17.10.2024
Cinema Moralia – Folge 335

Liebe und Schönheit

Carax It's not me
Szene aus dem Viennale-Eröffnungsfilm C'est pas moi von Leos Carax
(Foto: Vienneale 24)

Male Gaze at its best: Das Sehen des Sehens, Identität möglicherweise, Geschichten aus der Geschichte des Verfalls der Bilder, und der Visual Turn des Massakers – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 335. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Das hat es noch nie gegeben: Ein nur 41-Minuten langer Film als Eröff­nungs­film eines Film­fes­ti­vals. Aber jetzt geschieht es auf der Viennale und mit diesem genialen und voll­kommen ange­mes­senen Move beginnt sich Eva Sangiorgi, seit 2018 die Direk­torin der Viennale, tatsäch­lich als legitime Nach­fol­gerin von Hans Hurch zu etablieren. Denn es geht nicht um Filmlänge und Reprä­sen­tanz und Staats­tra­gendes, sondern es geht um Cine­philie, um Liebe zum Kino, besser gesagt zum Film auf allen Kanälen und Platt­formen und Distri­bu­ti­ons­mög­lich­keiten. Godard auf dem Smart­phone mag eine Barbarei sein, ist aber immer noch besser, als eine ganze Netklicks-Serie auf der großen Leinwand.
Und 41 Minuten Carax sind besser als das Gesamt­werk vieler Kino­re­gis­seure.
So einen Film wie C'est pas moi von Leos Carax, den morgigen Eröff­nungs­film der dies­jäh­rigen Viennale hätte sonst nur Godard hinbe­kommen – und mit diesem Film etabliert sich Carax als der einzige legitime Nach­folger von Jean Luc Godard.

»Beauty imposes the blink of an eye.« »Schönheit erzwingt den Wimpern­schlag« – es ist eine Ironie, scheint uns Leos Carax zu sagen, dass die Welt von uns verlangt, dass wir aufhören zu sehen, um weiter zu schauen.
Wie kann jemand, der Bilder macht, wie kann ein Filme­ma­cher, dies beher­zigen? Indem er auf das zurück­greift, was bereits gefilmt wurde, auf bereits exis­tie­rende Bilder, indem er sich dafür entscheidet, keine neuen Bilder zu schaffen, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. In einem Wimpern­schlag sehen wir nun, was wir schon gesehen haben, aber mit einem neuen Blick: Das Licht hat sich verändert, die Musik auch, alles ist anders. Als klare Hommage an Jean-Luc Godard, dessen Typo­grafie und Stimme er imitiert, begibt sich Carax in C'est pas moi auf eine persön­liche, essay­is­ti­sche Reise durch sein eigenes Kino und sein eigenes Leben, die beide eng mitein­ander verwoben, mögli­cher­weise identisch sind und von Liebe und Schönheit ange­trieben werden, den einzigen beiden Motoren, die zählen. Indem er von Bild zu Bild springt, lässt Carax seine eigene Geschichte als Künstler, die jüngste Geschichte der Bilder und ihres Verfalls und seine anhal­tende Ausein­an­der­set­zung mit dem Kino Revue passieren. Und mit einer Frau: Katerina Golubeva, Schau­spie­lerin und Mutter seiner Tochter. Es ist ein Film, der in vielerlei Hinsicht gelesen werden kann: eine Hymne, ein Psalm, ein schöner und enthu­si­as­ti­scher Abschied. Male Gaze at its best.

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Zur Zeit brodelt alles, kocht über in der Filmszene, wir kommen nicht hinterher, sammeln nur die Lumpen auf der Straße ein: Wir müssen über die Film­för­de­rung schreiben, über die desas­tröse Lage des deutschen Films, über die tolle Münchner Nach­wuchs­fil­me­ma­cherin Sophie Mühe, die in Frankfurt einen Preis bekam, und die nicht weniger tolle Marga­rethe von Trotta, die ebenfalls einen Preis bekam, und über unser Gespräch mit ihr. Alles in den nächsten Wochen. Genauso dann über Köln, über European Work in Progress und den damit zusam­men­hän­genden Inter­na­tional Film Distri­bu­tion Summit und über so manches mehr.
Wirklich: Alles sobald wie (mir) möglich!

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Das Pogrom vom 7. Oktober 2023, das größte Massaker an Juden in der Welt seit dem Ende des Natio­nal­so­zia­lismus und des Zweiten Welt­kriegs, hat auch die deutsche Kultur verändert.

Für die Filmwelt ist der Einschnitt ein besonders zentraler: Was sich schon vorher, etwa bei den Ereig­nissen rund um die »documenta XV« und die zeit­gleiche Berliner Tagung »Hijacking History« gezeigt hatte, wurde nun unüber­sehbar: Film und bewegte Bilder sind zu einer Waffe sowohl für die Täter als auch für Partei­gänger und Inter­preten im Kampf um Deutungs­ho­heit geworden.

Indem die Mörder vom 7. Oktober ihre Taten foto­gra­fierten und live filmten und diese Bild- und Tondo­ku­mente in Echtzeit global verbrei­teten, setzten sie Film bewusst als Waffe ein. Sie wollten ein visuelles Signal in alle Welt schicken, wollten Juden wie Nicht­juden mitteilen: »Wir wollen das jüdische Volk mit größt­mög­li­cher Bruta­lität ausrotten.«
Der Film wurde zum privi­le­gierten Medium der »geno­zi­dalen Botschaft« (Dan Diner) der Täter der Hamas.

Dieser Einsicht stellt sich die Welt des Films – Filme­ma­cher, Kuratoren und Festivals, Film­kritik und Film­ver­trieb – bisher kaum. Sie wird nicht reflek­tiert, disku­tiert, und bleibt dementspre­chend konse­quenzlos.

Statt­dessen wird auch das Feld des Films, werden Film­fes­ti­vals, Film­de­batten und die Filme selbst zum Schau­platz der verschärften Fort­set­zung bekannter Debatten.

Auch infolge des »Visual Turn« und der heute zentralen Bedeutung bewegter Bilder in Popkultur und Social-Media-Kommu­nik­tion herrschen Unifor­mie­rung und Einschüch­te­rung vor. Und Konfor­mi­täts­druck. Nicht nur in der allzu ideo­lo­gisch forma­tierten failed city Berlin.

Dem widmet sich jetzt eine hoch­karätig besetzte Veran­stal­tung in Stuttgart: Nicht das Kino, sondern die Fakultät für Archi­tektur initi­ierte diese Tagung über Anti­se­mi­tismus im kultu­rellen Feld, die das Kino, das deutsche, und sein Umfeld verändern wird, obwohl es um dieses Kino nicht zentral geht. Ich habe die Ehre, daran teil­zu­nehmen – mit Freunden, unter Gleich­ge­sinnten, was auch wieder nicht allen gefallen wird. Gut so! Denn um Gefäl­liges geht es als Aller­letztes.

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Wir freuen uns auf Wien, wir freuen uns auf neue Filme, auf Liebe und Schönheit!