No(w) Limits |
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Der Dokumentarfilm Karuna Grand Show feiert seine Weltpremiere beim 10. Fünf-Seen-Filmfestival: eine glanzvolle Darbietung |
Von Natascha Gerold
Sein T-Shirt fällt auf. »No limits« steht in großen Lettern vorne drauf, gleichzeitig zeichnet sich matteres, aber doch deutlich erkennbares »W« hinter dem »NO« ab. So ist es auch, denn jetzt gilt es: Bald schon werden sie ihm, dem Querschnittgelähmten im Rollstuhl und den anderen Teilnehmern der geplanten Show im südindischen Bylakuppe zujubeln: 5000 Menschen werden begeistert sein von dem Programm, das die jungen Menschen aus dem nahe gelegenen Behindertenheim »Karuna Home« und die hiesigen Pop-Größen gemeinsam darbieten. Zusammen singen, tanzen, musizieren sie in der tibetischen Flüchtlingssiedlung, feiern ein buntes Festival der eigenen Kultur – die einzige Verbindung, die den Exil-Tibetern zu ihrer Heimat geblieben ist.
Doch Bylakuppe ist erst der Anfang: Weil das »Karuna Home« sein zehnjähriges Bestehen feiert, gehen Gründer Khube Rinpoche, seine Schützlinge sowie die mitreisenden Künstler dieser Karuna Grand Show auf große Tour durch Indien. Von Süd nach Nord, machen sie mit ihren Darbietungen auf insgesamt 4000 Kilometern immer wieder Halt in tibetischen Kolonien, bis zu ihrem Ziel Dharamsala, wo der 14. Dalai Lama residiert.
Die beiden Filmemacher Wolfram Seipp und Sebastian Hirt – der eine aus Pöcking am Starnberger See, der andere aus Gräfelfing – waren im vergangenen Jahr bei diesem dreiwöchigen Abenteuer dabei. Ihr 77-minütiger Dokumentarfilm Karuna Grand Show ist als filigran-komplexes Porträt dieser Reise und dieser starken Truppe konzipiert, deren Fäden bei dem charismatischen buddhistischen Ex-Mönch Khube Rinpoche zusammenlaufen. Wohnhaft in Indien, einem Land, in dem Behinderung oft für eine Strafe der Götter gehalten wird, erziehen er und die Betreuer die physisch und psychisch betroffenen Kinder und Jugendliche zur Selbstständigkeit. Er ist der Matchmaker zwischen ihnen und den Künstlern, die – nach oft schmerzhafter Flucht aus Tibet auf der ganzen Welt verstreut – für diese einmalige Veranstaltung der Karuna Grand Show unentgeltlich zusammengekommen sind.
Behinderte und Nichtbehinderte treffen sich hier im Moment der Selbstbestätigung: Egal, was den Alltag bestimmt – auf der Bühne können, dürfen und sollen sie sich zeigen, identitätsbewusst Laut geben als Tibeter, als Persönlichkeiten. Keinen anderen Schluss lassen die Bilder zu, die Seipp und Hirt während der Proben, auf Reisen, backstage oder während der Vorstellung für die Erzählung dieser außergewöhnlichen Roadshow eingefangen haben. Und wie in Nebensätzen oft die wichtigste Botschaft steckt, haben viele Eindrücke manchmal eine umso stärkere Wirkung, je zurückhaltender, absichtsloser ihr Charakter ist.
Zwischen den Stationen fröhlich betanzter Discobeats, der Tradition, die im treibenden Hip Hop verkleidet ist oder der herzergreifenden Cover-Version von »This land is your land« (die sicher auch Woody Guthrie berührt hätte) erfährt der Zuschauer von Schicksalen und Lebenshaltungen auf eine Weise, die Diskussionsrunden und Vorträge nicht vermitteln können – von einem Volk, dessen Situation momentan gegenüber anderen nationalen und internationalen Brandherden ins Hintertreffen geraten ist.
Doch wie die Foto-Ausstellung »Tibet im Exil«, die unter anderem tibetische Fußballerinnen bei Turnieren in Nepal und Indien zeigt (die man noch bis 30. September in den Räumen des H-Teams in der Münchner Plinganser Straße sehen kann), ist Karuna Grand Show ein weiterer motivierender und bereichernder Beweis dafür, dass die tibetische Kultur überall auf der Welt am Leben gehalten wird – manchmal auch dort, wo man sie nicht gleich vermutet. Doch spätestens seit Ray Bradburys Dystopie »Fahrenheit 451« wissen wir, dass Herz und Gedächtnis die sichersten Tresore für das Schützenswerte ist – unabhängig von Raum und Zeit.