Möglichkeiten starker ästhetischer Störungen |
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Die heilige Filmfamilie kann sich wieder versammeln. Hier: Dea Fortunata, der bei »Cinema! Italia!« gezeigt wird | ||
(Foto: Cinema! Italia!) |
Von Dunja Bialas
Viel wurde über das Kino gesagt, um es in der Zeit exzessiven Streamens gegen die Couch auszuspielen. Es biete »Begeisterung, Glück, Gemeinschaft« (Kinokongress 2021, hier unser Bericht), sei »Erlebnisort mit erotischer Komponente« (Matti Bauer, Initiator von »Wir lieben Kino«) oder Begegnungsort der Stadtgesellschaft, an dem demokratische und kulturelle Diskurse stattfinden (die Autorin). Auf dem Sofa findet jedoch nicht nur die Vereinzelung des Individuums statt, es drohen wohl auch die Verrohung der Umgangsformen, Radikalisierung und allgemeine Unausgeglichenheit, wie jüngst die Aufregung um #allesdichtmachen gezeigt hat. Das Kino hat außerdem natürlich die Vorzüge des Hightech-Dispositivs (»gut Licht, gut Ton«), das mit bekannten Claims beworben wurde: »Kino wie noch nie« und »Kino – dafür werden Filme gemacht«.
Gerade weil Corona uns einerseits so vereinzelt, andererseits aber auch die Grenzen der Individualgesellschaft westlicher Prägung vorgeführt hat, lohnt es, sich auf einen Grundgedanken des Kinos besinnen, um zu verstehen, weshalb das Kino als Publikumsveranstaltung heute so »unmöglich« erscheint und im Herannahen unsichtbarer Corona-Aerosole als so »gefährlich«.
So schrieb der Filmkritiker Rudolf Harms 1926 über das Kino:
»Der Film als Kollektivkunst strebt unmittelbar nach Stätten des Massenbesuchs. Kennzeichen einer jeden Kollektivkunst ist, dass sie Massen zum gleichen Zwecke der ästhetischen Aufnahme ein und desselben Kunstgegenstandes vereinigt. Dadurch pflegt sie Möglichkeiten starker ästhetischer Störungen für das Einzelindividuum in sich zu tragen.«
Jetzt öffnen bei einer Inzidenz von unter 50 in München die ersten Kinos. Das Werkstattkino hat Vorreiterrolle übernommen und macht bereits seit Dienstag Programm. Der Auftakt kommt mit Ruben Brandt, Collector, einem wahnwitzigen Zeichentrick des ungarischen Malers Milorad Krstić.
Ruben Brandt, Collector führt Kunstraub als therapeutische Maßnahme vor: Der fiktive Kunstsammler Ruben Brandt will mit Gemälden seine inneren Dämonen besiegen. Aus den wichtigsten Museen und Privatsammlungen der Welt lässt er Werke alter und neuer Meister stehlen, um seinen Albtraumbildern ein Ende zu setzen. In einer fiebrigen Pop-Collage vermischen sich die Stilrichtungen und Geistesströmungen des letzten Jahrhunderts mit Kultfilmen von Alfred Hitchcock und Quentin Tarantino, mit Terminator und Rambo.
In der Spätvorstellung zeigt das Werkstattkino Schätze von Joe Dante und Jack Arnold, die genauen Titel bitte beim Kino erfragen. Da kann man auch gleich einen Platz reservieren (089 / 260 75 20). Neu ist: Wegen der Einlass-Präliminarien unbedingt 15 Minuten vorher da sein!
Am Freitag öffnet als zweites Münchner Kino das Theatiner. Es startet mit einem dem denkmalgeschützten Ambiente und francophilen Kino würdigen Film und zeigt Aznavour by Charles. Der Film besteht zur Gänze aus 16mm-Aufnahmen des französischen Chansonniers, gedreht im Laufe von Jahrzehnten, auf etlichen Reisen und im Durchgang fast ebenso vieler Ehefrauen, auf einer Kamera, die ihm Edith Piaf geschenkt hat. Eine private Sicht von Aznavour auf die Welt, die der Musikfilm-Produzent und Aznavour-Vertraute Marc di Domenico kompiliert hat. Schauspiel-Ikone Romain Duris spricht den Off-Kommentar, der aus Tagebuchnotizen und Interviews mit Aznavour gewonnen wurde.
Außerdem zeigt das Theatiner den letzten Film mit Bruno Ganz. Winterreise des Dänen Anders Østergaard ist ein in Teilen fiktionalisierter Dokumentarfilm, in dem er Bruno Ganz den Vater seines dokumentarischen Protagonisten Martin Goldsmith spielen lässt. Goldsmith ist ein amerikanischer Radiomoderator, dessen Eltern vor Nazi-Deutschland in die USA flohen. Der Sohn will die Geschichte seiner Eltern rekonstruieren, über die sie nie reden wollten, und arbeitet sich dabei auch an seinem Vater ab, der stets wie ein mächtiges Monument geschwiegen hat (Sonntag, 14 Uhr).
Das verlängerte Pfingstwochenende entführt auch die, die nicht an den Gardasee fahren, nach Italien. Die Festivaltournee »Cinema! Italia!« war bereits für den November geplant, als die Kinos jäh geschlossen wurden. Umso leichter lässt sich das Programm jetzt wiederbeleben. Insgesamt sechs italienische Filme von 2019 werden gezeigt. Hier das Programm.
Nicht laut genug kann man dieser Tage das DOK.fest München loben (hier geht es zu unserem Special). Es reagiert auf die veränderte Kinosituation und zeigt spontan den Gewinnerfilm des Publikumspreises auf der großen Leinwand im Kinosaal. Spielstätten sind die Partnerkinos City Kinos, Neues Maxim und Rio Filmpalast. Alle drei Kinos spielen konzertiert am Samstag, dem 22.5., um 20:00 Uhr. Die Liste der nominierten Filme findet sich hier, entschieden wird am Freitag Mittag.
Die City Kinos und das Neue Maxim haben die Zeit der Corona-Schließung genutzt und renoviert, teilweise auch Sitzreihen ausgebaut, um von vorneherein den coronakonformen Sitzkomfort (Abstand: 1,5 m) zu gewährleisten.
Damit besteht die reelle Chance, dass eingelöst wird, was Harms 1926 für das Kino forderte:
»Der einmal notwendige Kollektivbau soll eine möglichst erhöhte leibliche Losgelöstheit gewährleisten. Insofern handelt es sich: um die Verhinderung eines In-Aktion-Tretens der 'niederen' Sinne und der daraus folgenden Leiblichkeitsempfindungen durch bequeme Sitzgelegenheit, entsprechende Raumventilation sowie um eine bewusste Dirigierung auch der höheren ästhetischen Sinne – Gesicht und Gehör – in einer ganz bestimmten Richtung.«
Mit handverlesenen und durchdachten Programmen startet die neue Kinosaison in München jetzt genau in die richtige Richtung: als Feier des Kinos als Möglichkeit willkommener ästhetischer Störung.