist ein absurdes Panoptikum aus Amoral von obszönem Ausmaß und aus würdelosen Menschen, die bereit sind, alles für ihre Polit-Karriere zu tun. Viel ist das nicht, denn Ehre und Überzeugungen haben Figuren wie Weiner nie gehabt. Der Film wirft insofern auch einen tiefen Schatten aufs Clinton-Lager, denn er zeigt, dass zumindest Clintons Entourage um keinen Deut besser ist als der Gegenkandidat. Im
Gegenteil sind sie einander zum Verwechseln ähnlich: Ein Haufen stil- und würdeloser Neureicher, der das Land unter sich wie einen Privatbesitz aufteilt – und die verabscheuungswürdigste Seite von New York.
Das Unangenehmste an diesem deprimierenden Sittenbild ist die deutliche Ahnung, dass der Film doch nur die Spitze des Eisbergs zeigt. Das spannendste die begründete Vermutung, dass man von der deutschen Politik ähnliche Geschichte erzählen könnte. Erinnern wir uns an
den Hochstapler Guttenberg. Man wüsste nur wissen, wo man anfängt und sich der Rückendeckung der Redaktionen gewiss sein können.
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Mit dem Spektakel hat auch Homeland (Iraq Year Zero) zu tun, und doch handelt es sich um das Gegenteil: Abbas Fahdel heißt der in Babylon im Irak geborene Regisseur, der hier die traurige Odyssee seines Landes erzählt, über fünf Stunden mit oft schwer erträglichem Filmmaterial. Sein Film zeigt die Normalität des Abnormen. Die zentrale Figur ist Fahdels 12-jähriger Neffe Haidar: ein schlauer, frühreifer Überlebenskünstler, der seine eigenen Vorstellungen von Krieg und Bedrohung hat. Aber der Wind des Krieges weht, wo er will, und so muss die Familie bittere Opfer bezahlen. Ein unmittelbares Dokument über die Nahost-Region und ihre Menschen in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten.
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Vergessene Winkel hat der Dokumentarfilmer Volker Koepp oft porträtiert. Koepp hat vom Leben normaler Leute erzählt, vom immer frischen Zauber der Landschaften, und vom zähen Gang der Geschichte. In seinem neuen Film kehrt der 71-Jährige nun heim, und wendet sich der Uckermark zu, die seine Wahlheimat ist.
Langsam ziehen Wolken vor die Sonne und verdunkeln die sanft geschwungene Hügellandschaft. Dieses Motiv, mit dem der Film beginnt, ist eine Metapher: Die märchenhafte
Schönheit der Landschaft, die vor allem in der Vielfalt der kleinen Einzelheiten besteht, ist bedroht. Der Film zeigt, dass die dünn besiedelte, wald- und wasserreiche Gegend nordöstlich von Berlin, keineswegs jene unangetastete Idylle ist, die die Sonntagsausflügler und eilige Touristen zu entdecken glauben. Trotz schöner Landschaftsbilder wird hier keine falsche Harmonie beschworen. Schon 1976, vor einem halben Leben hat Volker Koepp einen Film über die Uckermark gedreht. Seine
Zuneigung stammt aus dieser Zeit. Koepp spürt der Veränderungen der vergangenen Jahre, befragt Nachbarn und Freunde, hinreißende alte Damen, die seit Ewigkeiten hier zu Hause sind, und er ergreift Partei. Denn riesige Tiermastbetriebe und Biogasanlagen zerstören über Jahrhunderte gewachsene Strukturen, dazu kommen Windparks und vom Staat geförderte Golfplätze. Der Anbau von Mais und Raps setzt der Erde zu. Der Humus verschwindet, die Böden können sich oft kaum noch erholen,
zahllose Pflanzen und Tierarten verschwinden. Koepp hält dagegen und feiert Helden des Alltags vom Biobauer über den Bienenzüchter bis zum zugezogenen Wessi, der den alten Plattenbau wieder herrichtet. Und er feiert das Prinzip Solidarität, um ein Stück Kulturlandschaft für die Menschheit zu retten. Die Erkundung einer Welt zwischen Paradies und Monokultur ist ein Lehrstück über unsere Idee von Heimat und das, was wirklich zählt im Leben. Ein poetischer Film, der trotzdem kritisch
ist.
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Neben solchen Stichproben unserer Nachrichtenwirklichkeit bot die Viennale auch viele Filme über das Kino. Darunter war der französische Le complexe de Frankenstein der schwächste: Eine vor allem geschwätzige, nur stellenweise witzige Hommage an die Nerds und Geeks, die als Monstermaskenbildner unsere Alpträume auf die Leinwand bringen, in Interviews dann aber eine Platitüde an die nächste reihen. Eine der wenigen interessanten Anmerkungen stammt vom Regisseur Guillermo del Toro: »Wir brauchen die Monster«, sagt er, »um die Welt zu verstehen: Ohne sie könnten wir unseren Platz im Universum nicht erklären.«
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Ein sehr wichtiger Film, wenn auch filmisch höchst banal, war der österreichische Cinema Futures von Michael Palm. Kulturpolitisch verdient er höchstes Interesse: Denn der Film kreist um die Zukunft des Kinos und der Zukunft seines Gedächtnisses. Enttäuschend an dem Film war aber zum einen das permanente Namedropping: Klar hätte auch ich ein Interview mit Martin Scorsese geführt, und vielleicht auch mit Christopher Nolan, der als jüngerer Regisseur
wichtig für das Argument ist: Ein extremer Verteidiger des analogen Kinos, dem man nicht nachsagen kann, dass er von gestern sei, und der es sich herausnehmen kann, analoges Material zu fordern.
Geradezu enervierend war aber die US-Fixierung des Regisseurs und was noch mehr verwundert, offenbar auch des österreichischen Filmmuseums, das den Film wesentlich unterstützt hat. Stellenweise konnte man den Eindruck bekommen, nur amerikanisches Kino verdiente es, gerettet zu
werden. Kein asiatischer Film, kein französischer. Erstaunlich, das auch nicht einmal ein einziger österreichischer Film auch nur erwähnt, nicht ein österreichischer Regisseur interviewt wurde. Das ist ein bornierter Blick aufs Kino.
Scorsese, Nolan und andere, wie der französische Philosoph Jacques Rancière steuern zwar Gedanken bei, ebenso wie ein Dutzend Film-Archivare, kommen aber nie zu tieferen Aussagen.
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Trotzdem möchte man vor allem die deutsche Kulturstaatsministerin zwingen, sich diesen Film anzusehen. Dann müsste Monika Grütters erklären, warum man Film nicht gleichberechtigt wie Literatur und Malerei und das Theater unter Kulturgutschutz stellt und wenigstens ein Bruchteil der entsprechenden Gelder auch dem Kino zur Verfügung stellt. Dann könnte sie begreifen, warum man Film auf Film sichern muss, nicht nur digital. Und dann würde sie verstehen, warum in Norwegen, einfach alles gesammelt wird – und zwar laut Verfassungszusatz für die nächsten 1000 Jahre. Antwort: Weil man nicht weiß, was zukünftige Generationen erhaltenswert finden werden.
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Ein weiterer Aspekt der Filmdokumentation ist De Palma. Darin portraitiert der US-Regisseur Noah Baumbach, sonst eher für romantische Komödien zuständig, den Meister des Psychothrillers und des italoamerikanischen Kinos. Brian De Palma reklamiert für sich, tatsächlich Hitchcocks Nachfolger zu sein. Baumbach hat ihn über mehrere Tage interviewt. Das Gespräch montiert er mit viel Filmausschnitten zu einer erhellenden Reise durch das Werk dieses großartigen Regisseurs.