31.08.2024
81. Filmfestspiele von Venedig 2024

81. Filmfestspiele von Venedig: Kurzkritiken

Filmfestspiele von Venedig

Kurz und gut: Spots auf Filme aus allen Sektionen der Filmfestspiele von Venedig (in alphabetischer Reihenfolge)

Von Janick Nolting

Babygirl (USA 2024 • R: Halina Reijn • Wett­be­werb)

Nicole Kidman in einer ihrer span­nendsten Rollen. Als CEO einer erfolg­rei­chen Firma lässt sie sich mit einem Prak­ti­kanten ein, um uner­füllte erotische Gelüste auszu­leben. Sie riskiert damit ihr Ehe- und Fami­li­en­leben. Babygirl spinnt daraus eine herrlich gewitzte, schlag­fer­tige, reife Antwort auf reak­ti­onäre Erotik- und Kapi­ta­lis­mus­mär­chen wie Fifty Shades of Grey. Vorstel­lungen bezüglich sozialer Rollen und Hier­ar­chien im Privaten und Beruf sowie sexueller Praktiken werden ordent­lich verun­si­chert und zur kommu­ni­ka­tiven Heraus­for­de­rung zwischen Konsens, Scham und Ausbeu­tung. Nur, ist diese Einhegung des Tabu­bruchs, die Wieder­her­stel­lung der spießigen Ordnung am Ende wirklich so weit von Fifty Shades und Co. entfernt?

Beet­le­juice Beet­le­juice (USA, UK 2024 • R: Tim Burton • außer Konkur­renz)

Zwischen Leichen­teilen, Geis­ter­bahn-Kulissen, Kunstblut und Schreck­ge­stalten tobt sich Tim Burton so richtig aus. Mit alten Bekannten (u.a. Michael Keaton, Winona Ryder) und neuen Stars (Monica Bellucci, Jenna Ortega, Willem Dafoe) lässt Burton seinen Lotter­geist Beet­le­juice noch einmal von der Leine und übt sich an einem Gene­ra­tio­nen­wechsel, der gerade überall in der Film­in­dus­trie üblich ist, wo man sich vor Neuem fürchtet und die alten Marken künstlich am Leben erhalten will. Das könnte als Spuk­ge­schichte noch als subver­siver Kommentar zu eben­dieser Hollywood-Retro­manie durch­gehen, würde es seinen Fans nicht so selbst­ver­liebt und bere­chenbar schlei­migen Honig ums Maul schmieren. Er wieder­holt pflicht­be­wusst, was der erste Teil längst gezeigt hat. Ein effekt­voller, im besten Sinne altmo­disch getrickster, aber belang­loser Aufguss des Originals.

Cloud (JPN 2024 • R: Kiyoshi Kurosawa • außer Konkur­renz)

Eine weitere erstaun­liche Genre-Übung von Kiyoshi Kurosawa. Das abstrakte, unter­schwel­lige Grauen des Digi­tal­zeit­al­ters, dem sich der Regisseur früher widmete, hat inzwi­schen die konkrete Gestalt des schmut­zigen Online-Geschäft ange­nommen. Sein Prot­ago­nist übt sich am Weiter­ver­kauf von Waren, um dem tristen Ange­stell­ten­alltag zu entkommen, bis eine wütende Meute Jagd auf ihn macht. Kurosawas Kapi­ta­lis­mus­kritik meistert dabei einen Spagat zwischen Tona­li­täten und Formeln, wenn­gleich der bedroh­liche, unvor­her­seh­bare Grusel der ersten Hälfte stärker gerät als die repe­ti­tive Schuss­waffen-Action der zweiten. Die formale Radi­ka­lität und Rätsel­haf­tig­keit von Kurosawas Berlinale-Meis­ter­werk Chime erreicht sein neuer Film nicht.

M. Il figlio del secolo (ITA, FR 2024 • R: Joe Wright • außer Konkur­renz)

Die Verfil­mung des Best­sel­lers von Antonio Scurati zeigt den Faschismus so vulgär, wie man ihn wahr­schein­lich zeigen muss. Joe Wright schert sich nicht um histo­ri­schen Erkennt­nis­ge­winn. All die Details und Akteure werden nur dürftig vorge­stellt. Statt­dessen giert Wrights TV-Serie über den Aufstieg Benito Musso­linis nach Spektakel. Eine selten still­ste­hende, rausch­hafte, sehr brutale Attrak­ti­ons­mon­tage, die demons­trieren will, wie schnell die Lust an der Autorität einen verhäng­nis­vollen Macht­wechsel herbei­führen kann. Luca Marinelli gibt dabei in grotesker Maskerade schau­spie­le­risch Vollgas. Keifend, brüllend, schamlos spricht er durch die Kamera mit dem Publikum, das er gleich zu Beginn zum Bösen zu verführen verspricht. Marinelli ist sich auch nicht zu schade, die plaka­tivsten, dämlichsten Paral­lelen und Verge­gen­wär­ti­gungen des Stoffes aufzu­sagen: »Make Italy great again!«

Queer (USA, ITA 2024 • R: Luca Guad­a­gnino • Wett­be­werb)

Youth: Homecoming
(Foto: Film­fest­spiele Venedig | Wang Bing)

Daniel Craig ist schwer zu fassen. Als Oscar-Kandidat gehandelt, zeigt der Ex-James-Bond eine grandiose, aber heraus­for­dernde Leistung, die mehrere Ebenen im Spiel über­la­gert. Da ist die erdachte Rolle, ein alternder, mit seiner Sexua­lität hadernder Drogen­ab­hän­giger, der im Exil einem jungen Mann nach­stellt, Liebe und Ekstase sucht. Da sind die Figur aus William S. Burroughs auto­bio­gra­fi­scher Roman­vor­lage und der Autor als Kunst­figur selbst. Sie versuchen, einander zusam­men­zu­halten in diesem herrlich über­sti­li­sierten Sex-und-Drogen-Rausch mit surrealen Trip-Sequenzen, der neben Suspiria das bislang gewag­teste Werk in der Filmo­gra­phie von Luca Guad­a­gnino darstellt.

The Room Next Door (ESP 2024 • R: Pedro Almodóvar • Wett­be­werb)

Almo­dó­vars erster englisch­spra­chiger Langfilm könnte auch vier oder fünf Stunden lang sein, und es wäre immer noch das reinste Vergnügen, Julianne Moore und Tilda Swinton dabei zuzusehen, wie sie über ihre Biogra­phien sprechen, gemeinsam Bücher kaufen, Filme sehen oder einfach nur in der Sonne liegen. Ihre Figuren, eine Autorin und eine Kriegs­re­por­terin, laden dazu ein, das Sterben leichter zu ertragen. Ein in seiner Moral trans­pa­renter, schnell durch­schauter, aber auch zärt­li­cher und humor­voller Film über die Angst vor einer geschlos­senen Tür und den Versuch, dem bloßen Fata­lismus etwas entge­gen­zu­setzen. Almodóvar hat das Expe­ri­ment seiner jüngeren Kurzfilme, einer davon ebenfalls mit Swinton besetzt, besser zu Gesicht gestanden, aber wie kann man diesem gran­diosen Schau­spie­le­rin­nen­film böse sein?

Sana­to­rium under the Sign of the Hourglass (POL, DE, UK 2024 • R: Quay Brothers • Giornate degli Autori)

Wach­träu­mendes Gruseln ist die Spezia­lität der Brüder Quay. Ihr neuer Film, lose basierend auf den lite­ra­ri­schen Arbeiten von Bruno Schulz, ist ein weiterer fiebriger Trip zwischen Spiel- und Anima­ti­ons­film, Expres­sio­nismus und Surrea­lismus – mit schau­rigen Puppen, abge­ranzten Kulissen und sehenden Gestalten, die im Innern einer seltsamen Apparatur Wunder­sames, Trieb­haftes, Unbe­wusstes erblicken. Die Quays üben sich erneut an einem magischen Kino, das einen vergan­genen kultu­rellen Fundus in den Wurzeln des Jahr­markt­kinos verortet, welches weder Plot noch rationale Erklärungen braucht, um in den unein­deu­tigen Bildern und Zeit­schleifen die verblüf­fendsten Gebilde zu beschwören.

September 5 (DE 2024 • R: Tim Fehlbaum • Orizzonti Extra)

September 5
(Foto: Film­fest­spiele Venedig | Tim Fehlbaum)

Der erste große Treffer von Tim Fehlbaum. Nach den schwächelnden Genre-Übungen Hell und Tides gelingt dem Schweizer Regisseur ein hoch­span­nender Jour­na­lismus-Thriller, der die Geisel­nahme israe­li­scher Olym­pio­niken durch paläs­ti­nen­si­sche Terro­risten im Jahr 1972 aus einer unge­wöhn­li­chen Perspek­tive betrachtet. Der Terror wird medial. Eine Zäsur in der Geschichte. Spannung zieht Fehlbaum weniger aus didak­ti­schen poli­ti­schen Pamphleten oder einer bloßen Rekon­struk­tion der histo­ri­schen Ereig­nisse, sondern der Beschnei­dung und Reflexion der Blick­winkel in einem Sende­studio. Ergibt ein unbe­quemes, viel­schich­tiges Kammer­spiel, das jour­na­lis­ti­sche Arbeits­pro­zesse und Konkur­renzen sowie die Auswahl und Verbrei­tung von Bildern in aller Ambi­va­lenz und Brisanz zur Diskus­sion stellt.

An Urban Allegory (FRA 2024 • R: Alice Rohr­wa­cher • Außer Konkur­renz)

Eine neue Höhlen­ge­schichte. Nach den aura­ti­schen, geheim­nis­vollen Kammern des Grab­räuber-Märchens La Chimera knöpft sich Alice Rohr­wa­cher nun Platons Höhlen­gleichnis vor. In 20 Minuten bastelt die Regis­seurin daraus eine charmante Coming-of-Age-Erzählung, die sich einem gesell­schaft­li­chen Leis­tungs­druck und der Selbst­aus­beu­tung des Menschen mit hinreißenden Choreo­gra­phien und visuellen Twists in den Weg stellt. Die Höhle, das Gefängnis der schnellen Großstadt, verwan­delt ihr Kurzfilm in eine verblüf­fende Bilder­welt, in der die Häuser­fas­sade zum Kunstwerk und das Kunstwerk zur Kino­lein­wand wird. Man muss nur den Anfang finden, um die falschen Trug­bilder von der Mauer zu reißen.

Wolfs (USA 2024 • R: Jon Watts • außer Konkur­renz)

George Clooney und Brad Pitt verschenkt wie selten. Wenn einem kaum Chemie oder Dynamik in den Dialogen gelingt und wenig mehr einfällt, außer die beiden Hollywood-Stars ein paar halbgare Witze über ihr Altern und erste körper­liche Gebrechen reißen zu lassen, dann stehen die Vorzei­chen schlecht für eine Komödie. Davon abgesehen, dass diesem weih­nacht­li­chen Gangs­ter­film über eine eska­lie­rende Leichen-Entsor­gung auch auf Plotebene alle thema­ti­schen Anknüp­fungs­punkte entgleiten. Ein Rohr­kre­pierer der Biennale, dessen Kinostart zugunsten einer Streaming-Veröf­fent­li­chung abgesagt wurde.

Youth (Home­co­ming) (CHN 2024 • R: Wang Bing • Wett­be­werb)

Youth: Homecoming
(Foto: Film­fest­spiele Venedig | Wang Bing)

Eine Chronik der Ausbeu­tung. Wang Bings zwischen 2014 und 2019 gedrehte Trilogie ist ein doku­men­ta­ri­scher Meilen­stein. Seine Beob­ach­tungen des Alltags in den herun­ter­ge­kom­menen Textil­fa­briken von Zhili zeigen nicht nur die perverse Selbst­ver­s­tänd­lich­keit von Armut und Raubbau an Menschen, sondern durch die Inkor­po­ra­tion von ökono­mi­schen Ängsten, Drohungen, Leis­tungs­druck und Diszi­pli­nie­rungen auch, warum linke Revo­lu­tionen so schnell scheitern. Der erste Teil, mit über 200 Minuten der längste, entwirft weiterhin das komple­xeste Bild dieser offen­ge­legten Welt. Der zweite und dritte Teil »Hard Times« und »Home­co­ming« wieder­holen viele bekannte Eindrücke, meistern aber dennoch inter­es­sante Schär­fungen und Verschie­bungen im Fokus, zuerst auf die Arbeits­kämpfe in den Fabriken, jetzt auf den tempo­rären Heimat­be­such. Es ist ein schmerz­li­ches Schwanken zwischen privaten Glücks­mo­menten und dem Zurück­kehren und Einhegen in die Realität der Arbeit.