Mehr als Meer: Mittelmeer |
![]() |
|
La mer du milieu von Jean-Marc Chapoulie (Foto: FID Marseille, Chapoulie) |
Mit 24 Filmen und einem gehaltvollen Begleitprogramm mit Vorträgen, Ausstellung und Kunstinstallation nimmt es sich die 12. Ausgabe der Mittelmeerfilmtage ein weiteres Mal vor, diesen für Europa, Asien und Afrika so geschichtsträchtigen Kulturraum durch Dokumentar- und Spielfilme aus den umgebenden Ländern im Kino lebendig werden zu lassen.
Die enorme Bedeutung des Mittelmeers als Begegnungs- und Erfahrungsraum, als Wirtschafts-, Handels- und Konfliktzone ist erstmals in der epochalen dreibändigen Studie »Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.« von Fernand Braudel aus dem Jahr 1949 in ihrer ganzen Tragweite und Tiefe erfasst worden. Braudel begründete eine Geschichtsschreibung der langen Dauer, der es weniger um die ereignisbetonte Historie der Haupt- und Staatsaktionen geht, sondern um die Mentalitäten und Lebensweisen der Menschen. In einem nicht so sehr nationalpolitisch als geographisch definierten Kulturraum.
Und genau in dieser Weise kann man nun bei den Mittelmeerfilmtagen eintauchen in Lebenswelten, in denen die Staatsgrenzen als künstliche Barrieren dem Bedürfnis der Menschen nach Kommunikation, Austausch und Überbrückung im Weg stehen. Begegnung der Individuen und freie Entfaltung der Einzelnen versucht sich gegen einschränkende Systeme von Ideologien und Staatsdoktrinen zu artikulieren.
Entscheidende Impulse für sein kulturhistorisches Mittelmeerinteresse erhielt der aus Lothringen stammende Braudel in seinen Jahren als Lehrer in den algerischen Küstenstädten Constantine und Algier.
Und genau dorthin, nach Algier, geht es mit dem Eröffnungsfilm Papicha (Do, 16.01., 19:00, Carl-Orff-Saal, Wiederholung Sa, 18.01., 18:30, Carl-Amery-Saal). Im Algerien
des sogenannten »schwarzen Jahrzehnts«, den 1990er Jahren, erstickten islamistische Gruppierungen das gesellschaftliche Klima zunehmend, der Staat reagierte seinerseits mit Einschränkugen der Freiheiten.
Der erste Spielfilm der bislang mit dokumentarischen Reportagen hervorgetretenen Mounia Meddour erzählt von den Bemühungen der Heranwachsenden Nedjma, sich zwischen den Fronten der Repression mit ihren Selbstverwirklichungswünschen als Frau zu behaupten. Mit
einer Modenschau an ihrer Universität trotzt sie den Widerständen, und mit der Intensität einer dicht an den Figuren filmenden, sehr beweglichen Kamera vermag die Regisseurin ihrem Spielfilm dokumentarische Lebendigkeit einzuhauchen. Die Brisanz dieses neuen Films mit einem Thema aus den 90er Jahren zeigte sich daran, dass die geplante Premiere in Algerien von den offiziellen Stellen nicht genehmigt wurde.
Ein weiterer Film aus Algerien, Jusqu'à la fin des temps (Until the End of Time) (So, 26.01., 20:30, Carl-Amery-Saal), ebenfalls von einer Regisseurin, von Yasmine Chouikh, führt dann ins Landesinnere, in eine dörfliche Umgebung, wo es um einschränkende Traditionen geht, gegen die die 60-jährige Johar aufbegehrt, wenn sie eine Zuneigung zu dem älteren Totengräber Ali fasst. Unterschiedliche Milieus im gleichen Land, beides Mal der Kampf des Individuums gegen Konventionen.
Ein zentraler Aspekt in mehreren Filmen ist die Begegnung der Kulturen verschiedener Herkünfte: The Return (Fr., 17.01., 20:00, Carl-Amery-Saal) von Kastriot Abdyli lässt den jungen Albaner Iliri aus Mazedonien nach Frankreich gehen und dort die Französin Sabine kennenlernen: Er nimmt sie zu einem Besuch in sein Heimatdorf mit, um dort die Hochzeit mit ihr zu feiern. Die ihm fremd gewordenen archaischen Familientraditionen und die Liebschaft von früher machen die Rückkehr zum Aufeinanderprall zweier Welten.
Ein fremdes Land als zufälliger Ort der Begegnung zweier Frauen aus verschiedenen Ländern – das macht den besonderen Reiz des Films Il se passe quelque chose (Something Is Happening) von Anne Alix aus (Di, 21.01., 20:30, Carl-Amery-Saal; Do, 23.01., 18:00, Carl-Amery-Saal). Die Bulgarin Irma und die Spanierin Dolores lernen sich in Südfrankreich kennen und reisen gemeinsam durch die Provence, es ergibt sich ein sensibles Road-Movie, das Perspektiven und Lebensentwürfe verschiebt und neu justiert.
Ein Syrer auf der Flucht bleibt an der türkisch-griechischen Grenze stecken und sucht Unterschlupf in einem einsamen Gehöft, wo ihn eine allein lebende Bäuerin aufnimmt: Die Rätsel um ihren verschwundenen Mann lassen in dem türkischen Film Kaçis (Die Flucht) von Kenan Kavut (Mo, 20.01., 20:30, Carl-Amery-Saal) eine geheimnisvolle Atmosphäre entstehen, die von unterschwelligen Spannungen und Sehnsüchten zehrt.
Während man in solchen narrativen Filmen mit den Figuren und ihren Lebensgeschichten konkrete Räume und Milieus erkundet, versucht Jean-Marc Chapoulie in La mer du milieu (Mittelmeer) (So, 19.01., 18:30, Carl-Amery-Saal) das Mittelmeer gewissermaßen selbst
zum Protagonisten zu erheben: als Ansprechpartner, dem von einem Kind scheinbar naive Fragen gestellt werden. Im Internet aufgefundenes Bildmaterial von Webcams und Überwachungskameras zeigt dazu die austauschbar wirkenden Nicht-Orte der Häfen, Küsten, Strände, die das Mittelmeer als Rand umgeben. In dieser quasi-dokumentarischen Einkreisung eines nicht fassbaren Phänomens in der Mitte entsteht ein unbekanntes Objekt, das jeweils neu zu definieren ist.
Jeder der Filme
der Mittelmeerfilmtage leistet dazu seinen Beitrag, geographisch, politisch, historisch, dokumentarisch, erzählerisch, poetisch oder auch komödiantisch und musikalisch.
12. Mittelmeerfilmtage
16.-26. Januar 2020
Ort: Gasteig, Carl-Amery-Saal und Carl-Orff-Saal (Eröffnung)
Eintritt: 7€ (ermäßigt 5€); Kinderfilm 3€ (Erwachsene: 4€)
Vortragsreihe Eintritt frei, Anmeldung per E-Mail
Pixel (Vortragsreihe, Party, Fotoausstellung, Kunstinstallation)
Rahmenprogramm:
So 19.01. 16:00 Uhr Lesung »Unser Meer der Sehnsucht«
Do 23.01. 18:00-22:00 Uhr Vortragsreihe »Ein flüssiger Kontinent« – Panel 1
Sa 25.01. 18:00-22:00 Uhr Vortragsreihe »Ein flüssiger Kontinent« – Panel 2
Sa 25.02. 22:00 Uhr Party
Eine Veranstaltung der Filmstadt München e.V. in Kooperation mit der Münchner Stadtbibliothek, LMU München, Centro Catala de Munic, Instituto Cervantes, Institut Français München, Istituto Italiano de Cultura, Besa Foundation, Pixel, Landeshauptstadt München Kulturreferat