»Jeder würde dort lieber nicht hingehen...« |
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Regisseur Ulrich Seidl | ||
(Foto: Neue Visionen Filmverleih) |
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
Der 1952 geborene Ulrich Seidl ist Film- und Theaterregisseur und lebt in Wien. Sein Werk tänzelt auf der grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm: Tierische Liebe (1995), Models (1998), Hundstage (2001), Jesus, du weißt (2003) Import Export (2007). Jetzt präsentiert er seine Paradies-Trilogie, deren zweiter Teil Paradies: Glaube jetzt (nach Paradies: Liebe) ins Kino kommt.
Nächste Woche folgt der zweite Teil unseres längeren Gesprächs, das Anfang März in Berlin geführt wurde.
Es beginnt damit, dass Ulrich Seidl ins Zimmer hereinkommt, und erzählt, noch bevor das Band läuft, von dem vorherigen Interview, einem Radio-Interview. Das hat ihn genervt, weil...
Ulrich Seidl: ...weil das kein Gespräch war, sondern ein Abhaken von Fragen. Ohne Gespür. Ich habe nie gewusst: Habe ich was richtig beantwortet? Es war ohne Nachfragen. Frage – Antwort – nächste Frage.
artechock: Radio ist auch das Schwierigste. Also Herzliche Gratulation zu Ihrem Preis in Venedig...
Seidl: [lacht] ...und zu dem leider Kein-Preis in Berlin.
artechock: Tja, das wollte ich jetzt nicht so sagen. Aber ist Ihnen das überhaupt wichtig? Preise? Es ist halt eine Anerkennung...
Seidl: Ja, natürlich ist das eine Anerkennung. Natürlich ist so ein Preis mehr für andere, für die Medien und für Menschen, die das wahrnehmen wichtiger, als für mich selbst. Es hilft mitunter meiner Arbeit.
artechock: Fühlen Sie sich denn aufgehoben und angemessen wahrgenommen in diesen Begriffen, die mit ihrem Namen herumwabern? Hier im Presseheft vor uns steht auch über Paradies: Glaube »Der Skandalfilm von Venedig«. Oder wenn man an die Dezember-Ausgabe der Cahiers denkt: »Provokation um der Provokation« willen, heißt es da in Bezug auf Ihren Namen in einer Liste der zehn „Todsünden des Autorenkinos“.
Gewissermaßen stehen Sie da in so einer Ecke: Jetzt kommt der Schocker-Seidl...
Seidl: Das ist mir natürlich nicht recht. Das ist ja von mir nicht so beabsichtigt, aber ich bin froh darüber, dass das nicht allgemein so ist, sondern dass das gewisse Kritiker so sehen oder so sehen wollen, man kann ja was man darüber berichtet oder schreibt, daran aufhängen. Das ist ja sehr gut: Provokation. Insofern nützt es zwar, aber ich finde mich in dem Sinn nicht richtig verstanden, weil ich nicht provoziere um des Provozierens willen. Sondern weil ich das Anliegen habe, ganz bestimmte Dinge zu zeigen, gewisse Wahrheiten zu zeigen, die sehr oft Abgründe des Menschlichen sind. Hinter die Fassade zu blicken und daraus entsteht die Provokation – weil man das nicht wahrhaben will, wenn man genau hinschaut und erkennt, wie schrecklich das ist. Und aber auch erkennt, dass man selber damit zu tun hat und das das nicht etwas ist, was man wegschieben kann. Insofern liegt die Provokation oft im Normalen...
artechock: Also den Begriff Provokation würden Sie schon als angemessen...
Seidl: Na ich weiß schon, dass die Filme das auslösen. Aber nehmen wir jetzt nur die Geriatrie in Import Export her: Das ist ja etwas, was zu unserer Gesellschaft gehört – und zwar massiv gehört. Und es ist offensichtlich provozierend zu zeigen was dort ist, wie es dort ausschaut. Da frage ich mich, wieso? Wir sollten uns eigentlich damit
beschäftigen.
Ich weiß auch: Das fällt uns aber schwer. Niemand geht dort gerne hin. Jeder würde dort lieber nicht hingehen, hat aber dann ein schlechtes Gewissen, weil er nicht hingeht. Weil er die Menschen gewissermaßen vernachlässigt. Es ist auch abstrus, nicht? Weil unsere Gesellschaften veralten. Aber es ist auch das schlechte Gewissen gegenüber so einer Gesellschaft, die sich überall so Gefängnisse baut, um es drastisch zu sagen: Da sind die Alten, die sind eh versorgt; die
Kinder sind auch versorgt, die Narrischen und überall ist alles so weggesperrt, aber persönlich lebt man nicht mehr damit. Das finde ich problematisch, nicht?
artechock: Was Sie gerade sagen, erinnert mich an Foucault und dessen Ansatz die Geschichte der Institutionen zu untersuchen. Der hat ja ein Buch über Krankenhaus geschrieben, über die Irrenanstalten. Man könnte, denke ich gerade, ihre Filme auch als Untersuchungen im Gefolge Foucaults beschreiben...
Seidl: Mich hat das – ohne jetzt auf Foucault Bezug zu nehmen – schon immer interessiert: Der Mensch in den Institutionen. Ich habe mal versucht – das ist aber ein Fragment geblieben – nur über Institutionen menschlichen Alltag darzustellen. Es beginnt in der Geburtenklinik, und es endet im Krankenhaus, in der Prosektur und im Kühlschrank. Und auch der Friedhof ist wieder Institution. Und so durchschreitet man die Schule, auch die Kirche, das Militär, das Amt und den Beruf. So könnte man es auch beschreiben: Als schreckliches Schreckenskabinett.
artechock: Sind Sie überhaupt jemand, der sich mit Theorie beschäftigt? Lesen Sie das privat oder für die Recherche?
Seidl: Nein. Also ich funktioniere ein bisschen anders: Die Basis, die Idee oder der Ursprung zu einer Arbeit kommt eher von eigenen Empfindungen über Dinge, die ich sehe, beobachte, empfinde, Menschen, denen ich begegne, natürlich auch über Dinge, die ich lese – etwas was mich natürlich emotional beschäftigt oder auch im Sinne eines Schreis nach: Es geht nicht!
artechock: Aber das könnte ja Theorie auch sein, oder ein historisches Buch...
Seidl: Kann schon sein. Ja ja. Aber die Basis meiner Filme ist kein theoretischer Ansatz.
artechock: Jetzt hier, bei Ihrer Trilogie: Da interessiert mich zunächst sehr banal der Titel. »Glaube – Liebe – Hoffnung« ist ein Topos, heißt aber bei ihnen anders: »Liebe – Glaube – Hoffnung«. Ich nehme an, das hat einen Grund und ist kein Zufall. Oder ist es doch ein Zufall, der sich ergeben hat aus der Genese des Projekts. Denn ursprünglich war die Trilogie ja geplant als ein einziger Film, der dann immer länger wurde.
Seidl: Also es ist ein halber Zufall. Am Anfang war es ja ein Projekt: Paradies. Dann sind es drei Filme geworden. Das Wichtigste war, die Reihenfolge dieser Filme festzulegen. Wie sollen die Filme in die Welt kommen, in welcher Reihenfolge sollen sie angeschaut werden? Das herauszufinden war das Wichtigste. Dann ist die Titelgebung gekommen. Und der Titel war dann da, aber passend ist es in der dramaturgischen Reihenfolge. Deshalb die kleine dramaturgische Abänderung.
artechock: Die man auch als einen Bogen sehen könnte...
Seidl: Man kann das ja auch umtauschen. Alle drei Begriffe sind auf alle drei Filme anwendbar. Jeder Film hat mit Liebe sowieso zu tun, mit Hoffnung auch und mit Glaube – wenn man den Glauben weiter interpretiert – auch. Auch die Theresa glaubt an irgendetwas.
artechock: Das, was die Filme und die Hauptfiguren verbindet, ist Intimität...
Seidl: Intimität, Körperlichkeit, auch Sexualität.
artechock: Aber in dem Sinn, dass wir bei den Figuren Dinge erleben und sehen, die wir normalerweise von engen Vertrauten kennen, aber nicht von fremden Menschen.
Seidl: Was ist die Frage?
artechock: Ob Sie diesen Gedanken teilen können? Oder ob Sie meinen, das Intimität etwas anderes ist?
Seidl: Die Intimität?
artechock: Darum uns etwas zu zeigen, was wir sonst nicht sehen können, weil es näher an uns ran geht.
Seidl: Ja, das ist immer bei jedem Film die Absicht: Den Zuschauer – und das sind wir ja auch alle – bei diesem Privaten und Intimen zu stören oder ihm ein anderes Bild zu geben. In diesem Fall ja auch die Frage nach dem Bild der Schönheit des Körpers, das ein medial Verordnetes ist. Menschen, die dem nicht entsprechen, haben sehr oft ein Problem damit. Wie im ersten Film gezeigt wird: Eine Frau, die nicht mehr attraktiv ist, die übergewichtig ist, findet nicht mehr den Mann, den sie finden will, geht dann nach Afrika. Da ist das Thema, also ihr Problem kein Problem mehr. Da ist sie mit dem Übergewicht eine schöne attraktive Frau. Da ist sie kulturell anders.
Da kommt’s dann zu einer anderen Problematik, nämlich, dass sie weiß ist und Geld hat. Aber diese Hinterfragung unserer gesellschaftlichen Realität dadurch, dass wir dann plötzlich eine ganz andere Körperlichkeit sehen, von der ich glaube, dass sie die eigentliche ist – da sind dann Menschen ganz überrascht, und denken: Ja, das ist jetzt aber nicht das Wirkliche. Weil sie so festgefahren sind im fremden Bild.
artechock: Wären die Filme auch erzählbar, wenn Männer die Hauptfiguren wären?
Seidl: Ja. Die Filme wären anders erzählt. Aber natürlich haben Männer genauso Sehnsucht nach Liebe, Sehnsucht nach Zärtlichkeit – all das haben die Männer auch, in einer anderen Art und Weise.
artechock: Sie würden aber anders wahrgenommen werden. Oder täusche ich mich da? Mir scheint besonders der Liebe-Film würde anders wahrgenommen werden.
Seidl: Der erste?
artechock: Ja.
Seidl: Naja. Männlicher Sextourismus um bei dem Schlagwort zu bleiben, schaut anders aus, wird anders abgehandelt.
artechock: Von der gleichen Sehnsucht könnten Sie bei Männern auch erzählen...
Seidl: Also Männer wollen vielleicht nicht so sehr von Gefühlen sprechen, lassen das weniger zu. Was nicht heißt, dass sie es nicht in sich tragen. Das Sexgeschäft läuft bei Männern anders.
Also: Bei den Frauen ist es so, dass Sexualität noch einen Mantel braucht. Noch was dazu. Eben diese Anbahnung, und diese Zärtlichkeit – das man so genommen wird, wie man ist.
Beim Mann ist oft der Sexualtrieb, die reine Sexualität im
Vordergrund.
Fortsetzung folgt...