13.02.2003
53. Berlinale 2003

Schöner morden oder Nicole Kidman und die Liebe zur Literatur

Chicago
Renée Zellweger in CHICAGO
(Foto: Miramax)

Notizen von der Berinale – 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Baby!«; »Darling!« – manchmal können auch die zärt­lichsten Worte wie fiese Gemein­heiten klingen, kann noch ein katzen­haftes Schnurren zur scharfen Waffe werden. Zur Berlinale-Eröffnung gab es Zicken­alarm: Dass sich Renée Zellweger und Catherine Zeta-Jones im richtigen Leben auch nur ein bisschen verstehen, dass ihre Beteue­rung »Wir sind die besten Kumpels.« (Zeta-Jones) – »Wir werden sicher von nun an unser ganzes Leben lang befreundet sein.« (Zellweger) auch nur ein wenig zutrifft, kann keiner glauben, der die beiden so grund­ver­schie­denen Frauen auf der Pres­se­kon­fe­renz zur Berlinale-Eröffnung anläss­lich der Premiere von Rob Marshalls Film­mu­sical CHICAGO erlebt.

So dünn manche Fragen auch sein mögen, so banal die Antworten – Substanz ist bei solchen Mega-Events vor der versam­melten Welt­presse selten zu erwarten –, spricht die Körper­sprache doch Bände: Statu­en­haft ruhig die dunkel­haa­rige britische Schönheit, jede Geste kontrol­lie­rend, klug und kurz antwor­tend, mit leichtem Augen­zwin­kern zu den Foto­grafen. Zellweger dagegen, bei allem Respekt wohl die bessere Darstel­lerin der beiden, rutschte hippelig auf dem Sessel, den Blick mal nach unten, mal zur Seite gerichtet, und irgendwie etwas hyste­risch wirkend, als hätte sie ihren Golden-Globe-Sieg noch nicht ganz verkraftet. Ihre Antworten wurden lang und länger, kamen vom Thema weit ab und endeten meist in dem Fazit, wie »toll«, »großartig«, »super« die Dreh­ar­beiten doch gewesen sein.

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Viel­leicht wären die beiden wohl über sich herge­fallen, hätten sie nicht den best­aus­se­hendsten Puffer zwischen sich sitzen gehabt, den man sich vorstellen könnte: Richard Gere, mit der buddhis­ti­schen Gelas­sen­heit des Weltstars vor sich hin schmun­zelnd schien er, ganz wie im Film, sich zwischen diesen beiden so unter­schied­li­chen Frauen/Schau­spie­lern kaum entscheiden zu können. »Das Musical von Bob Fosse habe ich schon immer gemocht.« erzählte er, »für die Filmrolle habe ich mich erst entschieden, als ich sicher war: Der Film würde die Broadway-Auffüh­rung noch über­treffen.«

CHICAGO handelt von zwei schlechten Küns­te­rinnen, die jeweils zu Mörde­rinnen und darüber dann zu Medi­en­stars werden. Mord als schöne Kunst betrachtet, bezie­hungs­weise als Fort­set­zung des Show­ge­schäft mit allen Mitteln. Indem der Film Menschen zeigt, die bereit sind, wirklich alles zu tun, um einmal im Rampen­licht zu stehen, ist er auch eine kluge Satire auf das Film­ge­schäft, ein denkbar tref­fender Berlinale-Auftakt.

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Ein großes Drama, univer­sale Themen, und doch ist alles ganz leicht, so leicht, dass Menschen hier sogar durch die Luft fliegen. Die Berlinale hat kaum erst begonnen, da hat sie schon ihren ersten Favoriten: HERO, der neue Film von Zhang Yimou ist, wie der Titel schon vermuten lässt, eine Helden­sage, ein Märchen aus der mythisch-vorge­schicht­li­chen Zeit des Reiches Qin, kurz vor dem Bau der Chine­si­schen Mauer. Zhang, der durch symbol­träch­tige Historien-Epen wie ROTES KORNFELD welt­berühmt und häufig ausge­zeichnet wurde, betritt hier Neuland: Ein Film im zur Perfek­tion gebrachten Kampf­kunst-Stil des Hongkong-Kinos, aber eine ernste Geschichte, ähnlich dem, was Ang Lee 2000 im vierfach oscar­prmierten TIGER & DRAGON erprobte. Zugleich ist unüber­sehbar, dass sich Zhang dem Stil des großen Akira Kurosawas annährt, und zwar gleich doppelt: Zum einen in der Form Massen bild­ge­waltig zu choreo­gra­phieren, mit Menschen auf der Leinwand zu malen. Doch ebenso in der Erzähl­struktur: Denn Zhang erzählt seine Geschichte von den vier unter­schied­li­chen Helden, die so poetische Namen tragen, wie »Gebro­chenes Schwert« und »Flie­gender Schnee«, sich alle gegen den König auflehnen, ähnlich wie Kurosawas Klassiker RASHOMON in vier verschie­denen Varianten ein und desselben Gesche­hens. So bleibt auch die Botschaft des Films, der schon jetzt der erfolg­reichste der chine­si­schen Film­ge­schichte ist, und zugleich in Zhangs Heimat auch für poli­ti­schen Streit sorgte, gewollt ambi­va­lent: Sie kann fata­lis­tisch wie opti­mis­tisch verstanden werden, als verstecktes Plädoyer für Wider­stand, wie als Anbie­de­rung an die Pekinger Diktatur.

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Wichtiger als Story sind aber die Bilder von HERO: Eine Farborgie in Rot, Blau, Weiß und Jadegrün, voll traum­hafter filmi­scher Einfälle, mit Witz und Stili­sie­rungs­willen. Film als Kunst der entfes­selten, »reinen« Bewegung verstanden; pathe­tisch, sinnlich und schwel­ge­risch.

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Das Gegenteil davon erlebte man bei IN THIS WORLD vom Briten Michael Winter­bottom, der in I WANT YOU und THE CLAIM selbst schon mehrfach bewiesen hatte, dass er leiden­schaft­lich und äußerst sinnlich erzählen kann. An Leiden­schaft fehlt es ihm auch diesmal überhaupt nicht, zugleich ist der Film der Beweis, dass »gut gemeint« manchmal das Gegenteil von gut sein kann. »Erfahrung macht dumm« hat Fass­binder einmal formu­liert, und auch Winter­bottom lässt sich vom Leiden der weltweit über 14 Millionen Flücht­linge zu einem Thesen­s­tück hinreißen, dass leider filmisch völlig unin­spi­riert bleibt: Es beginnt wie der Episo­den­film 11.09.01: Kinder in einem elenden Flücht­lings­lager in Pakistan am Rand der afgha­ni­schen Grenze. Man beob­achtet zwei Jungen auf ihrem absehbar schei­ternden Versuch, sich durch Pakistan Iran, und die Türkei bis in den Westen durch­zu­schlagen. Das Pathos ist in diesem Fall ein falsches, weil der Regisseur nicht auf visuelle Verfüh­rung sondern auf bereits vorher voraus­ge­setzte Über­zeu­gungen setzt, weil er Zwischen­bilder hinein­schneidet, Musik darunter und darüber schmiert, die beim Zuschauer nur eine mögliche Reaktion zulassen wollen, ihm so die Freiheit des Urteils nehmen, und gerade die Anteil­nahme zerstören, die der Film doch befördern will.

Der Film wurde mit Laien an Origi­nal­schau­plätzen mit Hand­ka­mera gedreht, und ist gewiss ein politisch enga­giertes und moralisch sympa­thi­sches Stück Kino. Um daraus einen wett­be­werbs­taug­li­chen Film zu machen, fehlt Winter­bottom aber die Distanz.

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»Ich hätte mich nicht in der Rolle der Virginia Woolf besetzt.« – Nicole Kidman schien es wirklich ehrlich zu meinen, als sie mit diesem Satz die Welt­presse gestern kurz ins Staunen versetzte. Denn in Stephen Daldrys abwechs­lungs­rei­cher Verfil­mung von Michael Cunning­hams lite­ra­ri­schem Vexier­spiel THE HOURS ist der austra­li­sche Weltstar in der Rolle der briti­schen Schrift­stel­lerin zu sehen – mit künst­li­chem Nasen­hö­cker nicht ganz so gutaus­se­hend wie gewohnt.

»In der Schule habe ich Woolf noch gehasst.« berich­tete sie zur Premiere des Films im Wett­be­werb der Berlinale, »es war alles soooo lang­weilig.« Darum sei sie für diese Rolle besonders dankbar. »Sie kam zum richtigen Zeitpunkt, gab mir die Möglich­keit, diese merk­wür­dige Frau besser kennen­zu­lernen. Sie war intel­lek­tuell so stark und emotional so zerbrech­lich.«

Zugleich berich­tete Kidman, deren Auftritt auch diesmal so souverän und intel­li­gent und gutaus­se­hend, so rundum perfekt war, wie man es von der gern auf Film­fes­ti­vals reisenden Darstel­lerin seit Jahren gewohnt ist, von anderen Lite­ra­tur­er­fah­rungen. Dass sie überhaupt Schau­spie­lerin geworden ist, haben die Welt und ihre Fans gewis­ser­maßen Leo Tolstoi zu verdanken: »Schon als junges Mädchen las ich ›Krieg und Frieden‹. Und weil ich unbedingt einmal die Natascha sein wollte, beschloß ich, Schau­spie­lerin zu werden.« Daneben brach Kidman eine Lanze für die Literatur als solche, und forderte, als wolle sie sich gleich für die Rolle der UNICEF-Bildungs­bot­schaf­terin bewerben: »Man sollte wieder mehr lesen! Ich kann mich richtig in Romanen verlieren, lese besonders gern die briti­schen Roman­tiker wie Byron und Shelley, oder die Bronte-Schwes­tern.«

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Si non e vero – Falls das alles nicht ganz wahr sein sollte, ist es zumindest gut erfunden. Viel Zeit für Lektüre kann die 35jährige im letzten Jahr aller­dings nicht gehabt haben, denn 2003 wird man sie gleich in drei weiteren Filmen sehen: Dass ihre Regis­seure dabei Lars von Trier, Peter Benton und Anthony Minghella heißen, beweist vor allem eines: Nicole Kidman ist derzeit nicht nur einfach eine der gefrag­testen Film­schau­spie­le­rinnen, sie kann es sich auch erlauben, nur mit wirklich guten Regis­seuren zusam­men­zu­ar­beiten, nur die Rollen zu spielen, die ihren Ansprüchen genügen: »Filme sollten Magie und Illu­sionen erzeugen, und das auf geist­reiche Weise.«

Doch auch hier bewies Kidman schnell wieder, dass ihr Erfolgs­ge­heimnis vor allem in skeptisch-kühler Intel­li­genz besteht: »Ach dieses ganze Gerede« stöhnte sie, »heute gebe es alle möglichen Rollen mit weib­li­chen Haupt­fi­guren, Frauen dürften plötzlich auch dominant sein... – meiner Meinung nach ist das allen­falls eine über­fäl­lige Gleich­be­rech­ti­gung. Und im nächsten Jahr kann es schon wieder ganz anders aussehen.«

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Wer mit Kino vor allem weite, geöffnete Räume und ihre Gestal­tung durch die Kamera verbindet, der kam in der ersten Hälfte des Berlinale-Wett­be­werbs bisher kaum auf seine Kosten: Es domi­nieren die Kammer­spiele, klaus­tro­pho­bisch verengte Zellen, geradezu program­ma­tisch einge­grenzte Schau­plätze, die – wie etwa in THE LIFE OF DAVID GALE von Alan Parker und Isabel Croixets heraus­ra­gendem (dazu später mehr) LIFE WITHOUT ME – oft genug nur ein Spiegel der Veren­gungen, Ängste und Autismen sind, in denen sich die Charak­tere gefangen finden.

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Dabei ist das Grund­stück und die Villa, in der die Familie Chapin-Vasseur lebt, immerhin von altmo­disch-groß­bür­ger­li­cher Pracht: Ein Haus, zwei Familien, drei Gene­ra­tionen bilden die Grund­si­tua­tion in LA FLEUR DU MAL, Claude Chabrols neuesten Film, der gestern seine Premiere erlebte. Um Charles Baude­laires fast gleich­na­migen, epoche­ma­chenden Gedicht­band geht es dabei am wenigsten, es sei denn, man erinnert sich an die Verfalls­er­schei­nungen einer deka­denten Gesell­schaft, die der Dichter beschrieb, an schwül-über­la­dene Atmo­sphären, die wie auch bei Baude­laire in diesem Film domi­nieren. LA FLEUR DU MAL ist ein in jeder Hinsicht typischer Chabrol: Ein bürger­li­ches Thriller-Kammer­spiel um Schuld und Sühne, voller sarkas­ti­scher Seiten­hiebe auf den frag­wür­digen Charme der Bour­geoisie. Natalie Baye spielt Anne eine starke Frau, die poli­ti­sche Karriere macht, während ihr schwacher reicher Mann hemmungslos fremdgeht. Im Haus leben auch eine alte Tante mit gutem Gedächtnis, auch an Fami­li­en­ver­gan­gen­heiten, die alle lieber unter den Teppich kehren würden, und Michèle, die Tochter aus erster Ehe. Als Annes Stiefsohn Francois kurz vor der Wahl aus Amerika zurück­kehrt, eska­lieren die Ereig­nisse: Ein anonymer Brief bringt lange verbor­gene Verbre­chen zum Vorschein, Michèle und Francois lieben sich, und am Ende steht ein Mord, der niemandes Gewissen weiter belastet.

Vor allem aber erzählt der Film von zwei Familien, deren Geschichte sich offenbar mit schick­sal­hafter Notwen­dig­keit seit Gene­ra­tionen wieder­holt. So bietet der 73jährige Chabrol hier eine weitere Variation seines Lebens­themas: Die kleinen Geheim­nisse und die großen Verbre­chen hinter der Fassade von Anstand und guten Sitten – »trotzdem voller Opti­mismus« wie der Regisseur im Gespräch betonte: »Es gibt Entwick­lungen zum Besseren, aber eben nur langsam.«

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Von der Macht des Schicksal erzählt auch Steven Soder­bergh: SOLARIS, die Verfil­mung von Stanislav Lems gleich­na­miger, längst zum Klassiker avan­cierter Novelle, ist nach Tarkow­skis fast 30 Jahre altem Film eine neue Inter­pre­ta­tion des Stoffs ganz aus ganz eigenem Recht. Eindrucks­voll spielt George Clooney die Haupt­rolle des Kelvin, eines Weltraum­rei­senden, der in der fernen Zukunft auf eine Raum­sta­tion reist, um merk­wür­dige Gescheh­nisse zu erfor­schen. Ein Freund (in kurzer Neben­rolle: Ulrich Tukur) hatte ihn um Hilfe gebeten. Bald nach seiner Ankunft reali­siert er, dass sich dort offenbar Träume und Personen aus dem Bewusst­sein der Stati­ons­be­wohner mate­ria­li­sieren. Und so sieht er sich auch bald mit dem fleisch­ge­wor­denen Abbild seiner Frau konfron­tiert, die sich vor Jahren umbrachte.

SOLARIS ist ein span­nendes, philo­so­phi­sches Drama. Im Unter­schied zu Tarkowski setzt Soder­bergh den Dialog nur äußerst sparsam ein, versucht eine Atmo­sphäre zu erzeugen, die dem psycho­de­li­schen Trance von Kubricks »2001« weitaus mehr ähnelt. Ein konzen­trierter Film über die Leere, und den vergeb­li­chen Versuch eines Menschen seinen Erin­ne­rungen zu entfliehen.

Während SOLARIS vor allem für einen Regie­preis gut sein könnte, kann man sich einige aus Chabrols Ensemble durchaus als Träger eines Schau­spiel­preises vorstellen: Zwei der besseren Filme, aber zu eigen und zu verspielt, um den Wett­be­werb zu gewinnen. Da darf man eher auf andere hoffen: George Clooney mit seiner ersten Regie­ar­beit viel­leicht, in jedem Fall aber Patrice Chereau und Spike Lee. Der wird hier allemal schon von allen, die den Film kennen, als Favorit gefeiert. Zu echt, den THE 25th HOUR, eine Drama und eine Eloge auf New York, ist einfach toll. Auch dazu, nächste Woche mehr.

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Wenn das Kino von der Vergan­gen­heit spricht, hat es offenbar zwei Möglich­keiten: Entweder es färbt sie bunt, oder es malt Grau in Grau. Stefan Krohmer hat sich für die zweite Variante entschieden, und das mag nicht nur an seiner Geschichte liegen. In seinem ersten Kinofilm SIE HABEN KNUT reist Krohmer, der bisher vor allem mit dem ehrgei­zigen TV-Drama ENDE DER SAISON zu Recht erste Lorbeeren erntete, zurück in einen eisigen Winter des Jahres 1983. 68 ist lange vorbei, die Grünen noch gerade in den Bundestag gewählt, und auch die Frie­dens­be­we­gung hat ihren Höhepunkt längst hinter sich, aber die Gruppe von Endzwan­zi­gern, die auf einer Skihütte in Tirol mehr zufällig einige Tage mitein­ander verbringen, spricht noch immer von »sie« und »dem System«, wenn sie den Staat meint. Aber Politik bildet nur den vagen Hinter­grund für Krohmers Kammer­spiel. Mehr Aufmerk­sam­keit widmet er der Rekon­struk­tion von Diskursen und Rede­weisen, die aus heutiger Perspek­tive fast wie aus der Steinzeit anmuten. Hinter den sozi­al­pä­d­ago­gi­schen Floskeln, dem diffusen Psycho­ge­rede und dem Bezie­hungs­ge­laber entdeckt sein Film den Grup­pen­terror: Selbst­mit­leid und -gerech­tig­keit, mili­tantes Spießertum.

Mitunter kostet SIE HABEN KNUT dabei zu stark die Klischees aus, in denen heute der Blick auf das links­li­be­rale und alter­na­tive Milieu um 1980 erstarrt ist, doch erzählt sein Film vor allem vom Beginn des rasanten Rückzuges ins Private und in Entpo­li­ti­sie­rung, der die west­li­chen Gesell­schaften der letzten zwei Dekaden prägte. Hinter allem Gerede streift sein Film exis­ten­ti­elle Fragen, wenn Krohmer sich mit viel Sensi­bi­lität und scharfer Beob­ach­tung seinen Figuren, vor allem dem von Valerie Koch und Hans-Jochen Wagner ausge­zeichnet verkör­perten unglei­chen Paar im Zentrum seiner Story, nähert, sie nicht zur Karikatur gerinnen lässt, sondern noch hinter persön­li­chen Schwächen eine tiefern Sehnsucht nach emotio­naler Wärme aufzeigt. Dass diese auch im Privaten, in neuen Bezie­hungen oder dem Spon­tansex – im Iglu! – nicht zu finden ist, verschweigt der Film keine Sekunde.

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SIE HABEN KNUT eröffnete die Reihe »Perspek­tive Deutsches Kino«, die in diesem zum zweiten Mal auf der Berlinale läuft. Die von Alfred Holighaus aufmerksam geleitete Sektion ist der deut­lichste Ausdruck der neuen Offenheit fürs deutsche Kino, die sich Dieter Kosslick bei seinem Amts­an­tritt auf die Fahne geschrieben hatte. Die hier gezeigten größ­ten­teils Filme reprä­sen­tieren besser, als die drei deutschen Wett­be­werbs­filme von etablierten und dabei nicht unbedingt typischen deutschen Regis­seuren, oder heraus­ra­gende, unbedingt kino­taug­liche TV-Filme wie Christian Petzolds groß­ar­tiges Melodram WOLFSBURG, das im »Panorama« läuft, was wirklich gerade los ist im deutschen Kino, wo Stärken und Schwächen liegen.

Offenbar gibt es wieder mehr Interesse fürs Komische: Schon Krohmers Film war bei allem Ernst für einige Lacher gut. Als eine – wenn es das geben sollte – Klamotte für Erwach­sene erwies sich das Debüt BEFREITE ZONE von Norbert Baum­garten, eine weitaus buntere Reise in die unmit­tel­bare Vergan­gen­heit: Ein Panorama der ostdeut­schen Provinz Mitte der 90er, der örtliche Fuss­ball­klub schafft es sensa­tio­nell und dank dem afri­ka­ni­schen Stürmer »Blondie« ins DFB-Pokal­fi­nale. Bauun­ter­nehmer und Staub­sauger­ver­treter, lüsterne Mädchen und gewalt­be­reite Jugend­liche lassen kaum ein Vorurteil aus, doch schafft es Baum­garten, seinen Figuren dabei immer über­ra­schende Wahr­haf­tig­keit und Tiefe zu geben. In seinen besten Momenten erinnert »Befreite Zone« an den reali­täts­hung­rigen Blick briti­scher Sozi­al­komö­dien.

Zu den Höhe­punkten die in der Reihe noch bevor­stehen gehört Martin Gypkens' WIR. Dieser episo­dische Coming-Of-Age-Film besitzt überdies eine Qualität, die Krohmer und Baum­garten noch fehlt, und die auch dem einen oder anderen größeren Namen im Wett­be­werb zu wünschen wäre: Den erkenn­bare Anschluss an die Film­tra­di­tion, das souveräne Wissen darum, dass man nicht allein ist auf der Welt.