71. Berlinale 2021
Jury's Werk und Teufels Beitrag |
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Eine Preisentscheidung so grotesk wie konsequent | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»The observing mind is not the physical system, it cannot interact with any physical system.« – Erwin Schrödinger
Oh wenn die Jury doch gewürfelt hätte! Die Entscheidung hätte nicht schlechter ausfallen können, als bei den durch und durch absurden Preisentscheidungen an diesem Freitag.
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Der Goldene Bär für den Besten Film geht an: Bad Luck Banging or Loony Porn von Radu Jude.
Der Silberne Bär / Großer Preis der Jury an Gûzen to sôzô (Wheel of Fortune and Fantasy) von Ryusuke Hamaguchi; Silberner Bär Preis der Jury: Herr Bachmann und seine Klasse von Maria Speth, der »Silberne Bär« für die Beste Regie an Dénes Nagy für Natural Light, der Silberne Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle an Maren Eggert in Ich bin dein Mensch von Maria Schrader, für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle an Lilla Kizlinger in Forest – I See You Everywhere von Bence Fliegauf; der Silberne Bär für das Beste Drehbuch an Hong Sangsoo für Introduction, und der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung an Yibrán Asuad für die Montage von Una película de policías (A Cop Movie) von Alonso Ruizpalacios
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Unglaublich! In fast jeder Hinsicht sind es schlimme Preise, die die Hauptjury im Hauptwettbewerb der Berlinale vergeben hat.
Man musste bei dieser Jury-Zusammensetzung mit allem rechnen. Trotzdem!
Hier haben wir eine Jury, in der drei Osteuropäerinnen sitzen, sowie ein Dokumentarfilmer. Eine Jury, in der nur Regisseure sogenannter »kleiner« und »humanistischer« Filme sitzen. Kein Wunder, dass der Film, der am meisten ein Exploitation-Film ist, dann diese Berlinale gewinnt.
Diese Preisentscheidung ist so grotesk wie konsequent: Denn es sind wirklich fast alle Filme, die erzählerisch irgendetwas wollen, die irgendwie eine kleine Idee haben, die über die Abbildung einer schlechten Wirklichkeit hinausgeht, leer ausgegangen.
Und der Fokus auf Osteuropa ist ebenfalls durchschaubar. Bei drei Regisseurinnen aus Osteuropa. Im Ergebnis gibt eine rumänische Regisseurin einem Rumänen den Hauptpreis, eine ungarische Regisseurin gibt zwei Ungarn zwei Preise, nur die post-jugoslawische Regisseurin konnte keinem Film aus Ex-Jugoslawien Preise geben – weil es keinen gab.
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Schon überraschender an diesen politisch korrekten Preisen ist, dass man das Gefühl hat, dass wieder fast nur Männer Filme machen, Frauen dafür dann aussehen und vor der Kamera spielen.
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Boshaft könnte man jetzt auch kommentieren: Die drei Frauen aus Osteuropa wollten Céline Sciamma keinen Preis geben, weil Sciamma erfolgreicher ist, als alle drei zusammen. Sozialneid und Kunstneid wären dann die Motive. Oder sie denken einfach, dass Sciamma ja schon so viele Preise gewonnen hat, dass sie nicht noch welche braucht – was man mit einem gewissen Recht denken kann, aber auch nicht intelligenter wäre. Im Übrigen muss man auch sagen, dass es mit dieser Art von nachgeholtem Widerstand, und gefühlt 100 Jahre altem poststalinistischen Kino jetzt endlich mal ein Ende haben muss. Die immer gleichen Geschichten über Tribunale, über Überwachung, über Selbstkritik, über sozialen Druck, sie sind nicht interessant. Radu Jude verkörpert nicht das Beste, sondern eher das Schlechteste am rumänischen Kino. Nämlich Exploitation.
Der ungarische Kriegsfilm ist auch politisch indiskutabel in seiner moralischen Gleichsetzung von antifaschistischen Partisanen und faschistischer Miliz. Das ist groß-bürgerliches Orban-Kino, mag sich hier jemand auch augenzwinkernd als Widerstandskämpfer positionieren.
Wir reden immer gerne von Postkolonialismus und vom Dekolonialisieren. Vielleicht sollte man langsam anfangen, das osteuropäische Kino zu dekolonialisieren, es zu befreien von der Pflicht zum nachgeholten Widerstand, ihm helfen, aufzuhören mit diesen immer gleichen Gesten, Gesten, die vor allem für ein westeuropäisches Publikum gemacht sind und die vor allem bürgerlichen Festivalbesuchern ein gutes Gefühl geben sollen.
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Es scheint, als hätte die Jury auch nicht verstanden, dass der Gewinner-Film eigentlich als Witz gemeint ist, und als hätte sie einen Film ernstgenommen, der gar nicht ernstgenommen werden will. Oder es geht nur um so etwas wie nationalen Patriotismus.
Völlige Unkenntnis hat die Jury offensichtlich auch im Fall des wieder mal quasi automatisch ausgezeichneten koreanischen Regisseurs Hong Sang soo, der offenkundig machen kann, was er will und in jedem Fall einen Preis bekommt. Dass er aber diesmal den Preis für das beste Drehbuch bekommen hat, ist selbst ein grotesker Witz, denn er macht immer den gleichen Typ Filme, er arbeitet teilweise auch bekanntermaßen nicht mit einem festen Drehbuch, sondern improvisiert. Hier wollte man offenbar einfach noch einen Preis vergeben an einen Film, der für einen anderen nicht in Frage kam, oder sich als Jury einfach wichtigmachen.
Auch das Festival, die Berlinale, wird mit diesem Goldenen Bären beschädigt und mit den anderen Preisvergaben.
Zudem: Der typische Berlinale-Wettbewerbs-Film bleibt auch in der Post-Kosslick-Ära der gleiche, schlechte: Es ist in erster Linie ein humanistischer, ein Film, dem es in erster Linie um Thesen, Inhalte und seine Geschichte geht, selbst wenn sie in letzter Zeit besser und formal anspruchsvoller erzählt ist. Aber es sind keine Filme, die das Kino neu erfinden, zumindest nicht im Wettbewerb. Am ehesten tat dies Dominik Grafs Fabian.
Zum Zweiten ist unklar, warum ein Film in der einen Sektion läuft und nicht in der anderen. Viele Filme aus der Encounters-Sektion wären besser im Forum aufgehoben, andere Filme gehören unbedingt in den Wettbewerb. Dafür gehören manche Wettbewerbsfilme ins Berlinale Special. Die Auswahl des Panorama ist diffus, die des Forums zumindest fragwürdig, weil die Filme von kaum noch jemandem gesehen werden, seit es die »Encounters« gibt.
Das Forum ist um seine Substanz gebracht.
Zumindest diese Filme, da waren wir alle in der artechock-Redaktion einig, hätten vielleicht gegen eine Gebühr dem Publikum auch online gezeigt werden können – es hätte ihnen genutzt.
Kurz und gut ist das eine Preisentscheidung, die weder den Preisträgern gerecht wird, noch den von der Jury vernachlässigten Filmen. Eine schlechte, schwache Preisentscheidung einer offensichtlich der Aufgabe nicht gewachsenen Jury.
Der einzige Trost ist: Wen interessieren schon diese Preise? Wen interessieren die Preise bei einem Festival, das nur online stattfand, für eine kleine Filmcommunity. Schon unter normalen Umständen sind die Berlinale-Preise jenseits des Goldenen Bären komplett irrelevant und der Goldene Bär ist nur in bestimmten Fällen wichtig.
In der Filmbranche allerdings sind diese Preise wichtig und deswegen hätte man Alexander Koberidze vor allen anderen unbedingt einen Preis gewünscht, aber auch Dominik Graf und seinen Schauspielern und seinem Kameramann und auch Céline Sciamma und ihren Schauspielern. Auch der iranische Film gehört zu den besseren im Wettbewerb und ist z.B. viel besser als jener andere iranische Film, der im vergangenen Jahr den Goldenen Bären bekommen hat.
Fazit: Jurys irren systematisch. Schade nur, dass man immer wieder hofft, es sei mal zwischendurch anders.