35. DOK.fest München 2020
Engel der Geschichte |
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Eindrucksvoller Tanz in die Vergangenheit: The Euphoria of Being | ||
(Foto: Réka Szabó / DOK.fest@home) |
Es ist ein Trost, wenn auch mit einem komischen Beigeschmack. Am 19. April gab das DOK.fest bekannt, sich aufgrund der Corona-Krise in digitale Sphären zurückzuziehen. »Absagen oder Verschieben war keine Option«, stellte Leiter Daniel Sponsel in der Video-Pressekonferenz unmissverständlich klar. Auf den ersten Blick wirken die Einschnitte auch gar nicht so gravierend, wie man erst annehmen will: 121 Filme aus 42 Ländern werden gezeigt, davon sind 21 Welt- und 69 Deutschlandpremieren. Außerdem können alle 14 Preise vergeben werden. Was das Team hier in der kürzesten Umstrukturierungszeit leistete, hat den höchsten Respekt verdient.
Und doch bleibt da ein gewisser Wermutstropfen. Das kollektive Filmvergnügen, das Leinwanderlebnis, selbst das Hasten von Kino zu Kino bleibt aus. Streaming statt Festivalgefühl.
Nun, was kann man anderes tun, als »Es geht halt nicht anders« in die Wohnung zu seufzen? Auch ohne Festival-Atmosphäre bleibt die Filmauswahl sehenswert. Ein Wohnzimmer verwandelt sich nicht in einen Kinosaal, aber ein guter Film bleibt ein guter Film. Und beim Blick auf das diesjährige Programm zeigt sich, dass das DOK.fest noch dasselbe ist. Die großen Veränderungen der Welt zeigen sich hier ebenso, wie die Krisen im Privaten. Das Obskure des Alltags trifft auch 2020 auf globale Auseinandersetzungen.
In Sachen Aktualität sicher ungeschlagen ist dabei Corona Diaries / Corona-Chroniken von Elke Sasse. Für ihr Zeitdokument ließ sie 46 Menschen aus aller Welt ihre jetzige Lebensrealität mit dem Handy filmen, darunter Krankenhauspersonal, Künstler oder LKW-Fahrer. So viel man auch derzeit mit News zur Krise überschüttet wird, hier lohnt es sich, nochmal genau hinzuschauen. Aus dieser Nähe erlebt man den Alltag der Anderen selten.
Auch wenn es sich so anfühlt, die restlichen Baustellen der Welt stehen trotzdem nicht still. Zhou Bing porträtiert in Hong Kong Moments die dortige Demokratie-Bewegung, Maciej Cuske setzt sich in The Whale From Lorino mit dem heißen Eisen des Walfangs (in Sibirien) auseinander, Christian Labhart stellt mit Passion – Zwischen Revolte und Resignation die Frage, was aus den Idealen der 68er Generation in der heutigen Welt geworden ist. Wo es um Krisen geht, ist auch Trump nicht weit. #Unfit. The Psychology of Donald Trump ist ein Warnsignal im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen. Dan Partland lässt Expert*innen zu Wort kommen, die in ihrem Präsidenten mehr als einen Proll oder Idioten sehen, sondern einen psychisch kranken Menschen, dem man dieses Amt nicht hätte anvertrauen dürfen. Diese Detail-Beobachtung ist es, was den Film interessant macht und von allzu leichtfertiger Polemik abhebt, ohne zu verwässern. Auch wenn der Erkenntnisgewinn in der zweiten Hälfte leicht stagniert, #Unfit ist ein aufrüttelnder (und doch unterhaltsamer) Beitrag.
Zum 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation hat sich das DOK.fest dem schwerwiegenden Thema der Vergangenheitsbewältigung gewidmet. Dabei war es eine intelligente Entscheidung, sich hier vor allem mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen zu beschäftigen. Schon der Eröffnungsfilm The Euphoria of Being ist ein besonderes Erlebnis. Die ungarische Choreografin Réka Szabó inszeniert ein Tanzprojekt mit der Holocaust-Überlebenden Éva Fahidi, die sich ihrem Trauma mit Kraft der Kreativität stellt. Diese Personalisierung macht die Grauen von damals vielleicht um einiges direkter erfahrbar als die gängige historische Herangehensweise. Denn auch wenn man sieht, wie die 90-jährige Dame in den Proben mit ihrer erheblich jüngeren Partnerin aufgeht, die Belastung durch die Erlebnisse bleibt immer spürbar. Trotzdem zeigt The Euphoria of Being, dass auch ein Leben mit einer solch unvergleichlichen Bürde möglich ist. In anderen Filmen der Reihe wie Displaced (R: Sharon Ryba-Kahn), It Takes a Family (R: Susanne Kóvacs) und La Casa de Wannsee (R: Poli Martínez Kaplun) befassen sich die Nachkommen der jüdischen Opfer mit ihrer Vergangenheit und ihrer jetzigen Stellung und Verantwortung. Ein besonders heikles Thema spricht die Arbeit Endlich Tacheles von Jana Matthes und Andrea Schramm an. Ein Game-Designer wird hier bei seinem Vorhaben begleitet, für die junge Generation den Holocaust als Videospiel zu verarbeiten. In Zeiten von sterbenden Zeitzeugen und unaufhaltsamer Digitalisierung ein Vermittlungsmodell? Eine schwierige Diskussion, aber eine notwendige. Übrigens ein besonderes Highlight der Reihe: Anders Østergaards Dokudrama Winter Journey, in der er die Flucht seiner jüdischen Eltern nachzeichnet. Man sieht hier den 2019 verstorbenen Bruno Ganz in seiner letzten Rolle. Mit ihm rekonstruiert Østergaard die Gespräche mit seinem eigenen Vater, der begnadeter Musiker und Teil des jüdischen Kulturbundes war und als Zahnrad in die Propaganda-Maschinerie der Nazis geriet.
Wie man hier schon an einigen Beispielen sieht, ist es oft die Nähe zu den Protagonisten, die die Besonderheit eines Films auszeichnet. Selbst, wenn es wehtut, wie in The Self Portrait von Margreth Olin, Katja Hogset und Espen Wallin. Das Regie-Trio porträtiert darin die verstorbene Fotokünstlerin Lene Marie Fossen, die ihren eigenen, von Anorexie geschundenen Körper immer wieder in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellte. Bettina Böhler hat sich in Schlingensief – Ins Schweigen hineinschreien (hier geht es zur ausführlichen artechock-Kritik) ebenfalls einem viel zu früh verstorbenen Künstler gewidmet. In einer vielseitigen Sammlung von Film-, Fernseh- und Interview-Schnipseln zeigt sie das deutsche Regie-Enfant-terrible Christoph Schlingensief, wie man es in Erinnerung behalten sollte: lebendig, niemals leise und immer am Puls der Zeit. Da der Kinostart den Schließungen zum Opfer fiel, sollte diese Chance genutzt werden. Aus der heutigen Kunstwelt ist auch der Name Ai Weiwei nicht wegzudenken, der in jüngerer Vergangenheit leider mit eher peinlichen Statements von sich reden machte. Sein Beitrag Vivos verspricht jedoch wieder, ein Ausdruck seines kritischen, anklagenden Geistes zu werden. In dem Film geht es um die bis heute nicht aufgeklärte Entführung von 43 Studenten des mexikanischen Dorfes Ayotzinapa. Vivos lässt die Angehörigen zu Wort kommen, die sich angesichts der institutionellen Gewalt in ihrem Land machtlos wähnen, doch trotzdem ihre Stimme erheben.
Von der Suche nach Antworten erzählt auch Tim Boehmes Die Heimreise. Der 38-jährige Bernd Thiele, durch die Alkoholsucht seiner Mutter während der Schwangerschaft und den Aufenthalt in Heimen und bei Pflegefamilien geprägt, macht sich auf die Suche nach seiner wahren Herkunft. Was nach einer schweren Thematik klingt, entpuppt sich schon im Trailer als skurriles, aber herzerwärmendes Road-Movie mit grundsympathischen Figuren, die so nur wenige Drehbuchautoren erfinden könnten. Schatzsucher nach dem Obskuren im Alltag führen Alexandra Pianelli mit Le Kiosque nach Paris. Der kleine Kiosk ihrer Mutter wird hier gleichzeitig zur Theaterbühne, zum Museum und zum Nachbarschaftstreff. Es ist faszinierend, wie Banalitäten beim Zusehen zur Sozialstudie werden und die Menschen, an denen man täglich vorbeiläuft, zu großen Erzählern. Das schafft wohl auch nur die Kamera.
Und ja: Wir würden das alles gern im Kino sehen. Denn so richtig gebannt ist man in erster Linie im Dunkeln vor der Leinwand. Der Austausch danach ist mit Skype auch nicht derselbe, ganz zu schweigen vom Zuprosten durch die Webcam. Trotzdem sollte man nicht resignieren und den Computer hochfahren. Nicht nur wegen des eigenen Filmgenusses, sondern auch weil man beim Kauf eines Online-Tickets die Gelegenheit hat, 1 Euro für die geschlossenen Partnerkinos zu spenden. Und im Großen und Ganzen kann man ein Programm, das über jeden Virus erhaben ist, überall genießen.