71. Berlinale 2021
Ausnahmezustand |
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Im Wettbewerb: Radu Judes Bad Luck Banging or Loony Porn ist eine Moritat auf unsere entfesselte Gesellschaft | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Von Dunja Bialas
Man kann auch das Berlinale-Koma künstlich herstellen. Seit Montag gibt es in München um sieben Uhr morgens das »Berlinale-Frühstück«, das den Tag zu einer möglichst ununterbrochenen Sichtung einleitet. Filme werden zunächst einmal nach der Länge in Augenschein genommen, lange Filme werden im schlechtesten Fall auch einmal über den ganzen Tag verteilt gesehen, ansonsten wird getaktet, was geht. Mit kleinen Pausen zwischen den Filmen. Jetzt so tun, als würde man sich einen Espresso holen, ein Sandwich. Und schon wieder geht es weiter.
Im besten Fall begegnen einem Filme, die einen zum Abheben bringen, wie Joana Hadjithos und Khalil Joreiges Memory Box am ersten Tag, gestern Das Mädchen und die Spinne der Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher, für mich der beste Film der Berlinale bislang, und heute Alexandre Koberidzes Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?? Die drei Filme, die mich am meisten, ja, was ist man auf dem Sofa? begeistert haben? Berührt? Die ich wunderschön fand? Waren es die besten? Und überhaupt: Was ist das schon, ein bester Film? Diese drei Filme sind ein Beispiel des wilden, jungen Anti-Arthouse-Kinos, das seit ein paar Jahren ins Zentrum der Festivals rückt, auch der Berlinale. Die Filme sind Grüße von Festivals wie Rotterdam, Locarno oder der Viennale. Auf der Berlinale waren sie bislang eher im Forum anzutreffen, aber nun drängen sie in den internationalen Wettbewerb. Das ist sicherlich die Handschrift des künstlerischen Berlinale-Leiters Carlo Chatrian, aber auch schon Kosslick hatte mit Lav Diaz im Wettbewerb begonnen und die Presse mit achtstündigen Filmepen geärgert (mich nicht).
Die Filme, die ich in diesen Tagen auf dem Sofa wegsehe, sind die Antwort auf alle mich bedrängenden Fragen. Vorbei sind die Politikerrunden, Zahlenwerte, Stagnationsprognosen. Es geht nicht mehr darum, wann ich wieder rauskann, sondern es geht jetzt darum, ob ich überhaupt noch einmal raus muss. Das Lebens-Placebo. Die Filme, die über meinen Fernseher laufen (an Tag drei habe ich nun auch herausbekommen, wie man diesen fetten Zählbalken wegbekommt: einfach noch mal ins Bild klicken und nein, nicht wie am Rechner die Maus aus dem Bild fahren), sind nun endlich mein Fenster zur Welt, das so lange schon verschlossen ist. Ich fühle mich wie Benny in Benny’s Video. Alles ist abgedunkelt, nur noch die mediatisierte Welt erreicht mich. Was sagt eigentlich Michael Haneke zum Streaming?
Nur wenige Berlinale-Filme reflektieren den Zustand des Corona-Confinements. Am Vitalsten gelingt dies dem rumänischen Regisseur Radu Jude mit seinem Schelmenstück Bad Luck Banging or Loony Porn. Wie der Titel schon verrät, geht es hier ans Eingemachte. Da ich meinen Tag in freudiger Erwartung mit Radu Jude beginne, werde ich gleich zum Frühstück mit Pornografie konfrontiert. Aber Moment, ist das wirklich Pornografie, oder sind das nur exhibierte Geschlechtsteile, da ja damit kein Geld verdient wird? Diese Art der Fragen werden am Ende des Films von einer Art Elterntribunal verhandelt, das klären will, was es mit dem Video mit pornografischem Inhalt der Lehrerin auf sich hat, das im Netz zu sehen ist. Zwischen der ersten Erotikszene bis zum Tribunal entführt uns Jude in ein Bukarest unter Corona-Mundschutz. Im Zentrum eine Lehrerin, die ein Fick-Video mit Maske aufgenommen hat, einer der Eltern hat sie aber trotzdem erkannt. Jude hatte letztes Jahr zwei Filme im Forum, die ich wegen ihrer konzentrierten Sachlichkeit begeistert als »radikales Kino« eingestuft habe. Jude aber hat eine weit gefasste Film-Klaviatur. Von ihm stammt beispielsweise auch der Rumänen-Western Aferim! oder auch Mir ist es egal, ob wir als Barbaren in die Geschichte eingehen. Diesmal zeigt er uns eine Satire, eine Moritat, ein Schelmenstück unserer Zeit. Am Ende verwandelt sich die Protagonistin in Wonderwoman, bringt mit Rage ihre Lassos zum Fliegen und fängt die ganze Eltern-Bagage mit ihrem Netz. »Three possible endings« schlägt Jude nach diesem finalen Kraftakt vor: 1. The film was just a joke; 2. We’ve only kept you a moment; 3. The film was but a joke and here it ends.
Ich mochte den Film sehr. Bad Luck Banging or Loony Porn lief im Wettbewerb der Berlinale, was mich wiederum irritiert. Es ist nicht irritierend, dass die Sektionen nun ganz und gar durchlässig geworden sind, dass Regie-Namen einmal in der einen, dann wieder in der anderen Sektion vorgefunden werden können, dass anscheinend nichts und niemand mehr auf eine Sektion festgelegt ist. Alles wird schön in der Horizontale gehalten, ist permutativ, als Sektion, ein Bäumchen-wechsel-dich. Allerdings kann ich nun auch im zweiten Jahr der neuen Berlinale-Leitung und nach drei Tagen Sichtung beim besten Willen nicht sagen, was die Kriterien sein könnten, die Filme auf die verschiedenen Sektionen zu verteilen. Cristina Nord hatte als neue Forums-Leiterin letztes Jahr gleich zwei Filme von Radu Jude im Programm, diesmal läuft er im Wettbewerb, auch wenn ich ihn mir im Forum ebenfalls sehr gut hätte vorstellen können. Für den Wettbewerb ist er eigentlich zu sehr aus dem Handgelenk geschüttelt – falls das ein Kriterium sein sollte.
Ebenfalls im Wettbewerb aber läuft zum Beispiel der von mir hochgeschätzte Xavier Beauvois, ein Fall der französischen Filmfamilie. Albatros ist ein Gendarmerie-Film, der an der normannischen Küste von suizidalen Trieben der Bevölkerung erzählt. Ein Mann stürzt sich von der Klippe, ein Bauer verzweifelt an den EU-Vorschriften. Laurent, Gendarm vor Ort, möchte diesen vor dem tödlichen Gewehrschuss bewahren und erschießt ihn versehentlich. Es folgt: Suspendierung, Laurent bricht zu einer Segeltour auf, findet sich selbst. Jérémie Renier spielt den Polizisten mit den Selbstzweifeln, erwähnt werden muss an dieser Stelle aber mehr noch Pierre Creton als Bauer vor Ort. Denn Creton ist auch im wahren Leben Milchbauer in der Normandie, macht außerdem Filme, die auf dem FID Marseille zu sehen sind, meist spielen sie in der Normandie und sind hiermit ausdrücklich dem Forum empfohlen. Kurz ist man auch an Bruno Dumonts Miniserie »P’tit Quinquin« (2014) erinnert. Das familiäre Filmen zieht sich bei Beauvois durch den ganzen Cast. Neben seiner Tochter Madeleine Beauvois ist auch Marie-Julie Maille zu sehen, die Frau von Beauvois, als Frau des Polizisten.
Xavier Beauvois’ Film ist tradition, wie das Baguette heißt, an dem noch ein bisschen Mehlstaub haftet, damit es selbstgemachter aussieht. Das schmeckt auch erst einmal gut. Im Film policier Albatros aber fiel Beauvois kein guter Ausweg aus dem moralischen Dilemma, aus den Gewissensbissen des Polizisten ein. Im letzten Drittel ist Laurent nur noch »der Mann und das Meer«, während die Frau an Land duldsam das Haus räumt, das sie verliert, weil der Mann den Dienst quittiert hat. Am Schluss empfängt sie ihn trotzdem im strahlend weißen Brautkleid – als alles verzeihende Penelope, die uns als handelnde Figur vorenthalten wurde. Das ist ärgerliches Cinéma du papa, Monsieur Beauvois! Abgesehen von dem überholten Frauenbild zeigt uns Beauvois vor allem einen Film, der ab einem gewissen Punkt nicht weiter weiß. Wie anders, wie toll und mit einer aufregenden Nathalie Baye war hingegen sein Le petit lieutenant (2006), in dem Beauvois im Prinzip die gleiche Geschichte erzählt, nur besser.
Im Prinzip immer die gleiche Geschichte erzählt auch Hong Sang-soo, und auch er hat das schon mal besser gemacht. Dennoch sieht man seine Filmstücke einfach gerne und freut sich auf den Wiedererkennungseffekt. Bei Hong gibt es meist Momente, die sich wiederholen, die sich spiegeln, Handlungen geschehen in Variation zweimal, oder die Menschen träumen und wachen auf, und dann erleben sie das, was sie geträumt haben, mit kleinen, wesentlichen Unterschieden noch einmal. Wie ich, als ich am Montag viel zu früh aufwache, weil ich von Hongs Film geträumt habe. Diesmal, so mein Traum, spielt sein Film in einem Berliner Späti, es wird wieder viel Soju getrunken, auch davon träume ich. Und da sein neuer Film auch noch Introduction heißt, wird er zu meinem ersten Film der virtuellen Berlinale. Natürlich ist der Film anders, er spielt nicht in einem Späti, aber in Berlin, zumindest im Mittelstück. Ich vermute, dass Hong ihn bei seinem letzten Berlinale-Aufenthalt gedreht hat, als The Woman Who Ran im Wettbewerb lief. Die kahlen Bäume und das Wetter geben es her.
Hong Sang-soo übrigens ist eins von vielen Bindegliedern zwischen alter und neuer Berlinale-Leitung. Auch unter Kosslick liefen schon Filme des Südkoreaners im Wettbewerb, und in On the Beach at Night Alone (2017) spielte sogar der neue Chef-Programmer Mark Peranson mit Freundin Bettina Steinbrügge mit (die früher für das Forum moderierte). Das mag vielleicht auch erklären, warum die neue Berlinale so organisch aus der alten herauswachsen kann.
Ich bin dein Mensch. So heißt der Titel des künftigen Berlinale-Eröffnungsfilm von Maria Schrader, wenn denn dann die Filme auch dem Publikum gezeigt werden sollen. Übrigens soll es jetzt doch ein Pressekontingent geben, erklärt mir Pressechefin Frauke Greiner, auch einen roten Teppich soll es geben, Stars und natürlich die Preisverleihung, Open-Air-Vorführungen und überhaupt: einen tollen Sommer an der Spree. Und eine glamouröse Eröffnung.
Kleine Anmerkung: Bis dahin, zur Vorführung vor Publikum, werden alle Filme im Premierenstatus gehalten, können also rein theoretisch auch auf anderen Festivals laufen. Wenn beispielsweise das Münchner Dokfest im Mai einen Dokumentarfilm aus dem Berlinale-Programm zeigen möchte, dann hätten sie mit einemmal die Welt- oder Deutschlandpremiere, oder wie darf man sich das vorstellen?
Maria Schrader, die in Vor der Morgenröte stilsicher in filmischen Tableaux vom Brasilien-Exil Stefan Zweigs erzählte, hat sich diesmal eine Mischung aus Science-Fiction und Romantic Comedy vorgenommen. Als Vorlage diente ihr Emma Braslavskys gleichnamiger Roman. Die Grundkonstellation des Films jedoch ist erst einmal archetypisch-märchenhaft: Frau trifft auf den Traumprinzen. Dann erinnert der Plot auch an das Kinderbuch von Christine Nöstlinger »Konrad oder das Kind aus der Konservenbüchse«. Analog hätte Maria Schrader ihren Film also auch »Tom oder der Mann aus der Konserve« nennen können. Denn genau darum geht es. Tom (Dan Stevens) ist der Traummann aus der Retorte, der nach den Wünschen und Vorlieben von Alma (Achtung, sprechender Name: die Seele) zusammengestellt wurde. Das ganze wurde mit hypersensibler KI versehen und gehorcht dank Algorithmen scheinbar auch dem Zufallsprinzip.
Wie bei Christine Nöstlinger ist jedoch auch hier die Produktempfängerin von der Perfektion der Fabrikware entnervt und möchte Tom zurückschicken. Maren Eggert spielt als chaotische und selbständige Alma ihre Gereiztheit mit größter Lust aus, behandelt den künstlichen Mann erschreckend schlecht (ist ja nur eine Maschine) und wehrt sich überhaupt gegen seine romantischen Vorstellungen von Liebe, die ja doch nur dem Katalog zu entspringen scheinen.
Um es kurz zu machen: Wie bei einer guten Komödie ist auch hier der Weg das anekdotische Ziel, verpufft aber auch recht schnell. Großes Vergnügen bereitet das Spiel von Eggert, Stevens und auch Sandra Hüller, die als Mischung zwischen Sozialarbeiterin und Fabrikwärterin immer wieder nach dem Rechten sieht. Und genau auf dieser glänzenden Scheinwelt-Oberfläche sollte der Film bleiben dürfen – sozusagen als performative Umsetzung seines Gegenstandes. Auch wenn es schwerfällt, nicht über das krasse Menschenbild zu schreiben, nach dem man sich einen Partner wünscht, der perfekt ist, um das jetzt mal genderneutral auszudrücken.
Maria Schraders Film hat einen ganz anderen, gravierenden Schönheitsfehler: Er ist der erste Fernsehfilm der Regisseurin, wie das Branchenheft Blickpunkt Film vermeldet, und so fühlt es sich für meinen Kollegen Sedat Aslan auch überdeutlich an. Hier seine ausführliche Kritik.
Wieso aber der Film von Maria Schrader dann im Wettbewerb läuft, und nicht in dem für solche Zwecke geeigneteren Berlinale Special?
(Fortsetzung folgt)