13.02.2003
53. Berlinale 2003

Ob die Welt noch steht.

In This World
Winterbottoms IN THIS WORLD
(Foto: Arsenal)

Bericht von der 53. Berlinale

Von Thomas Willmann

Abends, nachts, wenn man aus dem letzten Film des Tages, noch halb im Kino­rausch, in sein Berliner Quartier gewankt kommt, wird dieses Jahr als erstes stets der Fernseher angemacht. Um zu sehen, ob jetzt schon Krieg ist im Irak. Ob die Welt noch steht.

Sind Film­fes­ti­vals ohnehin schon perfekt geeignet, einem aus aller Realität zu heben, so ist es die Berlinale doch noch ein Stück perfekter, seit sie am Potsdamer Platz residiert, dieser tyran­ni­schen New Economy-Utopie, Stein, Glas und Chrom gewordene Science Fiction vom verfalls­freien, design­baren, »offenen« und »freien« Menschen. Dieses Jahr aber haben die Reali­täten schon im Vorfeld zuge­schlagen: Nicht nur Deutsch­land, auch die Berlinale ist weniger rot als vor 12 Monaten – der Haupt­sponsor Premiere mitsamt seiner Signal­farbe ist (warum wohl?) nirgends mehr zu erblicken. Das Geld ist knapp, das Festival einen Tag kürzer, die Filme weniger geworden, der Trailer vom Vorjahr recycled. Dass am Potsdamer Platz noch immer neue Wolken­kratzer hoch­ge­zogen werden wirkt wie das trotzige Fest­halten an einem längst geplatzten Traum.
Befinden Filme sich ohnehin immer im Span­nungs­feld zwischen Abbildung, Aufzeich­nung von Welt und Erschaf­fung ihres eigenen künst­li­chen Univer­sums, so scheint die Posi­tio­nie­rung auf dieser Achse die Auswahl der Werke diesmal besonders stark zu beschäf­tigen.

Der Eröff­nungs­film, CHICAGO, beginnt mit der Kame­ra­fahrt auf ein Auge zu, in das Schwarz inmitten der Iris hinein. Will man das als ein program­ma­ti­sches Statement lesen, dann könnte die Sache nicht klarer sein: Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Ein Musical zu wählen als Start­schuss, noch dazu ein so mit Wonne arti­fi­zi­elles wie CHICAGO, das scheint ein Plädoyer zu sein für Kino als Karneval der Künst­lich­keit.

Aber so einfach ist das alles nicht: CHICAGO hat viel über die wahre Welt zu sagen – es ist ein Film darüber, wie alles im Leben nur eine Perfor­mance ist, wie unser Reden und Handeln immer quasi Singen und Tanzen für ein Publikum sind. Rob Marshalls Werk flieht nicht vor der Welt, ist nicht einfach pure Fiktion, sondern er zeigt selbst, wie Welt trans­for­miert wird zum Spektakel. Und beharrt dabei zugleich, so schnell und virtuos er auch geschnitten sein mag, auf der Macht des Kinos als wahr­heits­ge­treue Aufzeich­nungs­ma­schine: Eine seiner (im Abspann auch noch einmal extra betonten) Haupt­at­trak­tionen ist, dass die Stars hier wirklich selbst trällern und steppen, dass wir auch in den Musik­num­mern ihren authen­ti­schen Körpern zuhören und -sehen dürfen. Und während keiner dieser Stars dabei die selbe Magie entfes­seln kann, die einem beim Ansehen der Großen des Genres, bei einem Astaire, einem Kelley, einer Rogers anrührt, so machen sie ihre Sache doch erstaun­lich gut.

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Vermeint­lich größt­mög­li­ches Kontrast­pro­gramm dann beim ersten Wett­be­werbs­film: IN THIS WORLD heißt, nicht weniger program­ma­tisch lesbar, Michael Winter­bot­toms Beitrag. Die Geschichte zweier paki­sta­ni­scher Flücht­linge und ihrem langen, illegalen Weg nach London. Gedreht auf DV, mit winzigem Team und Laien­dar­stel­lern, nur an Origi­nal­schau­plätzen. Mit einer Offenheit gegenüber dem, was vor Ort zu finden und zu sehen ist, die sich auszahlt: Das ist eben – viel­leicht sogar gegen seinen ursprüng­li­chen eigenen Willen – keiner dieser Beden­ken­träger- und Gutmen­schen­filme, die sich zum Sprach­rohr für Entrech­tete machen wollen und doch nur ihre eigenen, kopf­ge­bo­renen Parolen hinaus­po­saunen. IN THIS WORLD suhlt sich nicht im Elend; über weite Strecken sucht er es nicht einmal und findet es noch seltener. Von einigen etwas aufdring­li­chen Musik­ein­ätzen abgesehen, ist er erstaun­lich emoti­ons­frei, nimmt ohne Schreien und Klagen hin was kommt. Zwar gibt es kurze Einschübe, in denen eine Stimme aus dem Off zu compu­ter­ge­nerierten Land­kar­ten­bil­dern Daten und Fakten zu Flücht­lings­strömen doziert (was in seiner eindeutig kennt­li­chen Lehrer­pult-Haltung auch wieder in Ordnung geht) – aber sonst ist der Film auch frei von Thesen.

Freilich, es sind die warmen, weichen, gold­braunen Farbtöne der Video­ka­mera, sind ihre Breitwand-Bilder, die viel über die Haltung bestimmen, mit der man als Zuschauer das Gezeigte aufnimmt. Aber dennoch wirkt es, als hätte die Wirk­lich­keit manch Sieg errungen über vorge­fasste Konzepte. Das bestätigt sich auf der Pres­se­kon­fe­renz, wo Winter­bottom und seine Produ­zenten erzählen, wie in einem Dorf nahe der türki­schen Grenze die Menschen so freund­lich und hilfs­be­reit waren, dass das Filmteam es nicht mehr verant­wortbar fand, die eigent­lich geplante Episode von übler Behand­lung der und Verrat an den Flücht­lingen zu insze­nieren. Statt dessen findet sich im Film an dieser Stelle jetzt eine kleine Oase anrüh­render Mensch­lich­keit.

Wahr­schein­lich war auch Michael Winter­bottom von Anfang an zu intel­li­gent, um einen reinen Anliegen-Film drehen zu wollen. Noch einmal die Pres­se­kon­fe­renz: Eine Weile sucht eine Jour­na­listin nach der richtigen Formu­lie­rung, will offen­sicht­lich wissen, welche Erwar­tungen Winter­bottom an die Wirkung seines Films hat, scheint ihrer­seits dem Streifen zuzu­trauen, dass er was bewegen wird in der realen poli­ti­schen Situation von Flücht­lingen. Sie findet die rechten Worte für die Frage nicht; Winter­bottom übernimmt das nach einer Weile dann einfach selbst, mit nicht wenig Ironie in der Stimme: »Would I like my movie to change the world? – Yeah, sure.«

Letzt­end­lich ist sogar möglich, dem Thema Flücht­linge nicht einzige oder gar wich­tigste Bedeutung beizu­messen in diesem Film – man kann ihn auch sehen als Reise-Bilder­bogen vom gradu­ellen Übergang des Nahen Ostens ins westliche Europa.

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Wer wirklich was ändern will an dieser Welt, der geht nicht ins Kino, der geht auf die Straße, möchte man sagen. In der Früh, auf dem Weg zur ersten Vormit­tags­vor­füh­rung, ist durchs U-Bahn-Fenster ein Demons­tra­ti­onszug zu sehen. Die Trans­pa­rente hängen ziemlich schlapp in der kalten Morgen­luft, die Leute stapfen ohne Über­zeu­gung vorwärts, als wüßten sie selbst nicht mehr so genau, warum sie hier sind und was sie sich davon erhoffen, hinten­drein schlen­dert ein kleines Aufgebot gelang­weilter, mitein­ander schwat­zender Poli­zisten. Es ist im Vorbei­fahren nicht zu erkennen, ob hier für den Frieden marschiert wird oder für den Krieg, oder ob nur die Müll­ab­fuhr mehr Lohn will. Jeden­falls scheint dem Ganzen der Welt­ver­än­de­rungs­wille und -glaube schon vorab abhanden gekommen zu sein. Die hätten genauso gut ins Kino gehen können, diese Leute.

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Dann kommt ein Film wie Alan Parkers THE LIFE OF DAVID GALE. Der keinen Zweifel aufkommen läßt: Da wollte jemand was Großes, Welt­be­we­gendes sagen gegen die Todes­strafe. Wahr­schein­lich hätte der Autor am liebsten eine Doku gemacht, und dann aber überlegt, dass das ja wieder keiner guckt, und drum den Plan gefasst: Das Anliegen muss in einen Thriller verpackt werden. In dem die recher­chierten Fakten, die vertre­tenen Thesen dann ungemein elegant eins-zu-eins von den Charak­teren vorge­tragen, aufgesagt werden, in diversen Blöcken von Expo­si­tion oder in einer Fern­seh­de­batte, die der Held (immerhin: Kevin Spacey) bestreitet. Zugleich hat dabei die vermeint­lich raffi­nierte (in Wahrheit jedoch völlig vorher­seh­bare) Thriller-Konstruk­tion Überhand gewonnen, verlangt immensen mecha­ni­schen Plot-Aufwand. Der Film scheut sich da nicht, einer Figur die Leukämie in die Knochen zu schreiben, nur damit das sehr gewollte, arti­fi­zi­elle Krimi-Konstrukt annähernd plausibel wird.

Nur ganz wenige Details gibt es, gerade zu Anfang, wo der Verdacht nahe liegt, dass da etwas bei der Recherche vor Ort Beob­ach­tetes sich einschmug­geln durfte zwischen all das schon vorab Gewusste, Geplante, Gede­ckelte. Dinge wie das »No Hostages Will Exit«-Schild im Hoch­si­cher­heits­trakt oder der japa­ni­sche Garten des Gefäng­nisses. Und Laura Linney hat eine intime Szene mit Kevin Spacey, in der sie ihrer Figur – die eigent­lich nichts ist als ein passgenau gefeiltes Rädchen im Plotwerk – eine herz­zer­reißend wahr­haf­tige Dimension verleiht. Was der kalten Kalku­liert­heit, mit der der Film sie sonst behandelt, etwas geradezu Obszönes verleiht.

THE LIFE OF DAVID GALE ist einer dieser Hollywood-Filme wo, wenn es eine Party gibt und einen Pool, zwangs­läufig Party­gäste in diesen Pool fallen müssen, Todes­stra­fen­thriller hin oder her. Und wo uns der Philo­so­phie-Profes­soren-Prot­ago­nist vorge­stellt wird mit den letzten Minuten eines seiner Seminare, kurz bevor dann die Glocke läutet und die propperen Studenten hinaus­strömen, wie sie es in so einem Film einfach tun müssen – David Gale erklärt da mal eben in zwei Minuten Lacan.

Ein Film, der keine Offenheit duldet, der mehr altbacken denn klassisch darauf beharrt, sämtliche Bögen zu schließen, Rahmen abzu­dichten, »i«s zu tüpfeln. Wenn da am Anfang einiges Gewicht gelegt wird auf einen halben Daumen­ab­druck, dann darf man gewiss sein, dass der sich nicht einfach aus dem Film verab­schiedet. Zumindest in dieser Hinsicht wird man von Alan Parker dann auch nicht enttäuscht.

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Dann doch lieber Yasujiro Ozu, dem eine kleine Werkschau gewidmet ist. Der hat die Abge­schlos­sen­heit wenigs­tens zu beein­dru­ckender, subtil ausballan­cierter Meis­ter­schaft getrieben. Und bei TOKYO MONOGATARI beispiels­weise passt es wenigs­tens zu dem, worum es in dem Film geht, wenn die Bildräume starre, unent­rinn­bare Gefäng­nisse für die Figuren in ihnen sind. Der handelt ja von Menschen, die in den Höflich­keits-Konven­tionen Japans, die in ihren genau zuge­wie­senen Familien- und Gesell­schafts­rollen wirklich wie einge­sperrt sind. Die die grau­samsten, schmerz­haf­testen Wahr­heiten wenn überhaupt, dann nur mit einem Lächeln und dem Ton beiläu­figer Konver­sa­tion ausspre­chen dürfen.
Trotzdem hat diese meis­ter­hafte Strenge auch beklem­mende Unter­tönen, strahlt eine Furcht vor allem Leben­digen aus. Dick säumt der Rahmen des Busfens­ters die Leinwand, als es doch einmal hinaus­geht aus den kontrol­lierten Inte­ri­eurs, als man sich auf Fahrt begibt durch Tokyo und die Welt mit all ihren Unvor­her­seh­bar­keiten viel­leicht ins Bild drängen könnte. Man beginnt sich zu fragen, ob der Film an seinen Figuren nur keinerlei Freies finden kann, ob er es ihnen nicht gönnt, oder ob er selbst vor allem Freien schlicht nur Panik hat.

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Dabei hat die Welt da draußen so viel zu bieten: Nicht ins Kino zu gehen ist ja auch keine Garantie für Boden­haf­tung in der Realität. Da gibt es diesen älteren Herrn osteu­ropäi­schen Aussehens, mit kurzen grauen Haaren und Bart, der am Potsdamer Platz die Straße auf den Berlinale Palast zu entlang­spa­ziert und dabei »Volare«, nein, nicht singt sondern geradezu brüllt. Gar nicht mal so völlig falsch, was die Tonhöhen betrifft, und er kann den kompletten Text, nur eben ohne jeden ersicht­li­chen Anlass, in gellender Laut­stärke und mit seltsamen Pausen nach jeder Phrase: »VOOO-LAAA-RE.« – Pause, Pause, Pause – »OOOOHHHH-HOOOO.« – Paauuuss­seee – »CAAAN-TAAA-RE.«...
Filme braucht der Mann vermut­lich nicht.

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Andere leben offen­sicht­lich nicht minder tief in ihrem eigenen Kopf, aber sie haben dazu das dringende Bedürfnis, ihr Inneres der Welt nicht nur durch kleine Gesangs­ein­lagen näher zu bringen. Die müssen gleich Filme machen.
ADAPTATION ist einer dieser Streifen, deren Entste­hung vermut­lich span­nender war als das letzt­end­liche Resultat: Autor Charlie Kaufmann (BEING JOHN MALKOVICH) sollte Susan Orleans' Reportage-Best­seller »The Orchid Thief« in ein Drehbuch verwan­deln. Und fand sich nach einem knappen halben Jahr daran geschei­tert. Statt seine kreativen Schwie­rig­keiten zu bewäl­tigen, machte er sie darauf zum Thema des Drehbuchs. Und: Die Produ­zenten waren begeis­tert.
Es ist nicht, dass dieses Spiel mit all den Faltungen, Spie­ge­lungen, Dopp­lungen von Realitäts-, Ironie- und Fikti­ons­ebenen, mit Nicholas Cage als »Charlie Kaufman« und sein (komplett fiktiver) Zwilling Donald, dass dieses Spiel keinen Spaß machte. Es läuft sich nur mit der Zeit tot und verpufft. Es ist ein erstaun­lich gewagter Versuch, all die Stra­te­gien der »klas­si­schen« post­mo­dernen Literatur in einen Hollywood-Studio­film zu packen – aber es gibt eben einen Grund, warum die Literatur seit einigen Jahren schon wieder woanders hinge­wan­dert ist, warum das ewige Spiegel-im-Spiegel-im-Spiegel-im-Spiegel-Kabinett irgend­wann für erschöpft befunden wurde. (Ähnlich verzet­telt sich der korea­ni­sche RESURRECTION OF THE LITTLE MATCH GIRL in einem heil-, weil regel- und damit belang­losen Durch­bre­chen der Grenzen zwischen Compu­ter­spiel-Virtua­lität und Realität, das durch mit großem Aufwand, aber wenig ästhe­ti­schem Flair insze­nierte MATRIX-Anleihen und Hong Kong-Kino-Zitate nicht ansehn­li­cher wird.)
Und nur, weil beispiels­weise die Macher selbst wissen, dass unauf­hör­liche Voice-Over-Erzählung nicht sonder­lich filmisch und clever ist, und das auch im Film selbst einge­stehen, und darüber selbst­iro­nisch reflek­tieren, wird unauf­hör­liche Voice-Over-Erzählung noch nicht viel filmi­scher und cleverer. ADAPTATION ist mehr Papier als Zelluloid, und gerade das sollte man von einem Regisseur wie Spike Jonez nicht erwarten.

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Während sich ADAPTATION tief in der Selbst­be­spie­ge­lung verirrt, versucht auf dem Potsdamer Platz frie­dens­be­wegte Akti­ons­kunst umgekehrt, mit Film­wer­bungs-Ästhetik der poli­ti­schen Realität beizu­kommen: Ein Plakat prangt da für den (fiktiven) Streifen PEACEKILLER – THE WAY TO FIN BIN LADEN, eine »Enron, Hali­burton & Realtime Films«-Produk­tion mit den Konter­feis von Bush, Blair und Cheney in Haupt­dar­stel­ler­ma­nier. Nach ein paar Tagen verschwindet das Plakat nachts. Wer es aus dem Gerüst geschnitten und geklaut hat und warum, weiß keiner.

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Ausge­rechnet der mit Abstand künst­lichste aller bisher gezeigten Wett­be­werbs­filme mußte sich derweil am meisten herum­schlagen mit poli­ti­schen Vorwürfen. Zhang Yimous unglaub­li­cher HERO ist eigent­lich verdammt nah an der Abstrak­tion, hebt – in vollem Bewusst­sein des Genres, seiner Tradition und seiner lite­ra­ri­schen Ahnen – den Kung Fu-Film auf eine Ebene, wo er sich löst in purer Form, Rhythmus, Bewegung und Farbe, Farbe, Farbe. Von der Paral­le­lität von Kung Fu und Kalli­gra­phie, Kung Fu und Musik wird da nicht nur gespro­chen, sie wird erfahrbar gemacht. Aber es kommt eben auch der Kaiser Qi vor, und ein verei­telter Plan zu seiner Ermordung. Und schon geht es vielen nur noch darum, ob der Film eine Recht­fer­ti­gung sei für Gewalt­herr­schaft, und ob er histo­ri­sche Wahr­heiten richtig abbildet. Sowas könne man doch nicht einfach igno­rieren, sagen diese Leute dann. Inter­es­sant ist nur, dass sie keinerlei Probleme damit haben, die rest­li­chen 99% des Films komplett zu übergehen.

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Weil wir gerade bei Martial Arts sind: Auch Jackie Chan ist mit einem Film in Berlin. Aber diesmal nutzt er seine Welt­berühmt­heit, um einer doku­men­ta­ri­schen Geschichts­stunde zur Aufmerk­sam­keit zu verhelfen. TRACES OF THE DRAGON gräbt auch für Chan selbst bisher unbe­kannte Fami­li­en­wur­zeln aus und wird dabei gleich­zeitig zum Film über all das an Zeit­ge­schehen, was Chinesen im letzten Jahr­hun­dert durchlebt haben.
Ein braver, aber oft anrüh­render Film, der wiederum unsereins die wohl ziemlich einmalige Gele­gen­heit einer kaum halb­vollen Pres­se­kon­fe­renz mit Jackie Chan beschert hat.

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Erstaun­lich viele Filme handeln dieses Jahr mehr oder minder poetisch und profund davon, wie kurz die Zeit auf Erden doch sein kann und wie man sie nutzen sollte, so lange man kann. Am Dienstag Mittag, während im ersten Stock des Hyatt die Pres­se­kon­fe­renz zu LICHTER läuft, erleidet der fran­zö­si­sche Produzent Daniel Toscan du Plantier im Eingangs­be­reich des Hotels einen Herz­in­farkt, an dem er kurz darauf im Kran­ken­haus stirbt. Es ist nicht unwahr­schein­lich, dass SON FRÈRE oder MY LIFE WITHOUT ME zu den letzten Filmen gehörten, die er gesehen hat.

Als man die Treppe herun­ter­kommt von der Pres­se­kon­fe­renz stehen da ein paar freund­liche Damen vom Hotel, die einen bitten, den hinteren Ausgang zu benutzen. Mehr sagen sie nicht. Hinter ihnen kann man Poli­zisten erkennen, die jemanden befragen, und kauernde Notärzte, mit ihren Koffern. Nach­träg­lich weiß man, dass man wohl auch einen Mann dort liegen sehen konnte, auf dem polierten Stein­boden und Teppich, über den wenig später wieder die Jour­na­lis­ten­horden zum Pres­se­zen­trum strömen.

Die Szene hat Poeti­sches sowieso nicht, aber auch nichts Profundes. Man erfährt erst später, was da passiert ist. Es gibt einen Moment des Schauerns. Einen Moment des Nach­den­kens, einen kurzen. All das Nahe­lie­gende geht einem durch den Kopf, für eine Minute werden die Stimmen gedämpfter, aber eigent­lich nur, weil man sich verpflichtet fühlt, dieses reale Eindringen des Letzten in diese Tage, die es so oft als ästhe­ti­sierte Erfahrung feierten, als etwas Großes, Aura­ti­sches zu empfinden.
Danach geht man in den nächsten Film.
Die Realität, die einen nicht unmit­telbar betrifft, hat anschei­nend auch zu solch letzten Themen nicht mehr zu sagen als das Kino.