53. Berlinale 2003
Schöner morden oder Nicole Kidman und die Liebe zur Literatur |
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Renée Zellweger in CHICAGO | ||
(Foto: Miramax) |
»Baby!«; »Darling!« – manchmal können auch die zärtlichsten Worte wie fiese Gemeinheiten klingen, kann noch ein katzenhaftes Schnurren zur scharfen Waffe werden. Zur Berlinale-Eröffnung gab es Zickenalarm: Dass sich Renée Zellweger und Catherine Zeta-Jones im richtigen Leben auch nur ein bisschen verstehen, dass ihre Beteuerung »Wir sind die besten Kumpels.« (Zeta-Jones) – »Wir werden sicher von nun an unser ganzes Leben lang befreundet sein.« (Zellweger) auch nur ein wenig zutrifft, kann keiner glauben, der die beiden so grundverschiedenen Frauen auf der Pressekonferenz zur Berlinale-Eröffnung anlässlich der Premiere von Rob Marshalls Filmmusical CHICAGO erlebt.
So dünn manche Fragen auch sein mögen, so banal die Antworten – Substanz ist bei solchen Mega-Events vor der versammelten Weltpresse selten zu erwarten –, spricht die Körpersprache doch Bände: Statuenhaft ruhig die dunkelhaarige britische Schönheit, jede Geste kontrollierend, klug und kurz antwortend, mit leichtem Augenzwinkern zu den Fotografen. Zellweger dagegen, bei allem Respekt wohl die bessere Darstellerin der beiden, rutschte hippelig auf dem Sessel, den Blick mal nach unten, mal zur Seite gerichtet, und irgendwie etwas hysterisch wirkend, als hätte sie ihren Golden-Globe-Sieg noch nicht ganz verkraftet. Ihre Antworten wurden lang und länger, kamen vom Thema weit ab und endeten meist in dem Fazit, wie »toll«, »großartig«, »super« die Dreharbeiten doch gewesen sein.
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Vielleicht wären die beiden wohl über sich hergefallen, hätten sie nicht den bestaussehendsten Puffer zwischen sich sitzen gehabt, den man sich vorstellen könnte: Richard Gere, mit der buddhistischen Gelassenheit des Weltstars vor sich hin schmunzelnd schien er, ganz wie im Film, sich zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Frauen/Schauspielern kaum entscheiden zu können. »Das Musical von Bob Fosse habe ich schon immer gemocht.« erzählte er, »für die Filmrolle habe ich mich erst entschieden, als ich sicher war: Der Film würde die Broadway-Aufführung noch übertreffen.«
CHICAGO handelt von zwei schlechten Künsterinnen, die jeweils zu Mörderinnen und darüber dann zu Medienstars werden. Mord als schöne Kunst betrachtet, beziehungsweise als Fortsetzung des Showgeschäft mit allen Mitteln. Indem der Film Menschen zeigt, die bereit sind, wirklich alles zu tun, um einmal im Rampenlicht zu stehen, ist er auch eine kluge Satire auf das Filmgeschäft, ein denkbar treffender Berlinale-Auftakt.
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Ein großes Drama, universale Themen, und doch ist alles ganz leicht, so leicht, dass Menschen hier sogar durch die Luft fliegen. Die Berlinale hat kaum erst begonnen, da hat sie schon ihren ersten Favoriten: HERO, der neue Film von Zhang Yimou ist, wie der Titel schon vermuten lässt, eine Heldensage, ein Märchen aus der mythisch-vorgeschichtlichen Zeit des Reiches Qin, kurz vor dem Bau der Chinesischen Mauer. Zhang, der durch symbolträchtige Historien-Epen wie ROTES KORNFELD weltberühmt und häufig ausgezeichnet wurde, betritt hier Neuland: Ein Film im zur Perfektion gebrachten Kampfkunst-Stil des Hongkong-Kinos, aber eine ernste Geschichte, ähnlich dem, was Ang Lee 2000 im vierfach oscarprmierten TIGER & DRAGON erprobte. Zugleich ist unübersehbar, dass sich Zhang dem Stil des großen Akira Kurosawas annährt, und zwar gleich doppelt: Zum einen in der Form Massen bildgewaltig zu choreographieren, mit Menschen auf der Leinwand zu malen. Doch ebenso in der Erzählstruktur: Denn Zhang erzählt seine Geschichte von den vier unterschiedlichen Helden, die so poetische Namen tragen, wie »Gebrochenes Schwert« und »Fliegender Schnee«, sich alle gegen den König auflehnen, ähnlich wie Kurosawas Klassiker RASHOMON in vier verschiedenen Varianten ein und desselben Geschehens. So bleibt auch die Botschaft des Films, der schon jetzt der erfolgreichste der chinesischen Filmgeschichte ist, und zugleich in Zhangs Heimat auch für politischen Streit sorgte, gewollt ambivalent: Sie kann fatalistisch wie optimistisch verstanden werden, als verstecktes Plädoyer für Widerstand, wie als Anbiederung an die Pekinger Diktatur.
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Wichtiger als Story sind aber die Bilder von HERO: Eine Farborgie in Rot, Blau, Weiß und Jadegrün, voll traumhafter filmischer Einfälle, mit Witz und Stilisierungswillen. Film als Kunst der entfesselten, »reinen« Bewegung verstanden; pathetisch, sinnlich und schwelgerisch.
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Das Gegenteil davon erlebte man bei IN THIS WORLD vom Briten Michael Winterbottom, der in I WANT YOU und THE CLAIM selbst schon mehrfach bewiesen hatte, dass er leidenschaftlich und äußerst sinnlich erzählen kann. An Leidenschaft fehlt es ihm auch diesmal überhaupt nicht, zugleich ist der Film der Beweis, dass »gut gemeint« manchmal das Gegenteil von gut sein kann. »Erfahrung macht dumm« hat Fassbinder einmal formuliert, und auch Winterbottom lässt sich vom Leiden der weltweit über 14 Millionen Flüchtlinge zu einem Thesenstück hinreißen, dass leider filmisch völlig uninspiriert bleibt: Es beginnt wie der Episodenfilm 11.09.01: Kinder in einem elenden Flüchtlingslager in Pakistan am Rand der afghanischen Grenze. Man beobachtet zwei Jungen auf ihrem absehbar scheiternden Versuch, sich durch Pakistan Iran, und die Türkei bis in den Westen durchzuschlagen. Das Pathos ist in diesem Fall ein falsches, weil der Regisseur nicht auf visuelle Verführung sondern auf bereits vorher vorausgesetzte Überzeugungen setzt, weil er Zwischenbilder hineinschneidet, Musik darunter und darüber schmiert, die beim Zuschauer nur eine mögliche Reaktion zulassen wollen, ihm so die Freiheit des Urteils nehmen, und gerade die Anteilnahme zerstören, die der Film doch befördern will.
Der Film wurde mit Laien an Originalschauplätzen mit Handkamera gedreht, und ist gewiss ein politisch engagiertes und moralisch sympathisches Stück Kino. Um daraus einen wettbewerbstauglichen Film zu machen, fehlt Winterbottom aber die Distanz.
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»Ich hätte mich nicht in der Rolle der Virginia Woolf besetzt.« – Nicole Kidman schien es wirklich ehrlich zu meinen, als sie mit diesem Satz die Weltpresse gestern kurz ins Staunen versetzte. Denn in Stephen Daldrys abwechslungsreicher Verfilmung von Michael Cunninghams literarischem Vexierspiel THE HOURS ist der australische Weltstar in der Rolle der britischen Schriftstellerin zu sehen – mit künstlichem Nasenhöcker nicht ganz so gutaussehend wie gewohnt.
»In der Schule habe ich Woolf noch gehasst.« berichtete sie zur Premiere des Films im Wettbewerb der Berlinale, »es war alles soooo langweilig.« Darum sei sie für diese Rolle besonders dankbar. »Sie kam zum richtigen Zeitpunkt, gab mir die Möglichkeit, diese merkwürdige Frau besser kennenzulernen. Sie war intellektuell so stark und emotional so zerbrechlich.«
Zugleich berichtete Kidman, deren Auftritt auch diesmal so souverän und intelligent und gutaussehend, so rundum perfekt war, wie man es von der gern auf Filmfestivals reisenden Darstellerin seit Jahren gewohnt ist, von anderen Literaturerfahrungen. Dass sie überhaupt Schauspielerin geworden ist, haben die Welt und ihre Fans gewissermaßen Leo Tolstoi zu verdanken: »Schon als junges Mädchen las ich ›Krieg und Frieden‹. Und weil ich unbedingt einmal die Natascha sein wollte, beschloß ich, Schauspielerin zu werden.« Daneben brach Kidman eine Lanze für die Literatur als solche, und forderte, als wolle sie sich gleich für die Rolle der UNICEF-Bildungsbotschafterin bewerben: »Man sollte wieder mehr lesen! Ich kann mich richtig in Romanen verlieren, lese besonders gern die britischen Romantiker wie Byron und Shelley, oder die Bronte-Schwestern.«
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Si non e vero – Falls das alles nicht ganz wahr sein sollte, ist es zumindest gut erfunden. Viel Zeit für Lektüre kann die 35jährige im letzten Jahr allerdings nicht gehabt haben, denn 2003 wird man sie gleich in drei weiteren Filmen sehen: Dass ihre Regisseure dabei Lars von Trier, Peter Benton und Anthony Minghella heißen, beweist vor allem eines: Nicole Kidman ist derzeit nicht nur einfach eine der gefragtesten Filmschauspielerinnen, sie kann es sich auch erlauben, nur mit wirklich guten Regisseuren zusammenzuarbeiten, nur die Rollen zu spielen, die ihren Ansprüchen genügen: »Filme sollten Magie und Illusionen erzeugen, und das auf geistreiche Weise.«
Doch auch hier bewies Kidman schnell wieder, dass ihr Erfolgsgeheimnis vor allem in skeptisch-kühler Intelligenz besteht: »Ach dieses ganze Gerede« stöhnte sie, »heute gebe es alle möglichen Rollen mit weiblichen Hauptfiguren, Frauen dürften plötzlich auch dominant sein... – meiner Meinung nach ist das allenfalls eine überfällige Gleichberechtigung. Und im nächsten Jahr kann es schon wieder ganz anders aussehen.«
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Wer mit Kino vor allem weite, geöffnete Räume und ihre Gestaltung durch die Kamera verbindet, der kam in der ersten Hälfte des Berlinale-Wettbewerbs bisher kaum auf seine Kosten: Es dominieren die Kammerspiele, klaustrophobisch verengte Zellen, geradezu programmatisch eingegrenzte Schauplätze, die – wie etwa in THE LIFE OF DAVID GALE von Alan Parker und Isabel Croixets herausragendem (dazu später mehr) LIFE WITHOUT ME – oft genug nur ein Spiegel der Verengungen, Ängste und Autismen sind, in denen sich die Charaktere gefangen finden.
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Dabei ist das Grundstück und die Villa, in der die Familie Chapin-Vasseur lebt, immerhin von altmodisch-großbürgerlicher Pracht: Ein Haus, zwei Familien, drei Generationen bilden die Grundsituation in LA FLEUR DU MAL, Claude Chabrols neuesten Film, der gestern seine Premiere erlebte. Um Charles Baudelaires fast gleichnamigen, epochemachenden Gedichtband geht es dabei am wenigsten, es sei denn, man erinnert sich an die Verfallserscheinungen einer dekadenten Gesellschaft, die der Dichter beschrieb, an schwül-überladene Atmosphären, die wie auch bei Baudelaire in diesem Film dominieren. LA FLEUR DU MAL ist ein in jeder Hinsicht typischer Chabrol: Ein bürgerliches Thriller-Kammerspiel um Schuld und Sühne, voller sarkastischer Seitenhiebe auf den fragwürdigen Charme der Bourgeoisie. Natalie Baye spielt Anne eine starke Frau, die politische Karriere macht, während ihr schwacher reicher Mann hemmungslos fremdgeht. Im Haus leben auch eine alte Tante mit gutem Gedächtnis, auch an Familienvergangenheiten, die alle lieber unter den Teppich kehren würden, und Michèle, die Tochter aus erster Ehe. Als Annes Stiefsohn Francois kurz vor der Wahl aus Amerika zurückkehrt, eskalieren die Ereignisse: Ein anonymer Brief bringt lange verborgene Verbrechen zum Vorschein, Michèle und Francois lieben sich, und am Ende steht ein Mord, der niemandes Gewissen weiter belastet.
Vor allem aber erzählt der Film von zwei Familien, deren Geschichte sich offenbar mit schicksalhafter Notwendigkeit seit Generationen wiederholt. So bietet der 73jährige Chabrol hier eine weitere Variation seines Lebensthemas: Die kleinen Geheimnisse und die großen Verbrechen hinter der Fassade von Anstand und guten Sitten – »trotzdem voller Optimismus« wie der Regisseur im Gespräch betonte: »Es gibt Entwicklungen zum Besseren, aber eben nur langsam.«
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Von der Macht des Schicksal erzählt auch Steven Soderbergh: SOLARIS, die Verfilmung von Stanislav Lems gleichnamiger, längst zum Klassiker avancierter Novelle, ist nach Tarkowskis fast 30 Jahre altem Film eine neue Interpretation des Stoffs ganz aus ganz eigenem Recht. Eindrucksvoll spielt George Clooney die Hauptrolle des Kelvin, eines Weltraumreisenden, der in der fernen Zukunft auf eine Raumstation reist, um merkwürdige Geschehnisse zu erforschen. Ein Freund (in kurzer Nebenrolle: Ulrich Tukur) hatte ihn um Hilfe gebeten. Bald nach seiner Ankunft realisiert er, dass sich dort offenbar Träume und Personen aus dem Bewusstsein der Stationsbewohner materialisieren. Und so sieht er sich auch bald mit dem fleischgewordenen Abbild seiner Frau konfrontiert, die sich vor Jahren umbrachte.
SOLARIS ist ein spannendes, philosophisches Drama. Im Unterschied zu Tarkowski setzt Soderbergh den Dialog nur äußerst sparsam ein, versucht eine Atmosphäre zu erzeugen, die dem psychodelischen Trance von Kubricks »2001« weitaus mehr ähnelt. Ein konzentrierter Film über die Leere, und den vergeblichen Versuch eines Menschen seinen Erinnerungen zu entfliehen.
Während SOLARIS vor allem für einen Regiepreis gut sein könnte, kann man sich einige aus Chabrols Ensemble durchaus als Träger eines Schauspielpreises vorstellen: Zwei der besseren Filme, aber zu eigen und zu verspielt, um den Wettbewerb zu gewinnen. Da darf man eher auf andere hoffen: George Clooney mit seiner ersten Regiearbeit vielleicht, in jedem Fall aber Patrice Chereau und Spike Lee. Der wird hier allemal schon von allen, die den Film kennen, als Favorit gefeiert. Zu echt, den THE 25th HOUR, eine Drama und eine Eloge auf New York, ist einfach toll. Auch dazu, nächste Woche mehr.
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Wenn das Kino von der Vergangenheit spricht, hat es offenbar zwei Möglichkeiten: Entweder es färbt sie bunt, oder es malt Grau in Grau. Stefan Krohmer hat sich für die zweite Variante entschieden, und das mag nicht nur an seiner Geschichte liegen. In seinem ersten Kinofilm SIE HABEN KNUT reist Krohmer, der bisher vor allem mit dem ehrgeizigen TV-Drama ENDE DER SAISON zu Recht erste Lorbeeren erntete, zurück in einen eisigen Winter des Jahres 1983. 68 ist lange vorbei, die Grünen noch gerade in den Bundestag gewählt, und auch die Friedensbewegung hat ihren Höhepunkt längst hinter sich, aber die Gruppe von Endzwanzigern, die auf einer Skihütte in Tirol mehr zufällig einige Tage miteinander verbringen, spricht noch immer von »sie« und »dem System«, wenn sie den Staat meint. Aber Politik bildet nur den vagen Hintergrund für Krohmers Kammerspiel. Mehr Aufmerksamkeit widmet er der Rekonstruktion von Diskursen und Redeweisen, die aus heutiger Perspektive fast wie aus der Steinzeit anmuten. Hinter den sozialpädagogischen Floskeln, dem diffusen Psychogerede und dem Beziehungsgelaber entdeckt sein Film den Gruppenterror: Selbstmitleid und -gerechtigkeit, militantes Spießertum.
Mitunter kostet SIE HABEN KNUT dabei zu stark die Klischees aus, in denen heute der Blick auf das linksliberale und alternative Milieu um 1980 erstarrt ist, doch erzählt sein Film vor allem vom Beginn des rasanten Rückzuges ins Private und in Entpolitisierung, der die westlichen Gesellschaften der letzten zwei Dekaden prägte. Hinter allem Gerede streift sein Film existentielle Fragen, wenn Krohmer sich mit viel Sensibilität und scharfer Beobachtung seinen Figuren, vor allem dem von Valerie Koch und Hans-Jochen Wagner ausgezeichnet verkörperten ungleichen Paar im Zentrum seiner Story, nähert, sie nicht zur Karikatur gerinnen lässt, sondern noch hinter persönlichen Schwächen eine tiefern Sehnsucht nach emotionaler Wärme aufzeigt. Dass diese auch im Privaten, in neuen Beziehungen oder dem Spontansex – im Iglu! – nicht zu finden ist, verschweigt der Film keine Sekunde.
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SIE HABEN KNUT eröffnete die Reihe »Perspektive Deutsches Kino«, die in diesem zum zweiten Mal auf der Berlinale läuft. Die von Alfred Holighaus aufmerksam geleitete Sektion ist der deutlichste Ausdruck der neuen Offenheit fürs deutsche Kino, die sich Dieter Kosslick bei seinem Amtsantritt auf die Fahne geschrieben hatte. Die hier gezeigten größtenteils Filme repräsentieren besser, als die drei deutschen Wettbewerbsfilme von etablierten und dabei nicht unbedingt typischen deutschen Regisseuren, oder herausragende, unbedingt kinotaugliche TV-Filme wie Christian Petzolds großartiges Melodram WOLFSBURG, das im »Panorama« läuft, was wirklich gerade los ist im deutschen Kino, wo Stärken und Schwächen liegen.
Offenbar gibt es wieder mehr Interesse fürs Komische: Schon Krohmers Film war bei allem Ernst für einige Lacher gut. Als eine – wenn es das geben sollte – Klamotte für Erwachsene erwies sich das Debüt BEFREITE ZONE von Norbert Baumgarten, eine weitaus buntere Reise in die unmittelbare Vergangenheit: Ein Panorama der ostdeutschen Provinz Mitte der 90er, der örtliche Fussballklub schafft es sensationell und dank dem afrikanischen Stürmer »Blondie« ins DFB-Pokalfinale. Bauunternehmer und Staubsaugervertreter, lüsterne Mädchen und gewaltbereite Jugendliche lassen kaum ein Vorurteil aus, doch schafft es Baumgarten, seinen Figuren dabei immer überraschende Wahrhaftigkeit und Tiefe zu geben. In seinen besten Momenten erinnert »Befreite Zone« an den realitätshungrigen Blick britischer Sozialkomödien.
Zu den Höhepunkten die in der Reihe noch bevorstehen gehört Martin Gypkens' WIR. Dieser episodische Coming-Of-Age-Film besitzt überdies eine Qualität, die Krohmer und Baumgarten noch fehlt, und die auch dem einen oder anderen größeren Namen im Wettbewerb zu wünschen wäre: Den erkennbare Anschluss an die Filmtradition, das souveräne Wissen darum, dass man nicht allein ist auf der Welt.