71. Berlinale 2021
Ceci n’est pas un festival? |
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Ort und Zeit überwinden: Mit Céline Sciammas Petite Maman | ||
(Foto: Berlinale / Céline Sciamma) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Auf der Berlinale 2020 war man noch guter Hoffnung, es würden Gratis-Sponsoren-Äpfel und Handdesinfektionsmittel genügen, um jener fernen Seuche Einhalt zu gebieten, von der man in den Nachrichten was mitbekommen hatte. Erst auf der Heimfahrt, vorbei am Messegelände, wo grad die Internationale Tourismusbörse abgesagt worden war, kam einem der Gedanke, dass das vielleicht doch was Größeres sein könnte.
War’s dann auch, wie Sie vielleicht bemerkt haben…
Nun hocken wir also hier, schieben eine seltsame Sehnsucht nach dem graukalten Potsdamer Platz im tristen Berliner Februar und dem missmutigen Gedrängel in der Schlange vor den Multiplex-Kinos.
Die Berlinale 2021 ist zweigeteilt, und zumindest bis zum Sommer erstmal nur digital.
Freilich: Das reale Festival war’s nicht, und das konnte und wollte diese Online-Variante auch nicht ersetzen. Aber für das Abbild eines Festivals war es überraschend lebensecht.
Man konnte da schon auch selber nachhelfen: Man sammelte seine Utensilien um sich – den altgedienten Sponsoren-Kaffee-Tumbler, selbstbezahlte Äpfel, Großvaters Dialeinwand aus dem Keller fürs Beamer-Bild (weil die mehr »Kino« schien als die weiße Zimmerwand), den klassischen
Berlinale-Trailer von Youtube zugespielt. Zwang sich, auch weniger liebgewonnene Rituale beizubehalten, wie den viel zu frühen Wettbewerbsfilm nach viel zu wenig Schlaf.
Und was diese Heimwerker-Berlinale dann tatsächlich ähnlich bot wie das Original: Den Wahn, den Rausch, für ein paar Tage komplett in einem Strom von Filmen abzutauchen.
Vielleicht sogar noch extremer als sonst, weil man den »Kinotag« maximieren konnte – der Weg zwischen den Spielstätten wurde reduziert auf Wohnzimmer, Küche, Klo. Man konnte so viele Filme mehr sehen, wenn man nur keine Pausen einlegte. Oder aß. Oder schlief.
Und es war tatsächlich etwas Anderes als gewöhnliches Freizeit-Binge-watching: Sich einer kuratierten Auswahl auszusetzen, auch raus aus der Komfortzone, gab mehr Impulse, als wenn man daheim nach eigenem Gutdünken Filme am Bildschirm vorbeifließen lässt.
Der Chat mit Verbündeten gab durchaus ein gewisses Gemeinschaftsgefühl. Und dass man da aktuelle Tipps und Warnungen austauschen konnte, lag auch daran, dass das zunächst skeptisch beäugte 24-Stunden-Fenster, in dem täglich
eine Filmauswahl für die Presse online ging, tatsächlich der Woche nicht nur eine Dramaturgie verlieh, sondern auch Filme zum Tagesgespräch machte. (Es hätte allerdings enorm geholfen, wenn die Filme dann mindestens noch einen Tag länger verfügbar gewesen wären, damit man auf Empfehlungen auch noch reagieren kann.)
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Manches, was man auf der realen Berlinale vermisst, konnte man sich nun sogar auf eigene Faust zurechtbasteln: Endlich eine Midnight-Movies-Reihe! Zusammengeklaubt aus dem Gesamtangebot. Mit Filmen, die in die unterbewussten Regionen des Hirns einstöpseln; Filmen für nach Mondaufgang; Filmen von der verruchten, klebrigen Seite des Kinos, fern der Notausgangsbeleuchtung; Filme von unter der Videotheken-Ladentheke.
Filme wie jene einst berüchtigten »Video Nasties«, von denen man sich hinter vorgehaltener Hand zuraunte, die man sich in dritter Kopiergeneration auf VHS heimlich zugesteckt hat – und die Prano Bailey-Bonds Censor anzitiert, hinter deren Verstörungspotential er selbst aber in einem Akt unfreiwilliger Selbstkontrolle zurückbleibt.
Die Titelfigur, eine britische Filmzensorin der Thatcher-Ära, trägt offensichtlich ähnliche Züge wie Toby Jones’ vom Horror des Jobs heimgesuchter Toningenieur in Peter Stricklands Berberian Sound Studio. Aber Censor ist nie halluzinatorisch, nie fiebrig genug, um dem Vergleich standzuhalten. Und trotzdem zu kunstwillig, als dass er als gradliniger B-Horrorfilm funktionieren würde.
Der Rückgriff auf (Ehr-)Furcht einflößende, legendäre Horrorfilme muss sich nicht in Nostalgie erschöpfen: Moderner, cleverer, komplexer war der Ansatz von Dasha Nekrasovas The Scary Of Sixty-First. Der paart nicht bloß die Ästhetik der barocken Gialli von Argento, Fulci & Co mit dem allzu realen Horror Jeffrey Epsteins, sondern beschwört Okkultismus als das verbindende, verborgene Geflecht zwischen Inferno, der Selbstinszenierung des monströsen Narzissten, und Online-Verschwörungstheorien. Jeffrey Epstein als Pater Tenebrarum.
Auch wenn es, Karten auf den Tisch, im Licht der Sonne betrachtet, als Film konventioneller bleibt und nicht so gut funktioniert, wie es das Konzept verdient hätte.
Zu einer klassischen Mitternachtsschiene gehören bei großen Festivals freilich Genre-Filme, die ihr Versprechen nicht erfüllen. Soi Cheangs Limbo erzählt seine Serienkillergeschichte von der Stadt, dem Müll und dem Tod letztlich zu glatt, zu sehr im stile antico der ‘90er. Seine hyperdetaillierten Schwarzweiß-Bilder wären prima als Demo für 4K-Fernseher im Elektromarkt geeignet. Lassen aber selten wirklich Körperlichkeit, Verwesung empfinden. Und der Plot vom einsamen Cop von trauriger Gestalt reagiert seine Gewalt auch zu beharrlich an einer Frau ab, der eine Hand fehlt, und die auch sonst echt arm dran ist.
So viel körperlicher und körniger, handgemachter und haptischer wirkten da die monochromen Bilder von Conrad Veit & Charlotte Maria Kätzls Halbstünder Blastogenese X: So eine Art Unterrichtsfilm für einen surrealistischen VHS-Abendkurs Biologie, Lerneinheit »Ausknospung«, Eraserhead meets Green Porno, als Klassenzimmer das Werkstattkino nachts um halb drei, mit Bier in der Hand, und man freut sich, dass Leute sich ein Herz, die Stricknadeln und Wolle, sowie eine Kamera greifen, spielfreudig in den Steinbruch ziehen und sich dort halbnackt als Flora und Fauna maskiert austoben.
Einen verwandt leiblichen Zugang zum Kino, aber in der opulenten, der drastisch-plastisch-fantastischen Variante servierte Vị von Lê Bảo – der sich in seinem Spielfilmdebut als eine Art verschollener, vietnamesischer Verwandter Peter Greenaways vorstellte. Ein Tableaufilm, in dem sich die Ferkeleien in Gramm bemessen ließen. Satte Gemälde vom Nacktkochen, Nacktradeln, Schweinchenwiegen, Heißluftballonnähen – Kulinarisches Kino à la Chatrian.
Und irgendwie gehörte in die Mitternachts-Schiene, auf seine schon fast surreal misslungene Weise, sogar Je suis Karl: Der Sharknado unter den »Filmen gegen Rechts« für den Deutschunterricht.
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Unweigerlich stellte sich am Eröffnungstag nach Vị eine gewisse Nervosität ein, man hätte so früh im Festival bereits das eine wahre filmische Gipfelerlebnis hinter sich, das einem erfahrungsgemäß pro Jahr bestenfalls vergönnt ist.
Und das Bangen vor einem jähen Talabstieg die restlichen Tage wurde nicht geringer, als man dazu Montag und Dienstag schon mehr erfreuliche Filme gesehen hatte, als sonst oft das ganze Festival über. Hong Sang-soos Inteurodeoksyeon, Memory Box, Language Lessons, No Táxi do Jack, Denis Côtés Hygiène Sociale, Scary Of Sixty-first, Radu Judes späteren Goldenen Bären Gewinner, Night Raiders: Angesichts der Ausbeute stellte sich ein ungewohntes Gefühl ein von… Zufriedenheit?
Und Zufriedenheit ist nicht wenig, bei einem Filmfestival – wo mitunter auch Tage völliger Sinnkrise nicht ausgeschlossen sind. Aber wegen bloßer Zufriedenheit hat man sich freilich nicht der Leidenschaft ans Kino verschrieben. Eigentlich – auch wenn man’s im Cineastenalltag kaum noch einzugestehen wagt – jagt man doch immer dem High nach. Dem Moment, in dem sich die Pupillen weiten, das Herz mit 24 Bildern pro Sekunde schlägt, der Rausch in die Adern schießt. Jene Erlebnisse, nach denen man taumelnd aus dem Kinosaal zurück in die Welt fällt.
Eine Welt, die noch überlagert scheint von den Bildern auf der Leinwand – oder die plötzlich realer wirkt als zuvor, weil man sie dank des Films wieder neu sieht.
Und dann kam der Mittwoch – und verpasste einem nicht nur einen Schuss dieses Satori-Moments, sondern fast schon eine Überdosis.
Petite Maman wäre ohnehin ein großartiger Film, allein wegen Céline Sciammas völliger Meisterschaft darin, ohne Aufhebens haargenaue filmische Präzision zu verbinden mit einem hautnahen, jede feinste Regung der Emotion und Gedanken nachzeichnenden Blick ins Innere der Figuren. Aber was einen daran dann so glücklich machte, war, wie beiläufig sie die Fähigkeit des Kinos nutzt, Ort und Zeit zu überwinden; anfangs unmerklich den Realismus hinter sich lässt. Und so eine Verständigung zwischen Generationen, zwischen Mutter und Tochter ermöglicht, die ohne diese selbstverständliche Magie zwischen den beiden nicht gelänge.
Alexandre Koberidzes Ras Vkhedvat, Rodesac Cas Vukurebt? stupste einen mit leichter Geste immer weiter voran, bis fast auf wundersame Weise 150 Minuten vorbeigezogen waren.
Er entschuldigt sich in der Mitte einmal kurz, dass er die Schlechtigkeit der Welt ausspart, bewusst ein Märchen erzählt. Beheimatet in einem minimal verschobenen Georgien von circa vorvorletztem Jahr. Wo Argentinien Fußball-Weltmeister wird, und als recht bodenständige Boten für übersinnliche Mächte Bäumchen, Abflussrohre und Überwachungskameras dienen.
Und nur dem vom Fluch flüsternden Wind ein Auto im Weg steht.
Selten wird man von einem Film dazu aufgefordert, für einen seiner traumhaftesten Momente nun bitte die Augen zu schließen. Aber man kann sich What Do We See When We Look At The Sky? getrost anvertrauen: Morgen früh, wenn das Kino will, wirst du wieder geweckt… Und wenn etwas den bösen Zauber lösen kann, dann ist es die Filmkamera.
Und man könnte recht leicht so tun, als wäre Dash Shaw & Jane Semborskis Animationsfilm Cryptozoo auf den Punkt zu bringen: Er hat genug an offensichtlichen Themen, allegorischer Ebene. Der Tierpark für Fabelwesen ist ein Bild für den Umgang mit Andersartigkeit – schillernd zwischen Zufluchtsort, gut gemeinter Freak Show und purer Kommodifizierung; zwischen Zuneigung für Außenseiter und eigennützigem Fetisch.
Aber was den Film wirklich spektakulär macht, ist genau das Überbordende, nicht Reduzierbare, ist das Polymorphe, Polyphone seines Zeichen- und Erzählstils.
Man glaubt ihm seine absurde Welt so viel mehr, eben weil das nicht Einheitliche, geradezu Widersprüchliche in seiner Unvollkommenheit ein lebendiges, atmendes Ganzes ergibt.
Ein Mittwoch so rauschhaft, dass man am Donnerstag, als der altvertraute Berlinale-Alltag zurückkehrte und aus allen Filmen die Luft raus schien, regelrecht verkatert war.
(Fortsetzung folgt.)