Ein anderes Kino ist möglich |
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»Erzählerische Landschaftsgestaltung«: Eden’s Edge |
Von Dunja Bialas
Von Dunja Bialas
UNDERDOX begann 2006 aus dem Gefühl einer Notwendigkeit heraus. Grenzgängerisch und traumtänzerisch, ideologisch und idealistisch stellten wir uns mit einem Anfangsetat von 1200 Euro neben das Dokumentarfilmfestival und das Filmfest und zeigten Filme, die sonst keiner zeigen wollte. Filme, die für ein Publikum in München fragwürdig schienen: Wie für einen Dokumentarfilm Interesse wecken, dessen Thema schwer greifbar ist? Wie einen Spielfilm bewerben, der sich dem
Storytelling verweigert und nur noch zeigt und beschreibt? Der womöglich gar keinen Plot hat und bei dem es keine Dialoge gibt?
Die definierten Grenzen der Filmgenres hinterfragen und auflösen: Dies war eine auf den internationalen Festivals beobachtbare, völlig neue Richtung, die seitdem immer mehr Filme beschreiten. Wir griffen sie von der Seite des Dokumentarfilms her auf – die dokumentarische Geste liegt allen UNDERDOX-Filmen zugrunde – und nannten die
Formenhybridisierung, die in ihnen stattfindet, allgemein »Experiment«. Daraus entstand der Untertitel »Dokument und Experiment«.
Im ersten Jahr fand UNDERDOX, noch weitgehend unbemerkt, nur im Werkstattkino statt. Das Gründungsjahr war womöglich unser radikalstes. Wir sprachen von der Dauer als letzter dem Kino verbliebener Provokation und zeigten Lav Diaz zehnstündiges Meisterwerk EVOLUTION OF A PHILIPPINO FAMILY.
Auf unserem Programmflyer waren nur die Titel und Regisseure der Filme aufgeführt, ganz
als stünden sie für sich, wie Harry Potter oder James Bond. Festivalmotiv war ein abstrakter Stempeldruck aus dem Studio Rossi & Liberatore, der, je nachdem, wie man ihn hielt, aussah wie eine Madonna in langem Gewand oder ein Flaschenöffner mit erigiertem Riesenpenis.
Im dritten Jahr fanden wir Aufnahme im Münchner Filmmuseum. Das Werkstattkino, einstehend für die vernachlässigten Randgebiete der Filmgeschichte, und das Filmmuseum, Ort von Hochkultur und Kanonisierung, sind nicht nur die Kinos, die uns selbst maßgeblich geprägt haben. Sie stehen ein für die Bandbreite des UNDERDOX-Programms, das sich in aktuelle Filme, ein Retroprogramm, oftmals als »Lost & Found«, einen Länderschwerpunkt und »Artist / Filmmaker in focus« gliedert. Im Filmmuseum begannen wir mit der »Halbzeit« im Frühjahr 2008, die wir seitdem zusätzlich zu unserer Festivalwoche im Oktober durchführen, zwei bis vier Tage, um einem einzelnen Filmemacher dadurch besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Trotz des No-Budget-Etats verstand sich UNDERDOX von Beginn an als veritables Festival, mit einer zweisprachigen Website und einem ebensolchen Katalog, von Gisela Müller und Kathrin Herwig in die Welt gebracht, die das neue Festival unterstützen wollten. Das Impressum der ersten Jahre gleicht indes den Credits vieler Filme aus unserem Programm: zwei Personen, die nahezu alles machen, Filmauswahl, Textredaktion, Anzeigenakquise, Öffentlichkeitsarbeit. Seit ein paar Jahren sehen wir uns erweitert um Florian Geierstanger, der das Festival in Filmauswahl und konzeptionellen Ideen mitgestaltet.
Seit unserer Aufnahme bei der Filmstadt München e.V. in unserem fünften Jahr wuchsen wir von No-Budget zu Low-Budget, in etwa im Sinne des französischen Avantgarde-Filmemachers Jean-Claude Rousseau, der uns bei der Werkschau seiner Filme im vierten Jahr von UNDERDOX mit auf den Weg gab: »You have to grow.«
Mittlerweile steht das Festival für ein weiterhin radikales und in Cineasten- wie Kunstkreisen große Zustimmung findendes Programm.
UNDERDOX ist: den veränderten Aggregatzuständen des Dokumentarischen begegnen, im Spielfilm, der Videokunst und im Dokumentarfilm. Es geht dabei nicht mehr um die Dokumentationen von Wirklichkeit, es geht um das Experiment »Film« auf dem Spielfeld der Wirklichkeit.
Einen Bogen von der Tradition zur Gegenwart zu spannen, aus dem sich die Zukunft des Kinos neu denken lässt, unternimmt seit zehn Jahren das internationale Filmfestival UNDERDOX. Wir verbinden in unserem Eröffnungsprogramm den Experimental- mit dem Spielfilm, und verweisen darauf, dass in die Zukunft nur mit der Kenntnis der Vergangenheit gereist werden kann. Junge, international beachtete Regisseure entwerfen spätestens seit El futuro von Luis López Carrasco (9. UNDERDOX) die Zukunft des spanischen Kinos neu. Es ist eine aufstrebende Generation, die inmitten der nationalen Krise ein ausgeprägtes Bewusstsein für neue Erzählformen und unkonventionelle Geschichten manifestiert. Wir eröffnen unsere Jubiläumsausgabe mit Der
Geldkomplex von Juan Rodrigáñez und präsentieren als weitere Position Sueñan los androides von Ion de Sosa.
Ergänzt und erweitert wird das Programm durch zwei Linien, die aus der gegenwärtigen Topographie Spaniens hinausführen. Favula des Argentiniers Raúl Perrone ist inspiriert durch die Stummfilme von Georges Méliès und Fritz Lang und gliedert sich in die neue experimentelle Welle des Weltkinos ein. Toponimia des Argentiniers Jonathan Perel sieht sich in der Tradition der Architekturfilme Heinz Emigholz' und zeichnet die Spuren einer Architektur der
Diktatur nach. Als historische Fluchtlinie der Zukunft des Kinos zeigen wir den 1992 entstandene Dokumentarfilm El sol del membrillo von Víctor Erice, ein Meisterwerk des Unvollendeten.
Diesjähriger Artist in Focus ist der Franzose Nicolas Boone. Ins Zentrum seines Werks
stellt Nicolas Boone meist eine Gruppe von Laiendarstellern, die, choreographiert als kompakter Schwarm oder Korpus, Räume durchqueren. Boones mobile Plansequenzen entstehen in Improvisation, bereit, die Zufälle der realen Umgebung aufzunehmen. Sein kontinuierliches Kamera-Travelling erforscht urbane Räume oder entleerte Landschaften, die unter dem Agieren der Menschen zu
Topographien der Sehnsucht, der Armut oder des Terrors werden. Die Bewegung im Raum gerät zur inszeniert-dokumentarischen Bestandsaufnahme urbaner Absurdität (Bailu Dream), ist reines Hier und Jetzt der Schauspielperformance (HILLBROW), oder zeigt den kollektiven Exodus in eine ungewisse Zukunft, deren Horizont jede Utopie verweigert (Psaume).
Die Kunst bleibt... bleibt..., rief der New Yorker Avantgarde-Filmemacher Jack Smith im Jahr 1974 lauthals auf der Kölner Kunstmesse „Kunst bleibt Kunst“. Sein Auftritt wurde von Fernsehkameras aufgenommen und blieb für immer der Nachwelt erhalten. Wilhelm Hein hat Smiths überbordenden verbalen Auswurf zum Titel seines monumentalen Werks erhoben, an dem er seit über zwanzig Jahren arbeitet und das 2013 zu einem (vorläufigen) Abschluss gefunden hat. Als work in progress integriert und assembliert die Montage kontinuierlich unterschiedliches Filmmaterial zu einem großen Collagenwerk: Found Footage, filmische Tagebuchskizzen, Portrait-Aufnahmen von Wegbegleitern und Freunden, Banales und Sublimes, Erotisches und nature morte erschaffen ein Kaleidoskop der Obsessionen und unserer Existenz, mit den Mitteln des Experimentalfilms und der radikalen und vitalen Geste des Underground.
Das UNDERDOX Filmfestival gastiert mit der Sektion VIDEODOX abermals in der Galerie der Künstler. Für seine Jubiläumsausgabe unter dem Motto »Wir feiern 10!« blickt das Festival zurück auf eine vitale Videokunst-Szene in München. Im Zentrum von VIDEODOX 2015 steht die Präsentation von über zwanzig ausgewählten Arbeiten aus der ehemaligen spiegel-Mediathek der Lothringer13 (1997 bis 2010). Historisch getreu werden sie von VHS auf Röhrenmonitoren gezeigt.
Expedition Medora
heißt die Gruppe aus Künstlerinnen verschiedener Nationalitäten, die sich 2005 in München formierte. Von den ehemals sieben Mitgliedern sind heute noch Shirin Damerji, Claudia Djabbari, Andrea Faciu, Sandra Filic und Peggy Meinfelder in der Gruppe aktiv. VIDEODOX präsentiert einen Ausschnitt aus ihrem vielseitigen Schaffen.
Die Münchner Künstlerin Christina Maria Pfeifer hat eigens für VIDEODOX eine Videoarbeit geschaffen und bringt sie in einer Performance als Kunstfigur
»Cy-born« live zur Aufführung.
1. Wir programmieren gleichermaßen Dokumentar-, Experimental-, Essay- und Spielfilme und ihre erdenklichen Zwischenformen.
2. Wir projizieren Filme im Originalformat. 16mm, 35mm und die digitalen Formate sind uns gleichermaßen willkommen. Wir geben keinem filmischen Format den Vorzug und schließen keinen Film aufgrund seines Formats aus.
3. Wir huldigen dem überlangen Film. In Zeiten, da Fernseh-Serien auf Festivals als Kino-Formate präsent sind, gilt uns die originär kinematografische Langform als bewusst gesetztes programmatisches Statement.
4. Wir schicken Filme in keinen Wettbewerb. Uns geht es um die kuratorische Sorgfalt und den inneren Dialog, die die Filme im zusammengestellten Programm entfalten. Fluchtlinien, Verzweigungen, Abzweigungen und zurückgeworfene Echos wirken auf die einzelnen Filme als Verstärker ihrer Kunstform.
5. Äußere Parameter sind für die Programmierung nicht entscheidend. Themen-Relevanz, Produktionsland, Länge der Filme, Bekanntheitsgrad des Regisseurs sind für sich genommen keine Kriterien.
6. Uns geht es nicht darum, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, noch um die »Branche«. Uns sind die Filme und ihre Machart wichtig, ihre oft eigenwillige Annäherung an die Wirklichkeit. Unsere Programmierung enhält die Propositionen für ein anderes Kino.
7. Festivals brauchen Mehrseitigkeit. Festivals sind die Ausstellungsplattform für Filme. Ohne diese wiederum wären Festivals obsolet. Weder Filme noch Festivals sollten sich daher parasitär dem Gegenüber verhalten. Wir zahlen Screening Fees im Rahmen unseres Budgets und verlangen von den World Sales Companies Entgegenkommen.
8. Wir haben eine strenge Tür. Wir sehen die Filme im Kino, entweder auf Festivals oder gemeinsam bei Sichtungsterminen. Wer ins UNDERDOX Programm will, muss unserem seit Jahrzehnten geschulten Blick als Cineasten, Kinobetreiber und Filmkritiker standhalten.
9. Wir brauchen keine Premieren. Wir widersetzen uns der Premierenpolitik von Festivals, aber wir führen unsere Filme erstmalig in München vor.
10. Wir sind keine Einzelkämpfer. Wir pflegen die Partnerschaft und Freundschaft zu anderen Festivals mit einer ähnlichen Programmphilosophie wie wir. Wir stehen im Kontakt und im Austausch mit der Viennale, dem Filmfestival von Rotterdam, dem Festival von Marseille, dem Forum der Berlinale, mit Bildrausch in Basel, dem Nürnberger Festival der Menschenrechte.
Die Autorin leitet seit zehn Jahren zusammen mit Bernd Brehmer das UNDERDOX Festival.
10. UNDERDOX Filmfestival 8. bis 15. Oktober 2015, Filmmuseum München, Werkstattkino, Theatiner, Galerie der Künstler
Weitere Informationen: www.underdox-festival.de