Trigger-Warnung vor Stroboskop-Filmen und Denk-Aerosolen |
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Endzeitstimmung ist vielleicht auch ein bisschen romantisch – der Eröffnungsfilm N · P der flämischen Fotografin Lisa Spilliaert | ||
(Foto: Escautville) |
Von Dunja Bialas
Zum 15. Mal UNDERDOX … wir hatten uns unser Jubiläumsjahr eigentlich ganz anders vorgestellt. Zuerst mussten wir die für den 18. Juni 2020 geplante UNDERDOX Halbzeit wegen Corona absagen. Dann brach die Digitalwelle über uns herein. Streamen war plötzlich State of the Art. Was aber bringt es – für die Filme wie für die Zuschauer – einen Experimentalfilm im Cinemascope-Format digital auszustrahlen? Wir stellten uns die Leute in ihren Wohnzimmern vor, wie sie auf ihren Laptop oder im besten Fall übergroßen TV-Bildschirm starren, während Stroboskop-Filmschnipsel und Found Footage auf sie einprasseln. Und auch wenn wir unseren Filme bewusstseinerweiternde Wirkung zuschreiben, sie als Eye Opener bewerben und das Festival insgesamt als eines, »das die Augen öffnet«, hurra! – da müsste man schon vorab etwas eingenommen haben.
Die Widerständigkeit des Experimentalfilms und noch mehr die Unbezähmbarkeit des analogen Filmmaterial durch das Digitale waren für uns Grund genug, alles auf die physische Karte zu setzen und ein Festival zu planen, das im Kino mit realen Gästen stattfindet. In den letzten Wochen wurden wir immer wieder gefragt, warum wir das machen. Alles sei doch unwägbar, dann nur die eingeschränkten Sitzplätze im Kino, die Hygienemaßnahmen, die Angst der Leute, die deshalb gar nicht ins Kino gehen zur Zeit. Streamen wäre doch, Bewusstseinserweiterung hin oder her, die bessere Alternative. Außerdem sollten wir uns das mit den Gästen doch wirklich noch mal überlegen, zumal jetzt alle aus den Risikogebieten anreisen: aus Spanien, aus Belgien, aus Berlin.
Unsere Antwort darauf heißt schlicht und ergreifend: Wir machen, weil wir es können. Die Corona-Hygienemaßnahmen sind natürlich ein restriktiver Eingriff in einen Festivalbetrieb. Andererseits aber sind sie auch eine Ermöglichungsstruktur, die uns erlaubt, im gegebenen Rahmen eben all dies zu tun: Gäste einzuladen, Filme im Kino zu zeigen. Ist man nicht söderiger als Söder, päpstlicher als der Papst, wenn man strengere Maßstäbe als die Altvorderen anlegt, die mit »Umsicht und Vorsicht« (Söder) die Maßnahmen beschlossen haben, um ein kulturelles Leben möglich zu machen?
Kultur findet nicht im World Wide Wohnzimmer statt, Kultur ist mehr als Filme zeigen (oder streamen), davon sind wir überzeugt.
Die große Leinwand, die Konzentration auf die Filme im Dunkeln, schulden wir außerdem unseren nichtnarrativen Filmkunstwerken. Sie haben sich auf das »Experimentierfeld der Wirklichkeit« begeben, so haben wir es einmal formuliert, als Grenzgänger zwischen dem Dokumentar-, Experimental-, Spiel- und dem Kunstfilm. Keine Schublade auszufüllen zeichnet sie aus, ein Phänomen, das 2006, als Bernd Brehmer vom Werkstattkino-Kollektiv zusammen mit mir, artechock-Filmkritikerin, UNDERDOX gründeten, noch ganz neu war. Mittlerweile gehört es fast schon zum guten Ton, den Reiz des Verbotenen – gegen die Formate zu filmen, gegen die Klassifizierung zu handeln – genussvoll auszuloten.
Unserer jetzt schon langen Festival-Tradition treu bleibend, zeigen wir dieses Jahr – nach den großen Avantgarde-Filmemachern Peter Kubelka und Michael Snow, mit denen wir seit 2013 diese Reihe verfolgen – Filme der eminenten Experimentalfilmemacher Peter Tscherkassky und Eve Heller in einer Lecture, in der sie ihre Arbeitsweise und ihr Werk vorstellen. »Eye Opener« nennen wir es, wenn Tscherkasskys mächtige Filmexperimente auf 35mm im CinemaScope-Format die ganze Leinwand erfüllen und mit der gewaltigen Tonspur ein zwingendes Immersionserlebnis erwirken, bis die Subwoofer in die Knie gehen. Eve Heller ist Wegbegleiterin des amerikanischen Avantgardisten Phil Solomon, zu dem sie ebenfalls eine Lecture halten wird. Sie ist Tochter einer Münchnerin, die unter den Nationalsozialisten in die USA emigriert ist, und zeigt ihr Werk zum ersten Mal in der Landeshauptstadt. Die ganze Familie wird da sein.
Deutsche Geschichte steht im dreißigsten Jahr nach der Wiedervereinigung auf der Tagesordnung aller möglichen Gedenk- und Festveranstaltungen. Es kann durchaus als ein Beitrag in diese Richtung verstanden sein, wenn UNDERDOX Ute Adamcziewskis preisgekröntes Filmessay Zustand und Gelände zeigt, in welchem sie der geschichtsvergessenen Weiternutzung und Umwidmung von sogenannten »wilden Konzentrationslagern«, die im Osten Deutschlands früh in den 1930er Jahren entstanden, nachgeht und zumindest eine Ahnung gibt, weshalb der Rechtsextremismus wieder zu einem massiven Szenario werden konnte. Auch Brot, Rache? von Stefan Hayn ist eine besondere Geschichtsverarbeitung. Seine (deutschen) Schauspieler lesen die Texte des Widerstandskämpfers Robert Antelme, im französischen Original. Sein Buch »Das Menschengeschlecht« (1947) gilt als eines der ersten Zeugnisse, die über die Verbrechen der NS-Zeit abgelegt wurden.
Neben diesen beiden historischen Filmen befassen sich die UNDERDOX-Filme auch mit hochaktuellen Themenfeldern. Globalisierung ist immer auch lokal spürbar, so zeigt Piqueuses, der neue Film von Kate Tessa Lee und Tom Schön. Auf Rodrigues haben sie die Oktopus-Fischerinnen besucht. Sie sind faktisch arbeitslos geworden, der Klimawandel und die veränderten, modernen Lebensweisen haben sie gewissermaßen aussortiert. Wunderschön fotografiert von Kate Tessa Lee, die selbst aus Mauritius stammt.
Vielleicht sind wir ja ein wenig sentimental, was das Fortschreiten der Zeit anbelangt. Wie VHYes von Jack Henry Robbins (Sohn von Susan Sarandon und Tim Robbins), der wiederum äußerst vergnüglich 80er-Jahre-TV-Sendungen kompiliert, Homeshopping-Clips, Soft-Pornos, Malanleitungen, eben alles Niederschmetternde, was im Zeitalter der Schulterpolster und Aerobic-Moves in die Wohnzimmer gespült wurde und heute kultverdächtig ist.
Auch unser Eröffnungsfilm, N · P, der flämischen Fotografin Lisa Spilliaert, hat eine heiter-melancholische Stimmung, die uns gut in dieses Jahr zu passen scheint. Ihr Film ist stumm, d.h. die Dialoge werden durch Untertitel eingeblendet, während die Figuren dann ohne Ton reden. Ansonsten hört man viel: die Originalgeräusche, die Musik von Asuna, Wolf Eyes und Stacks. Ein melancholisches Entrücksein geht von dem Film aus, außerdem die Unübersetzbarkeit von Stimmungen in Sprache. Ein träumerisches Unterfangen.
Am Ende des Films sitzen die Figuren am Lagerfeuer zusammen. Es ist ein romantisches Bild, nachdem sie alle Möglichkeiten des Todes ausgelotet haben. Auch das passt gut in dieses Jahr: Irgendwo verspüren wir diese Endzeitstimmung, die Apokalypse, die »Naturkatastrophe in Zeitlupe« (Christian Drosten). Wie bei den Melancholikern findet sich Trost nur in der Philosophie.
Und genau wie die Protagnisten von N · P wollen wir UNDERDOX-Macher wieder mit Menschen zusammensitzen und gemeinsam Filme sehen. Denn das ist unserer Auffassung nach Kultur: die kultische Zusammenkunft der Menschen für ein besonderes ästhetisches Erlebnis. Das klingt zwar nicht besonders modern. Aber eine Trigger-Warnung ist dennoch angebracht: Denk-Aerosole sind besonders infektiös.