81. Filmfestspiele von Venedig 2024
81. Filmfestspiele von Venedig: Kurzkritiken |
Von Janick Nolting
Nicole Kidman in einer ihrer spannendsten Rollen. Als CEO einer erfolgreichen Firma lässt sie sich mit einem Praktikanten ein, um unerfüllte erotische Gelüste auszuleben. Sie riskiert damit ihr Ehe- und Familienleben. Babygirl spinnt daraus eine herrlich gewitzte, schlagfertige, reife Antwort auf reaktionäre Erotik- und Kapitalismusmärchen wie Fifty Shades of Grey. Vorstellungen bezüglich sozialer Rollen und Hierarchien im Privaten und Beruf sowie sexueller Praktiken werden ordentlich verunsichert und zur kommunikativen Herausforderung zwischen Konsens, Scham und Ausbeutung. Nur, ist diese Einhegung des Tabubruchs, die Wiederherstellung der spießigen Ordnung am Ende wirklich so weit von Fifty Shades und Co. entfernt?
Zwischen Leichenteilen, Geisterbahn-Kulissen, Kunstblut und Schreckgestalten tobt sich Tim Burton so richtig aus. Mit alten Bekannten (u.a. Michael Keaton, Winona Ryder) und neuen Stars (Monica Bellucci, Jenna Ortega, Willem Dafoe) lässt Burton seinen Lottergeist Beetlejuice noch einmal von der Leine und übt sich an einem Generationenwechsel, der gerade überall in der Filmindustrie üblich ist, wo man sich vor Neuem fürchtet und die alten Marken künstlich am Leben erhalten will. Das könnte als Spukgeschichte noch als subversiver Kommentar zu ebendieser Hollywood-Retromanie durchgehen, würde es seinen Fans nicht so selbstverliebt und berechenbar schleimigen Honig ums Maul schmieren. Er wiederholt pflichtbewusst, was der erste Teil längst gezeigt hat. Ein effektvoller, im besten Sinne altmodisch getrickster, aber belangloser Aufguss des Originals.
Eine weitere erstaunliche Genre-Übung von Kiyoshi Kurosawa. Das abstrakte, unterschwellige Grauen des Digitalzeitalters, dem sich der Regisseur früher widmete, hat inzwischen die konkrete Gestalt des schmutzigen Online-Geschäft angenommen. Sein Protagonist übt sich am Weiterverkauf von Waren, um dem tristen Angestelltenalltag zu entkommen, bis eine wütende Meute Jagd auf ihn macht. Kurosawas Kapitalismuskritik meistert dabei einen Spagat zwischen Tonalitäten und Formeln, wenngleich der bedrohliche, unvorhersehbare Grusel der ersten Hälfte stärker gerät als die repetitive Schusswaffen-Action der zweiten. Die formale Radikalität und Rätselhaftigkeit von Kurosawas Berlinale-Meisterwerk Chime erreicht sein neuer Film nicht.
Die Verfilmung des Bestsellers von Antonio Scurati zeigt den Faschismus so vulgär, wie man ihn wahrscheinlich zeigen muss. Joe Wright schert sich nicht um historischen Erkenntnisgewinn. All die Details und Akteure werden nur dürftig vorgestellt. Stattdessen giert Wrights TV-Serie über den Aufstieg Benito Mussolinis nach Spektakel. Eine selten stillstehende, rauschhafte, sehr brutale Attraktionsmontage, die demonstrieren will, wie schnell die Lust an der Autorität einen verhängnisvollen Machtwechsel herbeiführen kann. Luca Marinelli gibt dabei in grotesker Maskerade schauspielerisch Vollgas. Keifend, brüllend, schamlos spricht er durch die Kamera mit dem Publikum, das er gleich zu Beginn zum Bösen zu verführen verspricht. Marinelli ist sich auch nicht zu schade, die plakativsten, dämlichsten Parallelen und Vergegenwärtigungen des Stoffes aufzusagen: »Make Italy great again!«
Daniel Craig ist schwer zu fassen. Als Oscar-Kandidat gehandelt, zeigt der Ex-James-Bond eine grandiose, aber herausfordernde Leistung, die mehrere Ebenen im Spiel überlagert. Da ist die erdachte Rolle, ein alternder, mit seiner Sexualität hadernder Drogenabhängiger, der im Exil einem jungen Mann nachstellt, Liebe und Ekstase sucht. Da sind die Figur aus William S. Burroughs autobiografischer Romanvorlage und der Autor als Kunstfigur selbst. Sie versuchen, einander zusammenzuhalten in diesem herrlich überstilisierten Sex-und-Drogen-Rausch mit surrealen Trip-Sequenzen, der neben Suspiria das bislang gewagteste Werk in der Filmographie von Luca Guadagnino darstellt.
Almodóvars erster englischsprachiger Langfilm könnte auch vier oder fünf Stunden lang sein, und es wäre immer noch das reinste Vergnügen, Julianne Moore und Tilda Swinton dabei zuzusehen, wie sie über ihre Biographien sprechen, gemeinsam Bücher kaufen, Filme sehen oder einfach nur in der Sonne liegen. Ihre Figuren, eine Autorin und eine Kriegsreporterin, laden dazu ein, das Sterben leichter zu ertragen. Ein in seiner Moral transparenter, schnell durchschauter, aber auch zärtlicher und humorvoller Film über die Angst vor einer geschlossenen Tür und den Versuch, dem bloßen Fatalismus etwas entgegenzusetzen. Almodóvar hat das Experiment seiner jüngeren Kurzfilme, einer davon ebenfalls mit Swinton besetzt, besser zu Gesicht gestanden, aber wie kann man diesem grandiosen Schauspielerinnenfilm böse sein?
Wachträumendes Gruseln ist die Spezialität der Brüder Quay. Ihr neuer Film, lose basierend auf den literarischen Arbeiten von Bruno Schulz, ist ein weiterer fiebriger Trip zwischen Spiel- und Animationsfilm, Expressionismus und Surrealismus – mit schaurigen Puppen, abgeranzten Kulissen und sehenden Gestalten, die im Innern einer seltsamen Apparatur Wundersames, Triebhaftes, Unbewusstes erblicken. Die Quays üben sich erneut an einem magischen Kino, das einen vergangenen kulturellen Fundus in den Wurzeln des Jahrmarktkinos verortet, welches weder Plot noch rationale Erklärungen braucht, um in den uneindeutigen Bildern und Zeitschleifen die verblüffendsten Gebilde zu beschwören.
Der erste große Treffer von Tim Fehlbaum. Nach den schwächelnden Genre-Übungen Hell und Tides gelingt dem Schweizer Regisseur ein hochspannender Journalismus-Thriller, der die Geiselnahme israelischer Olympioniken durch palästinensische Terroristen im Jahr 1972 aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachtet. Der Terror wird medial. Eine Zäsur in der Geschichte. Spannung zieht Fehlbaum weniger aus didaktischen politischen Pamphleten oder einer bloßen Rekonstruktion der historischen Ereignisse, sondern der Beschneidung und Reflexion der Blickwinkel in einem Sendestudio. Ergibt ein unbequemes, vielschichtiges Kammerspiel, das journalistische Arbeitsprozesse und Konkurrenzen sowie die Auswahl und Verbreitung von Bildern in aller Ambivalenz und Brisanz zur Diskussion stellt.
Eine neue Höhlengeschichte. Nach den auratischen, geheimnisvollen Kammern des Grabräuber-Märchens La Chimera knöpft sich Alice Rohrwacher nun Platons Höhlengleichnis vor. In 20 Minuten bastelt die Regisseurin daraus eine charmante Coming-of-Age-Erzählung, die sich einem gesellschaftlichen Leistungsdruck und der Selbstausbeutung des Menschen mit hinreißenden Choreographien und visuellen Twists in den Weg stellt. Die Höhle, das Gefängnis der schnellen Großstadt, verwandelt ihr Kurzfilm in eine verblüffende Bilderwelt, in der die Häuserfassade zum Kunstwerk und das Kunstwerk zur Kinoleinwand wird. Man muss nur den Anfang finden, um die falschen Trugbilder von der Mauer zu reißen.
George Clooney und Brad Pitt verschenkt wie selten. Wenn einem kaum Chemie oder Dynamik in den Dialogen gelingt und wenig mehr einfällt, außer die beiden Hollywood-Stars ein paar halbgare Witze über ihr Altern und erste körperliche Gebrechen reißen zu lassen, dann stehen die Vorzeichen schlecht für eine Komödie. Davon abgesehen, dass diesem weihnachtlichen Gangsterfilm über eine eskalierende Leichen-Entsorgung auch auf Plotebene alle thematischen Anknüpfungspunkte entgleiten. Ein Rohrkrepierer der Biennale, dessen Kinostart zugunsten einer Streaming-Veröffentlichung abgesagt wurde.
Eine Chronik der Ausbeutung. Wang Bings zwischen 2014 und 2019 gedrehte Trilogie ist ein dokumentarischer Meilenstein. Seine Beobachtungen des Alltags in den heruntergekommenen Textilfabriken von Zhili zeigen nicht nur die perverse Selbstverständlichkeit von Armut und Raubbau an Menschen, sondern durch die Inkorporation von ökonomischen Ängsten, Drohungen, Leistungsdruck und Disziplinierungen auch, warum linke Revolutionen so schnell scheitern. Der erste Teil, mit über 200 Minuten der längste, entwirft weiterhin das komplexeste Bild dieser offengelegten Welt. Der zweite und dritte Teil »Hard Times« und »Homecoming« wiederholen viele bekannte Eindrücke, meistern aber dennoch interessante Schärfungen und Verschiebungen im Fokus, zuerst auf die Arbeitskämpfe in den Fabriken, jetzt auf den temporären Heimatbesuch. Es ist ein schmerzliches Schwanken zwischen privaten Glücksmomenten und dem Zurückkehren und Einhegen in die Realität der Arbeit.