71. Berlinale 2021
Provokation und Umarmung |
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Film der Zwischentöne: Das Mädchen und die Spinne |
Von Dunja Bialas
»This was meant to be a small film.« Radu Jude hat ein breites Grinsen, als er auf der vom Vertrieb initiierten Pressekonferenz diesen Satz sagt. Eigentlich nur ein kleiner Film, und doch hat jetzt Bad Luck Banging or Loony Porn den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen.
Das rumänische Kino ist sehr schillernd und vielfältig, auch wenn manche von der Annahme ausgehen, dort vor allem auf lange Plansequenzen über Familienfeste zu treffen, wie sie zum Beispiel Cristi Puiu mit Sieranevada inszeniert hat. Bad Luck Banging aber ist anti-narrativ. Ist Anti-Establishment. Ist Anti-Arthouse. Der Film ist Experiment, ist Dokument, ist Spiel und ist Nachricht. Er zeigt die Vitalität des rumänischen Kinos insgesamt und von Radu Jude im Speziellen, und führt vor, wie es sich erfolgreich den Konventionen widersetzt. Das macht Jude in ähnlicher Weise wie seine Hauptfigur, die sich von den SUVs dieser Welt nicht den Weg verstellen lässt. Bad Luck Banging ist auch ein satirischer Film, der provoziert.
Die satirische Absicht von Bad Luck Banging or Loony Porn ist mit dem dreifachen Endkommentar seines Moritaten-Erzählers (»1. The film was just a joke; 2. We've only kept you a moment; 3. The film was but a joke and here it ends«) als poetologisches Prinzip zementiert. Und nun hat der kleine Film auch noch den Goldenen Bären gewonnen. Die Jury umarmt mit der Auszeichnung das Provisorische, Improvisierte, Leichte, aber auch das Aktuelle, denn kein anderer Film des Wettbewerbs sonst hat sich mit der Corono-Pandemie befasst, die sich in allen Szenen in Form des Mund-Nasen-Schutzes visualisiert.
Radu Jude ist nicht zimperlich. Sein Film hebt an mit expliziten Sexszenen, gefilmt für das Internet und gedacht für die Privatporno-Community. Jude geht es aber nicht um Medienkritik, wie man vielleicht meinen könnte, und auch nicht um die Anprangerung von Sexploitation – denn da ist keine. Er stellt die Unschuldsvermutung für Bilder des Sexuellen auf, für die Pornographie insgesamt, und streitet mit der Geschichte der Lehrerin, die final vor ein Elterntribunal gestellt wird, auch für die Selbstbestimmung der Frau und die Diversität der eigenen Persönlichkeit in all ihren Facetten. Vom schäbigen rosa Spitzenschlüpfer geht es direkt in das mausgraue Kostüm. In der Uniform der Unauffälligen gehorcht die Lehrerin den Ritualen der Gesellschaft – sie bringt Blumen an das häusliche Krankenbett (ein Zitat der »alten« rumänischen Schule), geht durch das postsozialistische Bukarest und wird zum Vehikel für eine nahezu ganz im Dokumentarischen aufgehende Binnenerzählung. Wunderbar: die falsch geparkten Monster-SUVs als Sinnbild für eine rücksichtslos werdende Gesellschaft. Das lässt auch an Eugène Ionescos absurdes Theaterstück »Die Nashörner« denken.
Bei der Pressekonferenz hat der mögliche Kinostart und die Problematik der pornographischen Eingangssequenz Fragen aufgeworfen. Die Produzentin Ada Salomon sprach gar von Überlegungen, den Film zu »zensieren«.
Zugegeben: Auch bei mir hat die Auszeichnung im Zusammenhang mit dem Filmauftakt zunächst abwehrende Reflexe hervorgerufen. Ein Bärendienst für die Berlinale, so dachte ich im ersten Moment, sei diese Preisvergabe. Andererseits provozierte aber auch schon Adina Pintilies Touch Me Not vor zwei Jahren in ähnlicher Weise, bei Radu Jude hängt das Filmplakat in der Wohnung der Lehrerin. Ein deutliches Bekenntnis zu seiner Kollegin, die auch der Jury angehörte. Honi soit qui mal y pense.
Die Programmierung ist die eigentliche Irritation. Sie begreift die Sektionen als durchlässig und ordnet die Filme mal der einen, mal der anderen Abteilung zu, ohne dass dafür Kriterien ersichtlich würden. Das ist eigentlich begrüßenswert, sorgt aber auch für Rat- und Orientierungslosigkeit beim virtuellen Berlinale-Besuch. Bad Luck Banging war ein Ausreißer zwischen Xavier Beauvois’ Arthouse-Albatros und dem erwartbaren Wettbewerbs-Iraner Ballad of a White Cow. Hier könnten jetzt, gäbe man seinen Asperger-Impulsen nach, alle Filme gemäß ihrer filmsprachlichen Couleur neu einsortiert werden. Genügen soll aber der Hinweis darauf, dass Judes Film den Wettbewerb in anarchischer Weise ausgehebelt hat. Wäre er in einer anderen Sektion gelaufen, wo man ihn vielleicht eher erwartet hätte – wie zum Beispiel im Forum oder im neuen Encounters –, wäre der Wettbewerb aber auch nicht homogener gewesen, nur vielleicht etwas weniger wilder.
Der in Berlin lebende Alexandre Koberidze hat mit Lass den Sommer nie wieder kommen 2017 auf der Woche der Kritik Berlin ein bemerkenswert experimentelles Langfilmdebüt hingelegt. Nun hat er im Wettbewerb mit Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? ein von der Tonalität ähnliches Film-Sequel geschaffen. Wenn er auch die Leinwand nicht mehr der Farb- und Pixelexplosion unscharfer Bilder aussetzt, hat Koberidze seine Erzählweise doch fortgesetzt. Was sehen wir..., ist wie sein Debüt lyrisch-verträumt, ein Erzähler spricht von der Schicksalhaftigkeit des Sich-Finden-und-Verlierens und berichtet darüber mit ergreifender Lakonie. Koberidzes Film ist romantisch, tröstlich, phantastisch und enthält dokumentarische Aufnahmen von der georgischen Stadt Kutaissi. Die Kraft der Begegnung zweier Menschen, diese menschliche Einfachheit, berührt, dazu kommen poetische Anklänge an Stummfilm-Epen, die einen großen filmischen Kosmos aufspannen. Koberidze erhielt für Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik.
Raymond Depardon (12 Tage, 2017), Nicolas Philibert (Sein und Haben, 2002), Laurent Cantet (Die Klasse, 2009) und Claire Simon (Premières solitudes, 2018, Forum der Berlinale) mögen die Schule für Maria Speth und ihren beobachtenden Dokumentarfilm Herr Bachmann und seine Klasse gewesen sein, der ebenfalls im Wettbewerb lief. Sie zeigt die Kraft der Pädagogik, die keine ist, und die sich entfaltet, wenn die Erwachsenen die »Schutzbefohlenen« ernst nehmen in ihren Gedanken, Gefühlen, Ängsten und Träumen. Herr Bachmann und seine Klasse ist eine Absage an alle Ideen des Distant Teaching und lässt erahnen, was passiert, wenn wir den zwischenmenschlichen Kontakt verlieren. Der Film entfaltet eine tiefe, humanistische Kraft, die schmerzt, weil sie so schön ist. Maria Speth erhielt den Silbernen Bären.
Céline Sciamma zeigte im Wettbewerb eine phantastische Herkunftserzählung. In Petite Maman trifft die kindliche Protagonistin auf ihre eigene Mutter, als diese so alt ist wie sie jetzt selbst. In dem temporalen Vexierspiel sorgen die Zwillinge Joséphine und Gabrielle Sanz für vollendete Verwirrung. Neben sie hätte man sich die Regie-Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher in den Wettbewerb gewünscht. Ihr Kammerspiel Das Mädchen und die Spinne erzählt nach Das merkwürdige Kätzchen (2013, Forum der Berlinale) in einer Berliner Wohnung von der wunderbaren Widerständigkeit der Welt. Genauer gesagt: in zwei Berliner Wohnungen, denn Lisa (Liliane Amuat) zieht um, während ihre Freundin Mara (Henriette Confurius) zurückbleibt. Zwischen die Umzugskartons mischen sich die Mutter (Ursina Lardi mit verblüffender Ähnlichkeit zu Bulle Ogier), ein Freund, die Nachbars-WG und die neue Nachbarin (Sabine Timoteo). Erotik und Sex sind im Spiel, und die Welt der Tiere wird in Szene gesetzt, als wäre der Film ein Rechercheergebnis der Animal Studies. Das Mädchen und die Spinne erhielt den Encounters-Preis für die Beste Regie.
Erwähnen möchte ich aus dem Wettbewerb noch Memory Box von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. 2016 zeigte das libanesische Künstler-Duo im Münchner Haus der Kunst die große Einzelausstellung »Two Suns in a Sunset«, eine begehbare Erinnerung an die durch den libanesischen Bürgerkrieg zerstörte Heimat. Im Film lassen Hadjithomas und Joreige die verloren gegangene Welt in Reinszenierungen wieder auferstehen, entlang der authentischen Tagebucheinträge und gesammelten Dokumente der 1969 geborenen Filmemacherin. Die bewegende Rückkehr in die Achtzigerjahre und die schmerzliche Unwiederbringlichkeit der Jugend räumen sukzessive der politischen Geschichte ihren Platz – die private histoire kapituliert vor der politischen Histoire, das Leben determiniert sich durch den Ort und den Moment, in den wir hineingeboren werden.
Insgesamt, so das Fazit, zeigte die Berlinale ein starkes Filmprogramm. Unter dem neuen Leiter Carlo Chatrian ist das nicht-narrative Kino jetzt in allen Sektionen präsent. In ihm verwebt sich die Wirklichkeit mit dem Imaginären, und es positioniert sich als fiktionales Schillerwesen gegen das leicht konsumierbare Arthouse-Kino. Mit dieser neuen begrüßenswerten Handschrift der Berlinale hat jedoch das Forum das Nachsehen, dem ein paar seiner potentiellen Autor*innen abhanden gekommen sind. Cristina Nord, die seit letztem Jahr das Forum leitet, setzte diesmal einen Schwerpunkt auf Filme, die Erwartungen unterlaufen, die rätselhaft und auch undurchdringlich sind. Bisweilen erinnert die Weise, in der die Filme auf das Vortragen von Texten vertrauen, an die Filme von Straub/Huillet, wie Christophe Cognets A pas aveugles über Fotografien von Konzentrationslagern, oder Fabrizio Ferraros spaziergängerische Hölderlin-Meditation La veduta luminosa.
Dann wirkte dies aber auch sehr intellektuell und theoriegetrieben. Früher gab es im Forum eine Reihe von Filmen zu sehen, die uns wie schlafwandelnd die Arsenal-Spielstätte jenseits der Straßenschlucht am Potsdamer Platz aufsuchen ließ. Auch dieses Jahr konnte man diese traumhaften Momente im Forum finden, man musste nur gründlicher nach ihnen suchen. Gemeint ist das randständige Kino, das auch erzählt oder dokumentarisch ist, das aber die Erzählweisen neu denkt und ungewohnte filmische Räume öffnet, anstatt sie zu verschließen. A River Runs, Turns, Erases, Replaces der aus Wuhan stammenden Zhu Shengze ist so ein Beispiel. Der Film ist eine poetische, stille Meditation über die Millionenmetropole am Jangtse, die zunächst unter dem Eindruck des Corona-Confinements gedreht wurde, dann während der behutsamen Wiederaufnahme des Lebens. Zhu verlor ihre Großmutter und auch ihren Vater an Corona, weil sie ihm riet, ins Krankenhaus zu gehen, um sich die Medikamente für ein chronisches Leiden zu besorgen. Die Erzählung aus dem Off bleibt verhalten, unweinerlich, umarmt die Heimatstadt.
Zhu steht für den poetisierenden Dokumentarfilm, der nicht das Thema, sondern die Sichtweise auf die Welt in den Mittelpunkt stellt. Erst in einem Kino wird der Film seine ganze bannende Kraft entfalten können.
Trotz des herausragenden Programms muss leider die Durchführung der virtuellen Berlinale und die nachlässige Behandlung der Presse problematisiert werden. Letztere fußt auf dem fragwürdigen Diktat, sie möge sich den Anforderungen des Marktes unterordnen. So sagte der Chef-Programmer Mark Peranson, selbst ehemaliger Filmkritiker und Gründer der Zeitschrift »CinemaScope«, im Interview mit der NZZ: »Die Presse braucht es jetzt im März für den Filmmarkt, denn für die Filmeinkäufer sind die Rezensionen enorm wichtig.« Immerhin schreibt er der Presse eine fast schmeichelhafte Bedeutsamkeit für den Erfolg von Filmen zu, während sich die Berlinale-Leitung gleichzeitig aus der Verantwortung stiehlt, für die Presse bestimmte Service-Leistungen zu erbringen. So überließ sie die Durchführung von Pressekonferenzen ganz dem Engagement der Weltvertriebe, kommunizierte aber noch nicht einmal die Termine.
Als kuratorische Plattform müsste es Aufgabe der Berlinale sein, Presse und Filmemacher*innen in einen Dialog zu bringen und Nachfragen zu den Werken vom Grundsatz her zu ermöglichen. Dies fiel aus, bei gleichbleibend hoher Akkreditierungsgebühr. Die diesjährige Berlinale wurde so zu einem gesichts- und stimmenlosen Streaming-Kanal, bei dem auch einmal das Netflix-Logo über die heimische Kiste flimmerte. Andere Festivals wie zuletzt Rotterdam mit festen Terminen für interaktive Pressegespräche haben vorgemacht, was Pressearbeit im virtuellen Zeitalter bedeutet. Jetzt sind die Texte geschrieben, ohne dass die Presse ihre Fragen stellen konnte.
Es scheint überdies das Missverständnis zu bestehen, dass über die Berlinale nicht angemessen berichtet werden kann, wenn die Kinovorführungen, der Publikumsbesuch und vor allem der rote Teppich ausfallen, der von der Berlinale-Pressestelle für den Sommer versprochen wird. Das verrät eine eigenartige auf Berlin zentrierte und deshalb auch provinzielle Perspektive. »artechock« hat immer ausführlich auch für die Münchner Leserinnen und Leser berichtet, die die Berlinale-Filme womöglich nie zu sehen bekommen – das Filmfest München zumindest schließt die Filme aus, weil das Reglement deutsche Premieren verlangt. Und nur wenige Verleihe werden den Mut haben, die ohne deutsche Co-Produktion von der Verleihförderung ausgeschlossenen Filme herauszubringen.
So werden viele Filme der Berlinale 2021 den Locals und Happy Fews vorbehalten bleiben, die beim »Sommer-Special« im Juni hoffentlich einen Sitzplatz im Kiez-Kino ergattern können.
Bereits jetzt einen Verleih haben:
Das Mädchen und die Spinne (Salzgeber)
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? (Grandfilm)
Herr Bachmann und seine Klasse (Grandfilm)
Blutsauger (Grandfilm)
Ich bin dein Mensch (Majestic)
Bad Luck Banging or Looney Porn (Neue Visionen)
Fabian oder Der Gang vor die Hunde (DCM)