78. Filmfestspiele von Venedig 2021
Das Doku-Triell: Fokus Cinema italiano |
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Manlio Gomarascas und Massimiliano Zanins Inferno rosso. Joe D’Amato sulla via dell'eccesso | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2021 Press Service) |
Von Sedat Aslan
Django & Django (I 2021) ist ein Filmtitel, bei dem sich von alleine positive Assoziationen einstellen, man erwartet eine unterhaltsame Gegenüberstellung der alten und des neuen Django-Films, erst recht, wenn sich Tarantino als Interviewpartner zur Verfügung stellt.
Tatsächlich wird in Luca Reas Dokumentation eine bestimmte Phase der Karriere Sergio Corbuccis (1926-1990) behandelt. Der Fokus liegt hier neben Django (1966) auf Filmen wie Navajo Joe (1966, mit dem jungen Burt Reynolds), Leichen pflastern seinen Weg (1968) und Gli specialisti (1969), die zu den bekannteren Italo-Western zählen – letzterer wurde 2018 in Cannes sogar in einer 4K-Fassung gezeigt. Die frühere Sandalenfilm- und die späte Komödien-Phase Corbuccis tauchen nur am Rande auf, weil ihn laut Rea nur die Western als »Auteur« definierten.
Direkt vorm Abspann nennt Tarantino höchstselbst Corbucci den nach Leone »zweitgrößten« Spaghetti-Western-Regisseur, »no contest«. Der Film hat bis dahin aber in keinster Weise erlebbar gemacht, wieso das denn der Fall sei. Anstatt das Werk oder die Künstlerpersönlichkeit genauer zu skizzieren, steigt der Film mit einer fast zehnminütigen fiktiven Anekdote Tarantinos ein, die sich statt um Django Unchained um eine Begegnung der DiCaprio-Figur aus Once Upon a Time... in Hollywood mit Corbucci dreht, und geht dann analytisch auf eng umrissene Themenfelder ein, was von eingeschränktem Nutzen ist – für Corbucci-Experten ist das anekdotal, für interessierte Neulinge viel zu thesenhaft. Um Django Unchained geht es übrigens nur in einem einzigen, recht kurzen Punkt.
Tarantino hat bei weitem den größten Redeanteil, ist doch ein einziges langes Interview mit ihm so etwas wie das Skelett der Doku, und zudem ein Zeugnis seiner Begeisterungsfähigkeit. Er trägt unter anderem die Theorie bei, dass Corbucci, der in der Zeit des Faschismus aufwuchs, diesen (und den Widerstand dagegen) heimlich in seinen Western thematisiert, was durch ein eindeutiges Zitat bestätigt zu werden scheint. Eine der weiteren Beobachtungen ist, dass Corbuccis Helden so beschädigt seien, dass sie in anderen Filmen – auch Corbuccis eigenen – die Bösewichter sein könnten. Ersteres ließe sich auch über etliche andere Filme dieser Zeit und letzteres spätestens seit New Hollywood, wenn nicht schon seit dem Film Noir, über einen beträchtlichen Teil der westlichen Film- und Serienproduktion sagen, so dass sich die Frage stellt, was an diesen Erkenntnissen jetzt so spektakulär wäre, als dass sie so großen Raum in diesem Film einnehmen müssten. Rea und Tarantino verkaufen das jedenfalls so, als hätten sie den Schlüssel zum Werk Corbuccis gefunden.
But is it? Ist das wirklich das Besondere, das Einzigartige daran? Oder ist es nicht doch die radikale Verspieltheit und Schalkhaftigkeit, die in den enttäuschenderweise lediglich drei, vier kurzen O-Tönen des Meisters selbst auch aufblitzt, wie etwa seine Vorliebe für Comichefte? Letztendlich kommt Django & Django dem nicht nahe genug, und ist mit seinen nur drei Gesprächspartnern (neben QT kommen auch kurz Ruggeri Deodato und Franco Nero zu Wort) und zusammenhangslosen Animations- und Behind-the-Scenes-Einschüben so unbeholfen gemacht wie ein schnell zusammengeschustertes Referat fürs Filmgeschichts-Proseminar.
Besser gemacht haben es Manlio Gomarasca und Massimiliano Zanin, die für Inferno rosso. Joe D’Amato sulla via dell’eccesso (I 2021) mehr Zeit in Recherche gesteckt zu haben scheint, jedenfalls holen sie nicht nur deutlich mehr Gesprächspartner vor die Kamera und bilden einen größeren Abschnitt der Karriere des Sujets ab, sie zeichnen vor allem nachfühlbar das Bild einer zerrissenen Künstlerpersönlichkeit: Joe D’Amato (bürgerlich: Aristide Massaccesi, 1936-1999) war schon als Kind an Sets, stieg in den späten 60ern auf zum Kameramann, bevor er zum Regisseur wurde und zeitweilig sogar eine eigene Produktionsfirma führte, mit der er improvisierfreudige Exploitation-Filme herstellte.
Besonderen Erfolg hatte er mit der »Black Emanuelle«-Reihe mit Laura Gemser, einigen vielleicht aus dem Schmuddelprogramm der Privaten bekannt, bei dem er blitzgescheit lästigen Streitigkeiten mit den französischen Rechteinhabern aus dem Weg ging, indem er einfach das zweite »M« im titelgebenden Namen wegließ. Unter seiner Regie entstanden aber auch bekannte Schocker wie Buio Omega (1980) und Anthropophagus (1982). Auf IMDB sind 99 Kinofilme mit D’Amato als Regisseur aufgeführt, wobei er zahlreiche weitere Pseudonyme genutzt hat. In den 80ern wagte er mit amerikanischen Schauspielern den Schritt in einen größeren Markt, doch verkalkulierte er sich und ging pleite.
Der Untergang seiner Firma trieb ihn dazu, Pornofilme (etwa den ersten italienischen Vertreter »Sesso nero«, später u. a. Zusammenarbeiten mit Rocco Sifredi, der durch Catherine Breillat kurzfristig in den Mainstream fand) zu inszenieren. Dieser Karriereknick kostete ihn seine ganze Reputation, fortan war er als Pornoregisseur stigmatisiert, trotz seines über viele Jahre erworbenen Netzwerks im italienischen Film. Eine Rückkehr in den Mainstream war ihm nicht mehr vergönnt, stattdessen drehte er über 100 Pornos. Es ist die alte, tragische Geschichte vom Künstlertalent, das sich eines Tages übernimmt und deswegen korrumpieren lässt. Der Film macht sehr deutlich, dass ihn dieser Umstand bis zu seinem Lebensende betrübt hat, und versucht posthum, die verlorengegangene Reputation wiederherzustellen.
Als internationaler Giallo-Connaisseur und -Fanboy dient hier Eli Roth, der D’Amato als vergessenen Meister in den Himmel rühmt. Wegbegleiter und Bewunderer wie Tinto Brass, Jess Franco und Lamberto Bava bemühen sich unisono um ein positives Bild. Schön ist, dass die Bandbreite der unzähligen Filme von D’Amato durch Sequenzen, die man als »Montagegewitter« beschreiben kann, also in rapider Geschwindigkeit aneinandergereihter Stills, gut angedeutet wird – man bekommt hier tatsächlich ein Gefühl dafür, wieviel schräges Zeugs dieser filmverrückte Mann, und das in den verschiedensten Genres, vom Spaghetti-Western über »Sexy«-Filme zum Giallo-Horror, in die Welt gesetzt hat.
Bemängeln muss man die apologetische Haltung des Films, der im letzten Drittel nicht aufhört zu betonen, dass D’Amato nicht aus freien Stücken Pornos gedreht, sondern sich dazu gezwungen gesehen habe. Dies wird auch gar nicht hinterfragt. Inferno rosso wandelt sich so zu einem Verteidigungspamphlet eines angeblich missverstandenen Genies. Dabei hätte man darauf eingehen können, inwieweit auch seine Pornografie ästhetischen Wert haben, zumindest Distinktionsmerkmale aufweisen könnte, es wird pauschal als Schmutz abgewertet, als seien wir immer noch im diskursfeindlichen, moralisierenden und heuchlerischen Klima, das D’Amato offensichtlich gebrochen hat.
Eine interessante Parallele: auch Giuseppe Tornatores Ennio zeichnet das Bild eines zerrissenen Genies. Lange hat der im letzten Jahr 91-jährig an den Folgen eines Sturzes verstorbene Morricone gebraucht zu akzeptieren, dass er »nur« Filmmusik komponiere. Sein überlebensgroßes Vorbild Goffredo Petrassi, bei dem er gelernt hatte, und seine Mitschüler nahmen dieses Beschäftigungsfeld einfach nicht ernst, da konnte Morricone so viele klassische Soundtracks komponieren, wie er wollte. In Petrassis O-Tönen wird nicht nur dessen snobistische Haltung, sondern auch die Verbitterung über eigene gescheiterte Filmprojekte deutlich.
Morricone kam schon mit 12 aufgrund seiner überragenden Trompeterkünste aufs Konservatorium, parallel dazu arbeitete er bereits an ersten eigenen Kompositionen. Am Anfang seiner Karriere war er ein begehrter Arrangeur, bis er erfolgreich Jazz- und Pop-Songs schrieb und schließlich in den 60ern völlig unverhofft fürs Kino entdeckt wurde. Die Geschichte nahm ihren Lauf, es folgte ein Welterfolg nach dem anderen wie Für eine Handvoll Dollar, Zwei glorreiche Halunken, Spiel mir das Lied vom Tod, Es war einmal in Amerika, The Untouchables – Die Unbestechlichen und Cinema Paradiso, allen seiner »Greatest Hits« wird im Film eine Bühne bereitet, die Liste seiner Regisseure liest sich wie ein Streifzug durch die Geschichte des italienischen Films: Wertmüller, Bellochio, Leone, Corbucci, Pasolini, Bertolucci, Argento, Tornatore. Auch international hat er seine Spuren hinterlassen und mit Größen wie Malick, De Palma, Almodóvar, Polanski und Tarantino gearbeitet.
Natürlich führte das bei seinen Berufskollegen auch zu Neid, wenn er stets die besten Aufträge an Land zog, und dann auch noch wie zum Hohn scheinbar mühelos sechs Scores pro Jahr komponieren konnte. IMDb weist die unglaubliche Zahl von 367 Credits alleine für Kinospielfilm-Produktionen aus. Dabei hat Morricone stets versucht zu vermeiden, sich zu wiederholen, er war in allen möglichen Genres unterwegs (und eben nicht nur im Western), wagte Experimente mit Verzerrungseffekten und atonaler Musik (was Kubrick auf ihn aufmerksam machte und ihm fast den Job für Uhrwerk Orange eingebracht hätte), zu seinem Wesen gehörte aber auch, durchaus streitbar, dabei von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen geplagt zu sein. Erst spät bekam er die ehrliche Anerkennung seiner alten Weggefährten, die von Hollywood in Form des Oscars sollte folgen.
Ennio ist monumental, mit knapp drei Stunden länger als die beiden vorgenannten Dokus zusammen. Auch die Schar der Gesprächspartner ist hier am eindrucksvollsten, Oliver Stone, Bruce Springsteen, Hans Zimmer, Bertolucci, Argento, natürlich der unvermeidbare Tarantino, um nur einige zu nennen. Dies ist einmal mehr eine gegenüber ihrem Protagonisten völlig unkritisch eingestellte Doku, aber filmisch mit Abstand am interessantesten, trotz der konventionellen Eckpfeiler Talking Heads/ Archivmaterial/Chronologie, denn das Sujet ist ungleich dankbarer, nicht nur wegen der reichen Lebensgeschichte (Stichwort: vollendete Heldenreise), sondern insbesondere wegen der Musik, Tornatore orchestriert die Karriere wie eine Symphonie, immer wieder schwellen die Klassiker Morricones an, von ihm selbst dirigiert in seinen Tourneen, darauf folgen wieder leisere, nachdenkliche Zwischentöne, Reflektionen, Bekenntnisse, bis der nächste Hit um die Ecke kommt.
Die knapp drei Stunden kann man also wie einen Konzertabend angehen, der auf der großen Leinwand gegeben wird, inklusive einer kurzen Ouvertüre (der klassische dreiminütige Teaser, der scheinbar alle heutigen Porträtfilme eröffnet) und einer Koda, die immer bombastischer wird, in einem zeit- und ortlosen Crescendo kulminiert, und sich dann doch Zeit für ein hingehauchtes Schlusswort nimmt. Ennio ist kein innovativer oder gar bahnbrechender Dokumentarfilm, aber eine umfassende Chronik, ein intimes Selbstzeugnis und ein enervierender Konzertfilm zugleich, über einen der bedeutendsten Künstler, die das Kino jemals hatte.