Sommerfrische und Kino kombinieren |
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Als die Sonne vom Himmel fiel – mit dem Horizonte-Preis ausgezeichnet |
Von Ingrid Weidner
Das Fünf-Seen-Filmfestival in Starnberg ist nur gut 20 Minuten vom Münchner Hauptbahnhof entfernt. Als wohlhabende Stadtbewohner um 1900 zur Sommerfrische an den Würmsee – wie der Starnberger See bis 1962 hieß – fuhren, und sich Villen bauten, war die Reise noch beschwerlicher. Weiß-blauer Himmel, sommerliche Temperaturen, lässiger Trubel an der Strandpromenade, der Samstag beginnt vielversprechend. Der Bootsanleger verwandelt sich schon am Morgen in eine Bühne, das Schauspiel beginnt zeitig. Wanderer, Touristen, junge Familien, Rentner, Trinker – alle suchen sich ein Plätzchen an der Promenade, warten auf ein Schiff, fotografieren oder staunen die Landschaft an. Nach einer kleinen Verschnaufpause geht es trotz strahlendem Sonnenschein ins Kino.
Der erste Film des Tages beschäftigt sich auch mit der Sonne – allerdings nicht mit ihrer vergnüglichen Seite. In Als die Sonne vom Himmel fiel (2015) erzählt Aya Domenig ihre Familiengeschichte und die Japans gleich mit. Anfangs wollte die Regisseurin nur mehr über ihren 1991 verstorbenen Großvater erfahren, der in seinen letzten Lebensjahren an einer schweren Krebserkrankung litt. Ihre Recherche führte sie in das Jahr 1945. Während des Krieges waren die Großeltern aus der Stadt aufs Land gezogen, die Mutter der Regisseurin wurde dort im Mai 1945 geboren. Der Großvater, ein junger Arzt, pendelte morgens mit dem Vorstadtzug zu seinem Arbeitsplatz ins Zentrum von Hiroschima. Auch am 6. August 1945 machte er sich auf den Weg und blieb eine ganze Woche in der Stadt. Die Großmutter – ohne Radio – dachte, es sei eine Bombardierung wie in den Monaten zuvor. Doch dieser Tag veränderte alles. Ihr Mann sprach nach seiner Rückkehr und auch später nie mit ihr über das Erlebte. Aya Domenig füllt diese Lücke mit historischen Aufnahmen vom Atombombenabwurf, Fotos der Verletzten und der zerstörten Stadt. Schließlich findet sie zwei ehemaligen Kollegen des Großvaters aus dem Krankenhaus, die ihr erzählen, wie der Abwurf der ersten Atombombe das Leben alles radikal veränderte. Diese beiden Protagonisten, ein Arzt und eine ehemalige Krankenschwester, beide inzwischen über 90 Jahre alt, sprechen offen über die Katastrophe, das Sterben der Menschen, die Hilflosigkeit der Ärzte und die große Ungewissheit. Seit Jahren engagieren sich beide gegen das Vergessen, gehen an Schulen, halten Vorträge, um über dieses große Tabu und Trauma zu sprechen. Die Großmutter als dritte Protagonistin, ergänzt Persönliches aus dem Familienleben, liest Gedichte vor, die der Großvater schrieb, öffnet das Familienalbum. Während der Dreharbeiten wird Aya Domenig 2011 vom Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima überrascht. Sie und auch die Protagonisten ihres Films erkennen deutliche Parallelen zu 1945 – wieder werden Folgen und Risiken der atomaren Katastrophe klein geredet, wieder wird möglichst viel vertuscht.
Die in der Schweiz lebende Aya Domenig wurde am Sonntag Abend für Als die Sonne vom Himmel fiel mit dem Horizonte-Preis ausgezeichnet. Das Preisgeld von 2.000,- Euro musste sie sich allerdings mit Un paese di Calabria von Catherine Catella und Shu Aiello teilen. Sie porträtieren das Dorf Riace in Kalabrien, das viele Einwohner über die Jahre verlassen hatten, auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand in den Norden zogen. Doch im Sommer 1998 wendet sich das Schicksal, als ein Schiff mit 200 Kurden dort strandet; die Menschen bleiben, finden eine neue Heimat, ziehen in die leerstehenden Häuser. Das Leben und die Hoffnung auf eine Zukunft kehren in den Ort zurück. Doch auch dort schüren Politiker rassistische Ressentiments, wollen den linken Bürgermeister abwählen. Gelebte Utopie und die neue Rechte prallen aufeinander. Die Jury zeichnete beide Filme aus, Laudator Matthias Helwig überraschte die Entscheidung nur kurz, denn es gab nur eine Plakette, die er Aya Domenig in die Hand drückte und die beiden Regisseurinnen Catherine Catella und Shu Aiello erhielten Blumensträuße und das Versprechen: »Der Preis wird nachgeliefert.«
»Ein ganz besonderes Publikum«, verspricht Festival-Macher Matthias Helwig vorab den Gästen, das höflich und neugierig sei, echte Fragen stelle und interessiert an den Filmen und ihren Regisseuren sei. Die Höflichkeit zeigt sich während des Films, denn an der Kasse und beim Einlass wird genauso gedrängelt wie in München oder Berlin. »Ich habe vorbestellt, ich muss mich doch nicht anstellen?«, ist immer wieder in der Schlange zu hören. Wenn das Licht ausgeht und der Film anläuft, verstummen die Gespräche im Kinosaal, es wird weniger geschwatzt als in der Großstadt. Auch die Geduld scheint größer zu sein, denn nur wenige verlassen den Saal, selbst wenn ihnen, beispielsweise Wild dann doch etwas zu wild wird. Leises Seufzen und Kopfschütteln, Augen zuhalten – höfliche Zurückhaltung in Starnberg. Als Nicolette Krebitz nach dem Film mit Festivalleiter Matthias Helwig zum Publikumsgespräch in den Saal kommt, bleiben die meisten, bestaunen die Regisseurin aus Berlin und wollen von ihr wissen: »Wie war das mit dem Wolf?«, »War der wirklich echt und wild?« »Ja.« Krebitz beantwortet geduldig alle Fragen, erzählt, wie sie die Idee zum Film träumte, wie lange sie brauchte, eine Produzentin zu finden und die Finanzierung zu stemmen, wie sie die Hauptdarstellerin fand. Gerne würde sie ausführlicher über ästhetische Details sprechen, doch die Zuschauer fragen immer wieder nach dem wilden Tier und Krebitz muss immer wieder von den Dreharbeiten mit einem Rudel echter Wölfe berichten. Doch der Regisseurin scheinen diese Fragen Spaß zu machen, denn sie plaudert geduldig und gut gelaunt mit dem Publikum, verrät Tricks und Pannen vom Dreh. Ob das daran liegen mag, dass sie auch eine gute Schauspielerin ist?
Pfarrstadl Weßling, Gasthaus Schuster in Hochstadt, Südbad in Tutzing, Schlossberghalle, die Breitwand-Kinos in Starnberg und Schloss Seefeld, ein Kino in Landsberg sowie ein Schiff auf dem Starnberger See – das Angebot klingt toll – nur – wie kommen Besucher ohne Auto dort hin? Der Shuttle-Bus fährt nicht alle Ziele an, das eigene Fahrrad steht in einem München Hinterhof. Nachfragen – nein, es gibt leider keinen Shuttle nach Landsberg und am Sonntag Vormittag fährt auch niemand zum Werkstattgespräch aus der Reihe „Drehbuch“ mit Nicolette Krebitz und Sebastian Schipper nach Seefeld. Die App der Bahn liefert niederschmetternde Infos: Starnberg und Seefeld trennen rund 15 Kilometer. Mit der S-Bahn dauert die Fahrt über eine Stunde, weil es erst zurück nach München geht, dort muss man umsteigen und dann wieder Richtung Süden fahren. Mit dem Auto bräuchte man für die Strecke etwa 20 Minuten. Und jetzt? Es wäre schön gewesen, Absolute Giganten und Victoria in Landsberg noch mal zu sehen (Fahrzeit mit der Bahn zwei bis drei Stunden, je nach Strecke) und zu hören, was die beiden Regisseure und Schauspieler zu erzählen hätten. Doch ein Wochenende im Zug statt im Kino zu verbringen klingt wenig verlockend, also erstmal an den Starnberger See gehen, überlegen, ein Eis essen und sich dann für eine pragmatische Lösung entscheiden – Sommerfrische am See statt Shuttle-Stress. Dann das Programmheft nochmals durchforsten. Die Filmfülle birgt eine Tücke – wie pendelt man ohne Auto zwischen den Orten? Sich das nächste Mal entweder für einen Ort entscheiden oder das Rad mitnehmen, das könnte die Lösung sein. Oder eben eine Pause am See.
10. Internationales Fünf Seen Film Festival, 27.7.-7.8.2016
Diverse Spielorte, darunter Kino Breitwand Starnberg, Schloss Seefeld und Herrsching