20.02.2003
53. Berlinale 2003

17 Berlinale-Brösel

Fidel Castro
Verhinderter Stargast: COMMANDANTE
(Foto: Atlantis Entertainment)

Bericht von der 53. Berlinale, 2.Teil

Von Thomas Willmann

Es steckt im miss­ra­tensten Film noch erheb­liche Liebesmüh. Selbst wenn der Regisseur ein plan- und achtloser Trottel, der Haupt­dar­steller ein eitler Schmie­ren­komö­diant und das ganze Projekt nur die allein auf’s leicht verdiente Geld abzie­lende Kino­ver­sion einer billigen Fernseh-Arztserie ist. Dann kann da immer noch eine junge Requi­si­teurin mit am Werk sein, die ihr Herzblut in die Arbeit gibt, die alles tut, dass wenigs­tens die Details, die sie zu verant­worten hat, so stimmig wie möglich sind.
Aber kann man es so einer Frau ande­rer­seits wiederum verdenken, wenn sie langsam die Lust verliert? Wenn sie ihre Liebesmüh als verloren betrachtet und das Kino als unrettbar? Weil die Reali­täten der Industrie, der Film­pro­duk­ti­ons­ma­schi­nerie, ohne die leider nichts geht, so sind, dass sie alles Gute, Wahre, Schöne von vorn­herein auszu­schließen scheinen?
Kann man? Darf man? Muss man?
Ich erlaube mir, die Antwort noch ein wenig aufzu­sparen...

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BRÖCKELN, BRÖSELN, FRAUENZEITSCHRIFTEN

Es schien die dies­jäh­rige Berlinale in der zweiten Hälfte Auflö­sungs­er­schei­nungen zu zeigen. Statt auf einen Höhepunkt zuzu­steuern wirkte das eher wie ein Bröckeln, Bröseln, ein Ausfaden, das schon in der Mitte des Songs beginnt. Mit der Qualität der Filme hatte das nicht das Geringste zu tun: Die blieb auf einem derart hohen Level, dass ich persön­lich von den über 40 besuchten Vorstel­lungen nur eine bereut habe, und daran war ich letztlich selbst schuld, weil ich den Streifen (JAGODA U SUPERMARKETU) eigent­lich, meiner diversen schlechten Erfah­rungen mit osteu­ropäi­schem Kino eingedenk, vermeiden wollte und mich dann nur äußere Umstände doch hinein­trieben. Und selbst da gab es, wenn schon sonst nichts, dann doch den netten Gag mit dem etwas verwirrten älteren Herren, der wissen will ob die Eier frisch sind und dabei Kinderü­ber­ra­schung in Händen hält.
Nein, diese Berlinale hätte getrost die Hälfte ihrer gelun­genen Filme ans Vorjahr abgeben können und es wären daraus zwei befrie­di­gende Festivals geworden – so aber waren’s also ein enttäu­schendes (mit punk­tu­ellen Glanz­lich­tern wie FULLTIME KILLER) und ein äußerst befrie­di­gendes.
Dass dennoch dieses Jahr nach ein paar Tagen sich ein Eindruck über die Fest­spiele legte, als wäre deren Pulver schon verschossen, hatte andere Gründe. Zum einen waren da die Hollywood-Produk­tionen durch, zu denen ameri­ka­ni­sche Stars angereist waren. Und so lächer­lich es ist – das macht doch immer einen erheb­li­chen Unter­schied. Weil da ein Funke der Aufregung in der Festival-Luft ist, der nicht nur auf reine Cineasten über­springt. Es mag ein korea­ni­scher Spielfilm, eine deutsche Doku noch so begeis­ternd sein – es wird (unge­rech­ter­weise) eine Begeis­te­rung im kleinen Kreis bleiben. Da ist ein Filmfest eine Veran­stal­tung von und für Leute, die den ganzen Tag in dunklen Sälen sitzen und auf flackernd beleuch­tete Wände gucken, und draußen inter­es­siert es keinen. Aber wenn die Hollywood-Größen anreisen, ja dann ist es ein Ereignis in der Stadt. Dann sagt auch der sprich­wört­liche kleine Mann auf der Straße »Ui, es ist Berlinale!« und verrenkt sich den Hals, um einen Blick zu erhaschen auf den Star auf dem Rücksitz einer der gespon­sorten Limou­sinen. Anstatt dass er sich nur wundert, warum ihm beim Einkaufen am Potsdamer Platz dauernd so viele etwas verstrahlt drein­bli­ckende, übernäch­tigte Menschen über den Weg laufen, in zumeist unkleid­samem, nicht gerade Frische ausdüns­tendem Gewand, mit farb­co­dierten, Passsfoto-tragenden Karten am Bändel um den Hals und mit von Papier über­quel­lenden Umhän­ge­ta­schen, an gespon­sorten Vöslauer-Mine­ral­was­ser­fla­schen nuckelnd, alles belagernd, wo es billig und schnell Essbares gibt. Worauf der kleine Mann höchstens denkt: »Mmmmh..., muss wohl wieder Berlinale sein...«
Aber nicht nur dass die Holly­wood­stars wieder abgereist waren und mit ihnen auch schon Großteile der Frau­en­zeit­schriften- und Privat­fern­seh­sender-Fraktion unter den Jour­na­listen nahm einigen Dampf aus der Sache – es waren auch insgesamt die meisten Filme, auf die man vorab schon so richtig heiß war, in der ersten Festi­val­hälfte versam­melt. Die Filme der zweiten Hälfte waren mit weniger Erwar­tungen befrachtet; es war die Zeit der ange­nehmen Über­ra­schungen, der über­trof­fenen Vorein­schät­zung, der erfreu­li­chen Entde­ckungen.

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GRÜNE UNIFORM AUF ROTEM TEPPICH (EIN TRAUMBILD)

Dumme Welt­si­cher­heits­lage, dumme! Warum kann die derzeit nicht ein gutes Stück entspannter sein? Gut, die Berlinale-Veran­stalter werden schon die ein oder andere Wagen­la­dung Kerzen stiften, nur weil der Irak-Krieg gott­seilo­bund­dank noch immer nur ein (wagt man noch zu sagen: mögli­cher­weise?) bevor­ste­hender solcher ist. Und mithin die ameri­ka­ni­schen Stars nicht samt und sonders ihre Flüge gecancelt haben. Aber trotzdem hat die leidige Ange­le­gen­heit einen Gast gekostet, der die Hollywood-Prominenz zu Neben­sonnen degra­diert hätte: Kein Scherz – Fidel Castro hat offenbar ernsthaft erwogen, zur Premiere »seines« Films COMMANDANTE nach Berlin einzu­schweben!
Dass er sich das dann doch nicht getraut hat, ist wohl insofern gut, als Deutsch­land durch einen Gala­emp­fang für den Maximo Lider wohl auf der Shit-list der USA noch ein paar Plätze nach oben geklet­tert wäre, und man will da ja doch nicht zu nah bei Nordkorea landen... Aber was wäre das für eine Schau gewesen!
So musste man mit Oliver Stone vorlieb­nehmen, was wiederum auch nicht verkehrt war alldie­weil er seine Doku über Kubas Nummero Uno weidlich zur Selbst­dar­stel­lung nutzt und somit nicht DIE Haupt­figur, sondern nur EINE der Haupt­fi­guren des Films daheim­ge­blieben war. Freilich die inter­es­san­tere.
Der wohl welt­berühm­teste Bart­träger (dem Stone im Film mit einem Porno­balken auf der Oberlippe scheinbar nach­zu­ei­fern sucht) ist als Doku-Objekt denn auch so faszi­nie­rend, dass nichtmal Stones Regie dagegen ankommt. Die will uns nämlich nie vergessen lassen, dass Fidel hier vor und für die KAMERA agiert – ach, was heißt DIE: für stets vier bis fünf Kameras, zwischen denen dauernd wild geschnitten wird, um auch ja die Momente auf die Leinwand zu bringen, wo sie gerade am meisten wackeln. Und um uns nie die zentrale, mindes­tens alle fünf Minuten groß ins Bild gerückte Erkenntnis des Films aus dem Gedächtnis entwi­schen zu lassen: Dass nämlich Fidel Castro ziemlich lange Fingernägel hat.

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KEIN PREIS GEHT AN... (1. ABTEILUNG)

Wenn bei einem Filmes­tival, allge­meines Bröckeln und Bröseln hin oder her, etwas immer bis zum Schluss spannend bleibt, dann ist es eigent­lich der Wett- und Schaulauf um die Preise. Aber auch dessen Entschei­dung am Samstag fühlte sich nicht an wie der Höhepunkt der Berlinale sondern wie etwas, das nun auch noch eben zu erledigen wäre, bevor mit dem sonn­täg­li­chen »Kinotag« (Film­wie­der­ho­lungen für’s gemeine Volk; eine begrüßens­werte Neuerung ange­sichts der beein­dru­ckenden Neugier, Begeis­te­rung und Ausdauer mit denen die Berliner stets den Kampf um Karten auf sich nehmen, um den Festi­val­vor­füh­rungen selbst noch des obskursten Films als Publikum beizu­wohnen), bevor also mit diesem »Kinotag« sanfter als sonst ins normale, wahre Leben zurück­ge­leitet wurde.
Viel­leicht lag’s daran, dass man sich schwer tat, einen Favoriten auszu­ma­chen – sowohl was die voraus­sicht­liche Jury-Entschei­dung als auch die eigene Rangliste anging. Zu viele sehr gute Filme waren dafür im Wett­be­werb, zu wenig absolut über­ra­gende, und keiner, der offen­sicht­lich die Quali­fi­ka­tionen für einen Festi­val­sieg hatte (was nochmal ganz andere sind als über­ra­gende Qualität).
Auf den Kritiker-Punkt­listen in den Zeitungen konnte sich THE HOURS ziemlich weit nach vorne setzen, aber in Kürze regulär anlau­fende, star­be­setzte Hollywood-Produk­tionen von nicht als Auteurs aner­kannten Regis­seuren gewinnen keine europäi­schen Festivals. (Ich habe den Film selbst noch nicht gesehen, vermute aber nach allem, was ich darüber weiß, dass ich ihn recht brav finden würde.) Aus ähnlichen Gründen schied CONFESSIONS OF A DANGEROUS MIND mit ziem­li­cher Sicher­heit als Kandidat aus – auch wenn George Clooney damit endgültig bewies, was spätes­tens O BROTHER, WHERE ART THOU? schon dringend nahelegte, nämlich dass der Mann vollsten Respekt verdient. (Es ist, nebenbei bemerkt, ganz erstaun­lich, mit welcher Aggres­si­vität sich viele Leute dagegen weigern anzu­er­kennen, dass manche Menschen gutaus­se­hend und erfolg­reich sein können und dabei trotzdem (?) noch wirklich was auf dem Kasten haben – siehe auch die Reak­tionen auf Tom Cruise oder Julia Roberts.) Man fühlte sich erinnert an Orson Welles' Diktum, Filme­ma­chen sei das aller­tollste Modell­ei­sen­bahn-Set: Clooneys Regie­debut sprüht in jeder Minute vor Freude an den Möglich­keiten des Kinos, ist – obwohl das Material das keines­wegs von sich aus aufdrängen würde – ein durch und durch visueller Film, voll von Ideen und Expe­ri­menten, ohne planlos zu sein. Gerade von einem Schau­spieler hätte man nicht erwartet, dass er so tief Film als Kunst der Bilder, Bilder, Bilder begreift. Chapeau, Herr Clooney, und weiter so! (Und Ironie des Schick­sals, dass für diesen Film dann ausge­rechnet ein Darstel­ler­preis an Sam Rockwell ging...)
Weil wir bei Clooney sind: Soder­berghs SOLARIS hatte schlechte Karten, weil Tarkow­skij-Remakes freilich prin­zi­piell miss­trau­isch beäugt werden; und mehr wohl noch, weil Hollywood-Starkino zwar für Berlinale-Jurys der schlechte Ruch der Kommer­zia­lität anhaftet, es aber dann noch weniger verzei­henswert ist, wenn es (aner­kannter Auteur als Regisseur oder nicht) sich extrem langsam und enig­ma­tisch gibt UND in Amerika an der Boxoffice bitter geschei­tert ist. No one likes a loser.

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GANZE TREPPE

Auf dem besten Wege, zur echten Berlinale-Tradition zu werden, ist es, dass Johnnie To mit dem ein oder anderen seiner über’s Jahr fertig­ge­stellten Filme dabei ist. Das hat mir persön­lich letztes Jahr das gesamte Festival gerettet (wir erinnern uns: FULLTIME KILLER am Ende vier Mal in drei Tagen geguckt). Diesmal lastete weniger Verant­wor­tung auf seinen Schultern, dank vollauf beglü­ckendem Rest­pro­gramm. Trotzdem auch PTU – so der Titel des neuesten Streichs – wieder mit dabei auf den ganz vorderen Plätzen. (Und der Meister war höchst­selbst vor Ort, was undank der Sprach­bar­riere leider weniger ergiebig war, als man sich erhofft hätte. Aber, zur Ehren­ret­tung des Dolmet­schers: Wenn die Leute auch nach (Zitat) »demo­lierten Anti­thesen von Clint Eastwood« (Zitat Ende, und nein: wir wissen auch nicht wieso, weshalb, warum) fragen, dann ist man halt auch schnell am Ende seines Kanto­ne­sisch ange­kommen...)
Anyway: PTU ist wieder eines von Tos zuvör­derst der eigenen künst­le­ri­schen Befrie­di­gung dienenden Projekten. (Wo man jetzt aber auch mal sagen muss: Wenn alles, was als kommer­zi­ellen Ewägungen gehor­chendes Kino gilt, so aussähe wie die Filme, die Johnnie To aus seiner Sicht haupt­säch­lich um des Geldes Willen macht, dann BITTE DREHT MEHR KOMMERZIELLE FILME!!!) Und entspre­chend nutzt PTU noch mehr, als To das prin­zi­piell tut, seine Genre-Elemente als Folien und Bausteine, die – über- und umge­schrieben, ungewohnt zusam­men­ge­setzt – insgesamt etwas anderes ergeben als »nur« einen Genre-Film.
Eine Nacht in Hong Kong. Einem Poli­zisten (Simon Yam mal wieder als gran­dioser Kack­specht-Darsteller) ist seine Dienst­waffe abhanden gekommen. Damit liegt plötzlich Bedrohung in der Luft: Das geregelte Gleich­ge­wicht aus legaler und illegaler Gewalt wankt; eine Waffe des Gesetzes, außer poli­zei­li­cher Kontrolle geraten, das ist geradezu eine Einladung an das Schicksal, an den Tod, zuzu­schlagen. Es scheint diese MÖGLICHKEIT eines Verbre­chens für die Poli­zisten fast angst­ein­flößender zu sein als ein real verübtes. Offiziell ist der Vorfall noch nicht gemeldet, eine Poli­zei­ein­heit streift durch die Straßen, stapft durch den Regen, auf der Suche nach der Pistole; dabei selbst keine Gewalt­an­wen­dung scheuend. Das wird bei To mindes­tens so sehr zum Stim­mungs­bild wie zum Thriller. Wenn die Truppe einen Raum im obersten Stockwerk eines Hauses stürmen will, dann zeigt To das Etage um Etage, so lange die Treppen eben sind. Und die Sache gerät To auch mehr zur Philo­so­phie als zum Krimi. Die perversen Zufälle sind es, die alles in Bewegung setzen und halten. Der Film hat was von einer exis­ten­tia­lis­ti­schen Komödie, aber ande­rer­seits führen die dummen Miss­ver­s­tänd­nisse, die gekreuzten Wege, die Synchro­ni­zi­täten letzt­end­lich zu so schön gemein und teils tödlich geschlos­senen Kreisen, dass man ihm auch schon wieder den Glauben an sowas wie einen Gott unter­stellen kann. Einen Gott, der sich auf Kosten seiner Kreaturen mit boshaften Scherzen unterhält wie ein Kind im Sand­kasten mit Ameisen.
Im übrigen kann man (so einem lediglich zwei Filme als Indi­zi­en­kette genügen) dann auch gleich einen Trend im Hong Kong-Poli­zei­film konsta­tieren: Weg von der Action, hin zu mehr Mobil­te­le­fonen. Auch Andrew Laus und Alan Maks INFERNAL AFFAIRS spart sich weit­ge­hend die Shootouts und knüpft seine Plot-Verkno­tungen (noch exzes­siver als PTU das tut) mittels Handy. Insgesamt freilich weniger über­zeu­gend als To – das zog sich gele­gent­lich schon ein bisserl in die Länge. Aber dafür mit schöner Grund­kon­stel­la­tion: Die Polizei hat einen Under­cover-Agent bei den Triaden, und die Triaden einen bei der Polizei. Und mit fabel­hafter Besetzung: Andy Lau und Tony Leung in den Haupt­rollen, und – was fast noch schöner ist – Anthony Wong und Eric Tsang, zwei der welt­ge­ni­alsten Charak­ter­dar­steller, als ihre jeweils Vorge­setzten.

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SILBENRÄTSEL

Zerfalls­er­schei­nungen auch auf den Plakaten. Eigent­lich so klar und eindeutig wie nie, das stets so beliebte »Was wollte uns der Entwerfer damit sagen?«-Rätsel entfiel: Grauer Hinter­grund, in fetten, roten Lettern BERLINALE, dahinter in dünnen schwarzen Umrissen ein Film­streifen ange­deutet und das Motto »towards tolerance«. Ganz aber nur lesbar, wenn man die Plakate aller Reihen und Sub-Festi­vals­ab­tei­lungen neben­ein­ander legte, über die der Schriftzug verteilt war. Kein Problem für Insider, das Design wieder­zu­er­kennen auch auf den einzelnen Plakaten und die Wort­aus­schnitte in den richtigen Kontext zu bringen. Aber was das wohl dem weniger infor­mierten Passanten gesagt haben mag, dass da beispiels­weise am Zoopalast nur ein riesiges »lina« prangte? Wahr­schein­lich lief da so mancher durch die Stadt, der sich vergeb­lich auf eine große Wert­müller-Retro freute...

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KEINE STIMMEN FÜR MURNAU

Und dann hinter, neben, während allem immer wieder F.W. Murnau. Die Retro­spek­tive ein Stück Kino-Heimat, in das man gerne zurück­kehrte fast jeden Tag. Das ist Filme­ma­chen als fröhliche Wissen­schaft; viel verspielter, auch sogar alberner als Fritz Lang, aber nicht minder genau ausge­tüf­telt. Eine hinreißende Bürger­lich­keit lugt aus diesen Filmen, ein 19.Jahr­hun­dert-Flair, als bemäch­tigte sich der Bieder­meier dieses damals modernsten aller Medien, um dann doch immer wieder bei der Schau­er­ro­mantik zu landen. Aber es sind eher liebens­wert gruslige Dämonen der Vergan­gen­heit, die da herum­spuken, als die herauf­zie­henden aus Murnaus Gegenwart. Die Welt dieser Filme sind möblierte Inte­ri­eurs, verfal­lende Schlösser und die Natur, nicht Straße, Fabrik und Stadt.
Es ist immer proble­ma­tisch, die Zufälle des Schick­sals als Symbole zu deuten, aber es scheint zumindest passend, dass Murnau, im Gegensatz zu Lang und Pabst, zusammen mit der Stumm­fil­mära gestorben ist. Sein Werk bleibt ganz das einer fremden Zeit; inmitten der Berlinale eine seelige Insel der Entrü­ckung und Verzü­ckung.

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KEIN PREIS GEHT AN... (2. ABTEILUNG)

Während letztes Jahr alle ganz hin und weg waren von 8 FEMMES, der ein schöner Film ist, aber nicht einmal halb so musi­ka­lisch, beschwingt und erst recht nicht flott und lustig, wie dauernd behauptet wurde, zogen dieses Mal plötzlich alle die Hasskappe auf, als der hollän­di­sche Beitrag JA ZUUSTER, NEE ZUUSTER sich erdreis­tete, einfach nur musi­ka­lisch, beschwingt, flott und lustig zu sein. Das schien auf einmal ein furcht­barer Affront, der auch gesehen wurde, als hätten die Filme­ma­cher mit ihrem Musical nie irgend etwas anderes beab­sich­tigt als just am Berlinale-Wett­be­werb teil­zu­nehmen (in den sie tatsäch­lich zu ihrer eigenen kompletten Über­ra­schung spät hinein­ge­rutscht waren). Dabei muss doch zual­ler­erst mal fest­ge­stellt werden, dass Nieder­län­disch eine wahn­sinnig lustige und nette Sprache ist, wenn man Deutsch kann. Wie schön, wenn beispiels­weise eine junge Dame das Verliebt­sein auf den ersten Blick zum Ausdruck bringt mit: »He gevt mi de Kribbels.« (Alle Holländer mögen meine garan­tiert grot­ten­fal­sche Trans­li­te­ra­tion des Gehörten bitte verzeihen.) Und dann hat kein anderer Wett­be­werbs­bei­trag das Berlinale-Motto »towards tolerance« auf so unge­zwun­gene, vergnüg­liche, mensch­liche, selbst­ver­s­tänd­liche Art und Weise ausgelebt wie dieser. Und schließ­lich ist das doch eine ebenso schöne wie inter­es­sante Sache, wenn da von einer Kult-TV-Serie der ‘60er eine Film­ver­sion gemacht wird, obwohl alle Sende­bänder der Fern­seh­show längst vernichtet sind und die Nider­länder offenbar alle nur die wachste und wärmste Erin­ne­rung an diese Sendung haben. Weshalb JA ZUUSTER, NEE ZUUSTER also (zumal die Filme­ma­cher nach eigener Auskunft zum Großteil diese Sendung nie sehen konnten, weil sie zu jung sind oder damals keinen Fernseher hatten) eigent­lich eher die Film­ver­sion dieser ERINNERUNGEN und nost­al­gi­schen Gefühle ist.
(Nebenbei: Muscial als Eröff­nungs­film, Musical im Wett­be­werb, Musicals in der Shaw Bros.-Hommage, Musicals allü­berall auf dieser Berlinale. Aber ausge­rechnet Bollywood, das letzte Kino-Land mit einer wirklich domi­nie­renden, unge­bro­chenen Musical-Tradition war mit COMPANY vertreten – einer sehr schönen (und am Ende schön tragi­schen) indischen Version von THE GODFATHER –, der es als besondere Leistung ansah, sehr wenige Musik­num­mern und die dann in den Plot einge­ar­beitet zu haben...)
Nun ja, so gab es also Film für Film gute Gründe, warum er eigent­lich durchaus hätte preis­würdig sein können und warum er aber real als Preis­träger kaum in Frage kam. Claude Chabrols LA FLEUR DU MAL – mögli­cher­weise eine Inzest­ge­schichte, ganz sicher aber ein wunder­barer Film über groß­bür­ger­liche Fami­li­en­ge­heim­nisse und Politik – hatte darunter zu leiden, dass alle Subti­lität, Genau­ig­keit, Boshaf­tig­keit, Süffisanz offenbar für viele wenig zählt, wenn ein Regisseur schon öfters bewiesen hat, dass er meis­ter­lich subtil, genau, boshaft und süffisant sein kann. ALEXANDRA’S PROJECT von Rolf de Heer dagegen hatte ein paar völlig uner­war­tete, großartig perverse Momente, die einen so richtig aus dem Kino­sessel heben konnten; war auch ein Stück weit eine hübsche Reflexion über die Angstlust beim Film­an­schauen, über Suspense: Ein Mann findet sich an seinem Geburtstag in seinem Haus einge­schlossen und daselbst von seiner Frau nur eine Video­kas­sette vor, auf dem sie erst einen Strip­tease hinlegt, dann aber offenbart, wie sehr sie ihn und die Ehe hasst. Die einzige Chance, die er hat, mögli­cher­weise aus seiner Situation frei­zu­kommen, ist, das Band ganz anzu­schauen, auch wenn er eigent­lich alles andere lieber täte als das. Nicht unklug, das alles, aber dann auch wieder zu konstru­iert, zugleich eine Lehrbuch-Anklage gegen Männer­phan­ta­sien, die selbst immer wieder nach Männer­phan­tasie riecht und die ihre Inte­grität als Charak­ter­studie zu oft zugunsten der Unter­halt­sam­keit, der über­ra­schenden thril­lerähn­li­chen Wendungen aufgibt. Mit diesen Thriller-Anklängen dann sowieso nicht die Art Film, die bei Berli­nalen groß punkten könnte, und dazu der letzte Film im Wett­be­werb, was allein meist schon jenseits aller anderen Faktoren einen fast aussichts­losen Stand beschert.

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O BROTHER...

So, und jetzt, da aber doch ADAPTATION mit einem Silbernen Bären bedacht wurde, muss ICH mich endlich einmal zu Wort melden: Gestatten, Dagobert Willmann. Ich kann Ihnen nämlich ein Geheimnis verraten: Thomas mochte ADAPTATION nur deshalb nicht so besonders, weil er die Sache mit den Zwil­lingen nicht vertragen konnte. Er mag nämlich auch mich nicht besonders, und da kann er es nicht haben, dass da im Film ein Autor, der sich ewig mit seinen vermeint­lich künst­le­risch hoch wert­vollen Texten plagt, einen – wie er findet: ahnungs­losen – Zwil­lings­bruder hat, der drauf­los­schreibt und damit Erfolg hat. Es wäre ihm sicher auch lieber, wenn ich jetzt den Mund halten würde, und bestimmt erklärt er jedem, der’s hören will, dass ich vom Schreiben nix verstehe. Obwohl ich einen Ratgeber gelesen habe, der erklärt wie’s einfach und richtig geht und ich jetzt problemlos einen ganzen Berlinale-Bericht abliefern könnte, so mit »Nebel liegt über dem Potsdamer Platz« und allem drum und dran...
Aber ich erzähl' Ihnen mal was: Ich geb' wenigs­tens zu, wo ich mich auskenne und wo nicht. Aber Thomas schreibt ihnen was hin zum Umgang mit Raum bei Ozu und so, und dabei what er mir in einem unvor­sich­tigen Moment nach mehreren Bieren verraten, dass er in TOKYO MONOGATARI nur rein ist, weil er’s verwech­selt hat mit TOKYO NAGAREMONO von Sejun Suzuki! Und dass er, bis der Vorhang hochging, noch immer drauf gewartet hat, dass da jetzt gleich die Yakuza sich bekriegen, in Cine­ma­scope und den wildesten Farben! Ha, und so einer tut so, als wüßte er was.
Und überhaupt garantier' ich Ihnen: Irgend­wel­cher toller Umgang mit Raum ist dem nicht halb so wichtig bei einem Film, als dass hübsche Asia­tinnen mitspielen. (Wobei er da glaub' ich gar nicht so wähle­risch ist: Hübsche Fran­zö­sinnen, oder Unga­rinnen oder was immer auch tun’s genauso.) Ja ja, immer feste schimpfen auf so Daumen-hoch-oder-runter-Wertungen und Spannung/Action/Anspruch/Erotik/Humor-Kästchen in Film- und Fern­seh­zeit­schriften, und dann hat der selbst im Hirn doch auch nix anderes als Formulare zum Ankreuzen: »Blutige Shootouts/Anknüp­fungs­punkte für film­his­to­ri­sches Fach­wissen/Hübsche Asia­tinnen,« und so. (Bei der Reihen­folge bin ich mir jetzt nicht sicher.)
Und außerdem habe ich schwer den Verdacht: Auf die Pres­se­kon­fe­renzen geht er – außer, wenn dort hübsche Asia­tinnen auf dem Podium sitzen – doch auch nur wegen der süßen Mikro­fon­reich...

(Ein Schuss aus dem Off.
Wir widmen diesen Artikel unserem viel zu früh heim­ge­gan­genen Zwilling.)

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IM REICH DER GLYCERIN-TRÄNEN

Geschimpft wurde reichlich, wie kalt es mal wieder (und diesmal noch mehr als sonst) in der Bundes­haupt­stadt war. Aber Schnee auf der Leinwand, das ist freilich was ganz anderes! Schnee im Film, das gehört zu den schönsten Dingen im Kino überhaupt – und es müßte das Film­mu­seum unbedingt mal eine Reihe mit Schnee­filmen (und insbe­son­dere: Winter­wes­tern!) bringen. IL GRANDE SILENZIO, THE CLAIM, FARGO, EDWARD SCISSORHANDS könnten da beispiels­weise laufen. Und: INTIMATE CONFESSIONS OF A CHINESE CONCUBINE! Was eine Entde­ckung im Rahmen der wunder­baren kleinen Shaw Brothers-Hommage des Forums! Die war ja insgesamt für nur fünf Filme erstaun­lich breit gefächert und sehr inter­es­sant (wie das religiöse Leben Erlangens zu seligen NDW-Zeiten...). Natürlich auch ‘70er Jahre Martial Arts-Klassiker aus Hong Kongs damals wich­tigster Filme­schmiede – 36TH CHAMBER OF THE SHAOLIN endlich mal unge­schnitten und auf üppig bemes­sener Leinwand, und King Hus COME DRINK WITH ME (wie Herr Peters richtig bemerkte einer der welt­schönsten Filmtitel), SEHR groß, sehr nah an Sergio Leone und auch eine prima Ergänzung zu HERO im Wett­be­werb. (Eine King Hu-Reihe gehört auch zu den Sachen, die das Film­mu­seum mal DRINGEND veran­stalten sollte...) Aber dann eben auch zwei Musicals, einmal in unglaub­lichsten Farben, mit tradi­tio­neller chine­si­scher Musik (zu der offenbar auch Früh­formen des Rap gehören!) und zunächst einem sehr lustigen Kaiser auf Gril­len­fang, dann aber einem ganz tragi­schen Ende THE KINGDOM & THE BEAUTY; zum anderen nicht ganz so bunt, aber in Breitwand, mit ‘60er Jahre-Musik (und man hat nicht wirklich gelebt, bis man nicht Cheng Pei Pei im Trio mit zwei Film­schwes­tern ein A-Go-Go-Turnier gewinnen gesehen hat!) und einer ebenso packenden Mischung aus Humor und Dramatik, inklusive einer wirklich grusligen Geis­ter­er­schei­nung, HONG KONG NOCTURNE.
(Neben­be­mer­kung: Zu den Vortielen von Festivals gehört es auch, dass sich da zwischen Filmen immer wieder uner­war­tete Quer­ver­bin­dungen auftun. Zhang Yimous HERO hätte ohne den Erfolg von Ang Lees CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON wohl schwer­lich seine Finan­zie­rung gefunden, und so war es besonders passend, dass während der Berlinale »Jade Fox« Cheng Pei Pei in jungen Jahren – und in Martial-Arts-Meilen­steinen – zu sehen war. Während ihr Tochter zugleich in Peter Ho-Sun Chans HUI JIA – eine »extended version« der Episode aus der Asien-Horro-Antho­logie THREE – als schöne Leiche zu sehen war. Was dort übrigens durchaus eine der Haupt­rollen ist.)
Und schließ­lich: INTIMATE CONFESSIONS, in dem im gleichen Maße die Glycerin­tränen an den Wangen kullerten wie die Glyer­inschweiß­tropfen auf den Stirnen perlten, inmitten herz­er­wär­menden Studio-Kunst­schnees. Los ging’s wie ein übler Sexploita­tion-Film, mit verschleppten Maiden und Jung­fern­schafts-Inspek­tionen bei Kerzen­licht. Aber dann ein großer Rache­feldzug, using sex (among other things) as a weapon; I SPIT ON YOUR GRAVE mit der Eleganz und Kunst­fer­tig­keit chine­si­scher Kalli­gra­phie geschrieben – allein was da an poeti­schen Sachen mit Groß­auf­nahmen mitein­ander Spre­chender alles gemacht wurde, der Wahnsinn! Weil aber mit dem Süßen auch immer das Bittere vom Schicksal verab­reicht wird war freilich genau das der einzige in keinerlei Weise restau­rierte Film der Reihe, und da konnte man sich nicht immer ganz sicher sein, was da leise rieselnder Kunst­schnee und was nur Alters- und Gebrauchs­spuren-bedingtes weißes Rauschen der Kopie war...

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SYMPATHIE FÜR WIEDERKEHRER

Wer einmal da war, der kommt immer wieder. Das ist nicht nur ein beliebter Werbe­spruch der Touris­mus­branche sondern auch ein Motto der Berlinale. Keine Ahnung, ob es eine genaue statis­ti­sche Erhebung darüber gibt, aber gefühls­mäßig würde ich sagen, dass bestimmt die Hälfte der Regis­seure und Haupt­dar­steller, die mit einem neuen Werk vertreten waren (oder jetzt in einer der unzäh­ligen Jurys saßen) schon früher einmal Filme auf der Berlinale laufen hatten. Es war ein Festival der guten, alten Freunde.
Was unleugbar große Vorteile hat, wenn man die entspre­chenden Filme­ma­cher schätzt. Wer weiß, wann und wo man jemals SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE (BOKSUNEUN NAEGUT) zu sehen bekommen hätte, wenn Park Chan-uk nicht schon mal seinen groß­ar­tigen JOINT SECURITY AREA im Wett­be­werb hätte laufen gehabt. Aber wo J.S.A. auf dem Felde der Hochglanz-Polit­thriller holly­wood­scher Prägung ackerte, nur mit mehr poeti­scher Bildmacht und melo­dra­ma­ti­scher Tragik, da ist SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE noch am ehesten vergleichbar mit Filmen des Meister-Vers­tö­rers Takashi Miike.
Sympathie – die hat Park hier mit all seinen Charak­teren insoweit, als er keinen verur­teilt, als die Hand­lungen von allen vers­tänd­lich bleiben. Doch Mitleid, oder gar Gnade – das kennt der Film nicht im Geringsten, weder mit seinen Figuren, noch mit seinen Zuschauern.
Von den ersten Momenten an liegt eine grandiose Trau­rig­keit über diesem Film, als hätte er das Ende schon fest im Blick, während die Charak­tere noch leben, lieben und hoffen. Gerade das Lieben und Hoffen ist es aber, das in die Kata­strophe führt: Der junge, taub­stumme Prot­ago­nist will seiner Schwester eine Nieren­trans­plan­ta­tion schenken, aber erst hat er zwar das Geld dafür, doch es fehlt ein passendes Spen­der­organ. Also wagt er sich zu illegalen Organ­händ­lern (deren »Klinik« im obersten Stockwerk eines unfer­tigen Hoch­hauses ist), die ihm eine passende Niere besorgen – im Tausch gegen eine seiner eigenen und eine hohe Gebühr. Weshalb nun also wiederum das Geld fehlt. Zusammen mit seiner Freundin, einer der letzten Marxisten Südkoreas, entführt er daraufhin die kleine Tochter seines Ex-Chefs, von dem er jüngst entlassen wurde. Und ab da geht erst recht alles schief, zumal der Ex-Chef, aus Liebe zu seiner Tochter, auf erbit­terten Rache­feldzug geht... Das alles geschil­dert mit einer durch und durch meis­ter­haften, elegi­schen Distanz, die nie zynisch wird; mit einem Gespür für Bilder, Räume, Rhythmen die atem­be­rau­bend ist. Mit einer Gewalt­tä­tig­keit, die – vor allem, weil man die Charak­tere so gut verstehen lernt – oft wie ein richtiger Tritt in den Magen wirkt. Und irgendwie schafft es Park auch noch, dem allen einen bizarren Humor abzu­ge­winnen.
Ein Film, der selbst mir letztlich zu heftig war, als dass ich ihn direkt zu meinem Lieb­lings­film des Festivals hätte ausrufen wollen. Aber kein anderes Werk hat mich auf dieser Berlinale derart in die Mangel genommen, so tief einge­sogen und am Ende so wacklig aus dem Kino­sessel entlassen.

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WIR UNTERBRECHEN DIESEN TEXT FÜR EINE WICHTIGE MITTEILUNG AN HERRN JACKIE CHAN:
LIEBER HERR CHAN, WIR DANKEN IHNEN HERZLICHST FÜR DAS AUTOGRAMM UND GÖNNEN IHNEN DAFÜR OHNE DAS GERINGSTE BEDAUERN UNSEREN FOLIENSTIFT (DER OHNEHIN SCHON RECHT ALT UND LEERGESCHRIEBEN WAR). WENN SIE ABER DIE ZURÜCKGELASSENE KAPPE ZU DEM STIFT NOCH BRAUCHEN, DANN MELDEN SIE SICH BITTE ÜBER DIE UNTEN ANZUFINDENDE E-MAIL-ADRESSE. WIR WOLLEN JA AUF KEINEN FALL, DASS SIE SICH SCHMUTZIG MACHEN. UND MIT UNVERKAPPTEN FOLIENSTIFTEN GEHT DAS DOCH SO LEICHT.

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DIE BESTEN GESCHICHTEN

Ergänzen Sie bitte diesen Satz: Das wahre Leben schreibt doch... Oder, anders gesagt: Das Anschauen von Dokus führt meist zur Fest­stel­lung, dass man sich eigent­lich viel mehr Dokus anschauen sollte. Denn während beim Spielfilm gilt »It’s the teller, not the tale«, hat eine Doku schon gewonnen, wenn sie ein gutes Thema hat und sich dann nicht völlig grob fahr­lässig dumm anstellt.
Beweis­s­tück A: POWER TRIP. Der dem Genre sicher formal keine neuen Welten erschließt. Aber was eine Story! Der ameri­ka­ni­sche Ener­gie­liefer-Gigant AES macht sich auf nach Georgien, um im ehema­ligen Sowjet-Staat die Strom­ver­tei­lung geregelt (und selbst­ver­s­tänd­lich: bezahlt) zu bekommen. Also ein Film über den bösen Kapi­ta­lismus und seine ruchlose Auswei­tung der Kampfzone? Weit gefehlt. Denn es schmeckt den Bürgern der Stadt Tblisi zwar anfangs keines­wegs, dass sie nun für etwas zahlen sollen, das sie bisher gewohnt waren, sich zumeist auf kosten­freiem Weg zu besorgen; mit Strom-Abzapf-Konstruk­tionen, die die Grenze zum Lebens­ge­fähr­li­chen sowieso, teils scheinbar aber geradezu die Gesetze des physi­ka­lisch Möglichen über­schritten. Mit der Zeit aber wird dem Film »Strom« immer mehr zur Metapher für Macht überhaupt, werden die Kreise, in denen dieses scheinbar einfache Geschäft sich verfängt immer größer, grund­le­gender und verschlun­gener. Und AES wird für die Georgier (zumindest zeigt der Film es so) immer mehr zum Hoff­nungs­träger: Verkör­pernd die Utopie eines Systems, in dem zuver­lässig und trans­pa­rent Leistung und Gegen­leis­tung zusam­men­hängen; in dem wenigs­tens einen Winter lang einmal Tblisi durch­gängig mit Strom versorgt ist. Und in dem nicht allein der Verwand­schafts­grad zu Präsident Sche­vard­naze darüber entscheidet, ob man etwas bekommt oder nicht.
In gewisser Weise war POWER TRIP damit eine prima Doku-Ergänzung zum Abschluss­film GANGS OF NEW YORK (der andern­orts mit einer eigenen Hymne bedacht werden soll, um den Rahmen dieses Berichts nicht komplett zu sprengen): Auch da geht es ja um die Ablösung eines alten Systems durch ein neues, geht es um die Durch­set­zung dessen, was wir als Zivi­li­siert­heit betrachten.

Beweis­s­tück B: HERR WICHMANN VON DER CDU, vom heim­li­chen Gewinner der letzten Berlinale, Andreas Dresen. Dokument einer verlo­renen Zeit, als es noch Bundes­länder (in diesem Fall: Bran­den­burg) gab, in denen der SPD über 50% Stimm­an­teil sicher waren – September 2002. Und also ein Herr Wichmann, Direkt­kan­didat der CDU, dort einen vergeb­li­chen Wind­müh­len­kampf führte beim Versuch, »frischen Wind in die Politik« zu bringen, wobei ihm meist einfach nur sein (selt­sa­mer­weise roter) CDU-Sonnen­schirm um- und fort­ge­weht wurde. Unter dem er sich allü­berall im Wahlkreis postierte, um haupt­säch­lich Kugel­schreiber zu verteilen, neben­säch­lich aber auch die immer­glei­chen Sprüche abzu­lassen von den bösen, Indus­trie­an­sied­lung-verhin­dernden Umwelt­schüt­zern mit ihren »Trocken­wiesen und Fröschen« und ansonsten den diskus­si­ons­wil­ligen Leuten schön brav ihre meist auslän­der­feind­li­chen Stamm­tischsätze mit nur leicht abmil­derndem »Na ja...« gutzu­heißen, in der Hoffnung, dass ihn daraufhin doch irgendwer wählt.
Ziel des Filmes ist es dabei keines­wegs, Herrn Wichmann bloß­zu­stellen (obwohl der das teilweise selbst ganz gut erledigt). Es geht um ein Bild von Politik, oder genauer: Wahlkampf, auf der untersten, direk­testen Ebene. Als solches ist der Film in gleichen Maßen absurd, komisch, ernüch­ternd und pessi­mis­tisch. Dazu geht es um ein Bild von einer Rand­re­gion Deutsch­lands, und da verschiebt sich der Eindruck deutlich hin zum Erschre­ckenden: Auch wenn es einer deli­rie­renden Komik nicht entbehrt, wenn da beispiels­weise im Wurst­buden-Bier­garten zur Heino-Platte die Natio­nal­hymne abge­sungen wird und dabei die Kinder einen Fackelzug veran­stalten müssen. Dann aber gibt es noch diese Szene im Alters­heim, in das sich Herr Wichmann auf Stim­men­fang begibt, woselbst ihm aber sehr bald die Sprüche ausgehen. Was nichts mit Politik und auch nicht viel mit Herrn Wichmann zu tun hat: Da gerät der Film durch die zufäl­ligen äußeren Umstände plötzlich an Themen, neben denen sich seine eigent­lich beab­sich­tigten sehr klein ausnehmen. Da kann er nicht anders als tief­traurig-nüchtern zu berichten über Einsam­keit, Hinfäl­lig­keit und Sterb­lich­keit; über Kondi­tionen mensch­li­cher Existenz, bei denen Politik, Sprache und Bilder glei­cher­maßen blass und machtlos werden.

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KEIN PREIS GEHT AN... (3. ABTEILUNG, BEINHALTEND DEN GEGANGENEN PREIS)

Schließ­lich waren da im Wett­be­werb selbst­ver­s­tänd­lich all die Quoten-Filme, von denen kaum je wirklich erwartet wird dass sie anderes erreichen als sicher­zu­stellen, dass das afri­ka­ni­sche Kino reprä­sen­tiert ist und genug Werke über Straßen­kinder oder sonstige bedau­erns­werte Rand­gruppen das Gewissen beruhigen, indem man sich andert­halb Stunden in absolut sicherem Rahmen ein schlechtes solches machen darf. In gewisser Weise zählen dazu auch die deutschen Beiträge, auch wenn die dieses Jahr ihren Platz im Wett­be­werb viel eher quali­tativ zu recht­fer­tigen wussten als 2002; Oskar Röhlers DER ALTE AFFE ANGST mögli­cher­weise ausge­nommen, von dem nie anderes zu hören war als dass man recht daran getan hatte, wenn man ihn sich gleich ersparte.
Patrice Chéreau hingegen hat schon einen noch reichlich frischen Goldenen Bären im Regal, was SON FRÈRE von vorn­herein auf ziemlich aussichts­losen Posten stellte; Zhang Yimous HERO war viel zu sehr pures, fantas­ti­sches, bild-, farb-, musik- und illu­si­ons­freu­diges Kino, um hier Gnade zu finden. Und Spike Lees THE 25TH HOUR kam für einen Bären nicht in Frage, weil... Tja, warum eigent­lich nicht? Wo es doch sein über­zeu­gendster Film seit Jahren ist; eine im Privaten gespie­gelte, große, fast epische Post-11.09.01-New York-Elegie, die Raum hat sowohl für eine vitriol­ver­sprühende Hass­ti­raden-Fantasie und einen para­die­si­schen Traum von Amerika. Ein grandios gespielter, grund­mu­si­ka­li­scher Film, dessen Atmo­sphäre fast mit Händen zu greifen ist – und endlich mal wieder ein Werk, in dem Lee nicht doziert und belehrt, in dem er nicht WEISS sondern FÜHLT.

Der Goldene Bär für IN THIS WORLD geht trotzdem in Ordnung, auch wenn zu befürchten ist, dass der Film ihn weniger wegen (oder gar: trotz) seiner letzte Woche beschrie­benen Quali­täten bekommen hat und mehr aus thema­tisch-poli­ti­schen Erwä­gungen; dass also unter Umständen eher der Film ausge­zeichnet wurde, den man aufgrund einer Inhalts­an­gabe erwarten würde als der wirklich auf der Leinwand zu sehende. So oder so, Michael Winter­bottom erhält den güldenen Meister Petz zu Recht allein schon deswegen, weil er ihn vor zwei Jahren für THE CLAIM schon hätte kriegen müssen.

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GENIALES MEISTERWERK, WIE GEHABT

Noch so eine Berlinale-Tradition, wenn auch zuletzt nicht ganz so regel­mäßig wie Johnnie To-Premieren: Sabu kommt, stellt sich vor als Genie, kündigt seinen neuen Film als Meis­ter­werk an, macht ein Foto vom Publikum. Und dann kommt der Film, und unver­schäm­ter­weise hat Sabu mit seiner großen Schnauze auch jedesmal recht. Dieses Jahr hat er immerhin selbst fest­ge­stellt er komme jedesmal, stelle sich als Genie vor, kündige an sein Film sei ein Meis­ter­werk und mache dann ein Foto vom Publikum. Um dann genau das zu tun.
Und viel­leicht hatte er mit der Meis­ter­werk-Behaup­tung bei THE BLESSING BELL (KOUFUKU NO KANE) sogar noch ein bisschen mehr recht als sonst schon immer.
(Es ist ein bisschen schwer, diesen Film ange­messen zu preisen, ohne dabei gleich viel zu viel zu verraten, deswegen sollten sicher­heits­halber jetzt mal alle weglesen, die noch hoffen, THE BLESSING BELL irgend­wann zu sehen zu bekommen. Die Chancen auf einen deutschen Verleih stehen übrigens gar nicht schlecht...)
Wenn man beschreibt, wie extrem ruhig, reduziert, supers­treng, ultra­genau dieser Film zu Werke geht, klingt das wahr­schein­lich sofort nach klas­si­scher japa­ni­scher Schule, ohne dass das Wich­tigste dabei bewusst würde: Nämlich wie rasend komisch dies alles zugleich ist. Das Berlinale-Programm­journal zog den Vergleich zu Kauris­mäki, und der ist nicht verkehrt; aber noch viel mehr fühlte ich mich an Jacques Tati erinnert: Das ist die selbe hohe Schule eines Humors, der ganz auf Rhythmus beruht. Susumu Terajima könnte man in THE BLESSING BELL auch durchaus als einen ganz entfernten, japa­ni­schen Verwandten von Monsieur Hulot sehen: Völlig wortlos und ziemlich frei von emotio­naler Regung streift er durch die Gegend – auf der Leinwand stets von links nach rechts – und tappt dabei in eine absurde Episode nach der anderen. Er erlebt unter anderem den Tod eines Yakuza, wird als vermeint­li­cher Mörder verhaftet, sieht einen Geist, gewinnt Millionen im Lotto, rettet ein Kind, verliert die Lotto­mil­lionen wieder... (Den Geist spielt übrigens kein gerin­gerer als Seijun Suzuki – laut Sabu nicht als Vernei­gung gegenüber dessen Werk, sondern weil es in Japan so wenige alte Männer als Schau­spieler gäbe...)
Das wäre alles an sich schon reichlich genial, aber man kennt ja das alte Problem bei solch völlig episo­dischen Geschichten: Sie sind schwer zu einem über­zeu­genden Ende zu bringen. Und da zieht THE BLESSING BELL seinen bril­lan­testen Trumpf: Zum Finale RENNT sein Held die gesamte Strecke des Films zurück, nun von rechts nach links durch alle erlebten Stationen. Kehrt heim – der vermeint­lich stoische Einzel­gänger und Outsider – in ein Einfa­mi­li­en­haus, wo Frau und Kind auf ihn warten. Und beginnt – nachdem er den ganzen Film kein einziges Wort gesagt hat – mit belang­losem Smalltalk. Über allem japa­ni­sches Abend­glo­cken­läuten.
Es gab tatsäch­lich einen im Publikum, der das so 1:1 nahm, dass er sich bei der anschließenden Diskus­sion bemüßigt fühlte zu fragen, warum Sabu denn die Klein­fa­milie als Lösung aller Probleme sähe...

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SCHWEIN

Sie wollen jetzt auch noch wissen, was der aller­schönste, also der wirklich aller­al­ler­schönste Film der ganzen schönen Berlinale war? Tja, der lief gar nicht im offi­zi­ellen Programm, sondern auf dem Filmmarkt, im Unter­bauch des Maxx, bis in den keinerlei Glamour vordringt; wo alles nach Arbeit und Geschäft riecht, die Kinos schmuck­lose 40-Plätze-Schach­teln sind und die Besucher (außer ein paar einge­schli­chenen Jour­na­listen) keine Filmfans, sondern Einkäufer.
Den schönen Titel trug er MY LIFE AS MCDULL, und ein Zeichen­trick­film aus Hong Kong war’s, über ein kleines Schwein, dessen Mutter hoch­flie­gende Pläne für es hat und das selbst davon träumt, etwas Großes zu werden (zum Beispiel Olym­pia­sieger im »Buns­nat­ching« – für Bayern: Semmel­stehlen, für Berliner: Schrip­pen­schnappen –, einer ausge­stor­benen Tradi­ti­ons­sportart einer chine­si­schen Provinz). Das aber viel zu traum­du­selig und dödelig ist für alles, und zu unat­traktiv obendrein.
Das war a ein unglaub­lich süßer Film b einer der visuell weitaus am verrück­testen und inno­va­tivsten dieser zwei Kino­wo­chen c voller bizarrer Gags und vor allem d schluss­end­lich ganz uner­wartet ein wirklich tiefer, gar nichts vernied­li­chender, großer Film über die Enttäu­schung im Leben. Leider ging dann aber meine Ein-Mann-Demo »Einen Bär für das Schwein!« im Anti-Kriegs-Protest­marsch ein wenig unter.

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DIE RÜCKKEHR DER REQUISITEURIN

Also, nun doch endlich zurück zu unserer Requi­si­teurin vom Anfang, die dabei war, jede Hoffnung für’s Kino zu verlieren. Diese Dame ist eine Figur aus LAST SCENE von Hideo Nakata (auch so ein Wieder­kehrer: sein DARK WATER war letztes Jahr einer der wenigen Licht­blicke).
Es war der vorletzte Film, den ich mir auf der Berlinale ange­schaut habe, und eine schönere, wärmere Liebes­er­klärung ans Kino hätte ich mir zum Abschluss gar nicht wünschen können.
Besagte junge Requi­si­teurin arbeitet in LAST SCENE wie erzählt bei einer Kino-Version einer TV-Arztserie, mit einem trot­te­ligen, planlosen Jung­re­gis­seur (dessen prägendes Film­erlebnis, das ihn seinen Berufs­wunsch fassen ließ, THE OMEN 2 war...), einer weit­ge­hend unin­ter­es­sierten Crew und unfähigen Schau­spie­lern, in einem Studio am Rande der Pleite.
Aber da ist dieser Neben­dar­steller, ein alter Mann, der einen ster­benden Krebs­pa­ti­enten zu verkör­pern hat. Seit 40 Jahren war er in keinem Film zu sehen, nachdem es in den ‘60ern mit seinem Ruhm fast über nacht zu Ende gegangen war. Damals war er nicht einmal ein besonders enga­gierter oder liebens­werter Vertreter seiner Zunft – ehrlich gesagt sogar ein ziem­li­ches Arschloch. Aber jetzt will er noch ein einziges Mal auf die Leinwand. Fast verliert er die Chance dazu, weil er sich seinen Text einfach nicht merken kann und die Zeit drängt, seine Szene gestri­chen zu werden droht. Aber dann erscheint ihm seine tote Frau, probt mit ihm den Text. Die junge Requi­si­teurin und die paar alten Hasen im Team reißen sich zusammen, entdecken plötzlich wieder ihre Liebe zum Detail, zum Perfek­tio­nismus, nehmen Regisseur und tobendem Produ­zenten das Heft aus der Hand. Auf einmal ist es da, das Gute, Wahre, Schöne, inmitten all des Falschen und Zynischen dieser belang­losen Produk­tion. So stark, dass selbst die Fern­seh­schau­spieler es spüren, ange­steckt werden.
Es wird eine Szene von herz­zer­reißender Größe. Man weiß: Sehr lange wird der alte Schau­spieler sie nicht überleben. Aber die Requi­si­teurin, die die ganze Zeit während der Groß­auf­nahme am Bühnen-Ster­be­bett saß als wäre es ein echtes, sieht ihn danach an und verspricht: Sie wird nie auffhören, Filme zu machen.

Selbst wenn diese Berlinale nicht voll gewesen wäre von begeis­ternden Werken, wenn sie nicht eine solche Feier gewesen wäre des Films und seiner Möglich­keiten; ja, wenn es sonst keinen einzigen erträg­li­chen Streifen gegeben hätte auf dem ganzen Festival: Hier, am Schluss von LAST SCENE, dieser wunder­schönen Ode von tiefstem Herzen, hätte man zusammen mit der jungen Requi­si­teurin den Glauben an die Magie des Kinos zurück­ge­wonnen.

Thomas Willmann