24. Dokumentarfilmfestival München 2009
Das Dok-Fest ist eröffnet |
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Agnès Varda genießt den Ausblick |
Während das Angebot an Dokumentarfilmen im normalen Kinoprogramm kontinuierlich steigt, ist das Programm des Dok-Fests in dieses Jahr deutlich geschrumpft. Ganze Sektionen – Neue Filme aus Bayern und die Retrospektive – sind dem Rotstift zum Opfer gefallen. Die Auswahl ist trotzdem nicht leichter geworden. Und die Aufgabe einen Vorabartikel mit den passenden Empfehlungen zu geben auch nicht – wie sie am späten Erscheinen dieses Artikels bemerken. Noch immer gibt es mehr interessante »Filme« zu sehen als man in der einen Woche Dok-Fest schauen kann.
Wobei richtige Filme knapp werden. DigiBeta dominiert im Dokumentarfilmbereich immer mehr. Selbst im Wettbewerb laufen nur noch fünf klassische Filme neben 13 Videoprojektionen. Konnte man vor ein paar Jahren beim Durchforsten des Programms noch die Faustformel anwenden »Was dem Produzenten kein Filmmaterial wert ist, ist meist auch nicht die Zeit des Zuschauers wert.« gilt dies heutzutage nicht mehr. Auch renommierte Dokumentarfilmer und -filmerinnen wie Kim Longinotto liefern nur noch DigiBeta ab. Die Vertreterin des cinéma vérité ist ein alter Stammgast auf dem Dok-Fest und in der Vergangenheit u.a. mit Divorce Iranian Style über ein Familiengericht in Teheran und Gaea Girls über japanische Mädchen, die Wrestlerinnen werden wollen, begeistert. In Rough Aunties beobachtet sie diesmal ein Hilfsprojekt für misshandelte Kinder in Durban, Südafrika (Do. 18:00 Filmmuseum, So. 20:30 Atelier).
Manches interessante Werk kann nur Dank der neuen Technik entstehen, wie Burma VJ besonders eindrucksvoll beweist (Fr. 19:30 Atelier, So. 11:30 Arri). Das Tagebuch eines burmesischen Videojournalisten dokumentiert die Massenproteste gegen die burmesische Junta im Sommer 2007 und gleichzeitig die Arbeit der Untergrund-Journalisten. Ihr Videomaterial wird an der Zensur vorbei ins Ausland geschmuggelt und macht die Geschehnisse in Rangun so im Westen erst zum Ereignis, das zur Primetime über die Fernseher flimmert.
Trotzdem, optisch und von ihrer sinnlichen Qualität ist die klassische Filmprojektion DigiBeta deutlich überlegen. Wenn es um Kunst, Landschaft oder Farben geht, sollte man weiter auf klassischen 35mm-Film Wert legen, etwa bei Silent Color Silent Voice (Fr. 22:00 Filmmuseum, So. 14:30 Atelier). Das Porträt eines Paares, sie Weberin, er Sänger, das auf der ländlich-beschaulichen japanischen Insel Iriomote im Einklang mit der Natur lebt, verspricht ein fest für Augen und Ohr zu werden.
Als Kontrast und perfekte Ergänzung dazu bietet sich Japan: A Story of Love and Hate an (Fr. 22:00 Atelier, Mo. 20:00 Arri). Wieder wird ein japanisches Pärchen porträtiert, diesmal auf DigiBeta – und doch eine Welt, wie sie unterschiedlicher kaum sein kann. Iriomote aus Silent Color Silent Voice liegt ganz im Süden von Japan, soweit weg von Tokio, wie man in Japan nur sein kann. Japan: A Story of Love and Hate führt dagegen mitten im Moloch der modernen Großstadt. Dort leben Naoki und Yoshie als Teilzeitarbeiter und Hungerlöhner in einem winzigen Apartment auf der Schattenseite der japanischen Gesellschaft.
In FILM IST. a girl & a gun wird die sinnliche Qualität klassischen Filmmaterials sogar thematisiert. Aus Filmschnipseln aus der Anfangszeit des Kinos wird ein Farben- und Bilderrausch komponiert, der sich vage am griechischen Mythos zur Entstehung der Welt orientiert. Zwar sind manche Assoziationen – etwa zwischen Kanonen und dem männlichen Sexualorgan – arg abgedroschen, andere Bilder gefallen dafür umso besser. Außerdem werden so endlich einmal Pornos aus der Frühzeit des Kinos zu Gesicht, die sonst aus den dunkelsten ecken der Archive ans Licht geholt.
Eine ganz andersartige, aber mindestens genauso interessante Collage verspricht Les plages d'Agnès (So. 11:00, Pinakothek der Moderne, Mi. 19:30 Filmmuseum). Nach Jacquot de Nantes über das Leben ihres Mannes Jacques Demi und vielen Filme über da Sammeln wie Les glaneurs et la glaneuse hat Agnès Varda Schnipsel und Erinnerungen aus ihrem Leben und ihren Filmen, von Orten und Menschen, die ihr viel bedeuten, zu einem ganz persönlichen Film über ihr eigenes Leben zusammengestellt,
Andere Filme beschäftigen sich mit der Gegenwart und öffnen doch den Blick in ganz andere Welten, beispielsweise das Leben nigerischer Zwiebelbauern (Pour le meilleur et pour l'oignon, Sa. 15:00 + Di. 17:00 Gasteig), indischer Leichenverbrenner-Kinder (Children of the Pyre, Fr. 20:00 Arri, Di. 17;00 Atelier), der Mara-Banden aus lateinamerikanischen Slums (La vida loca, Fr. 17:30 Arri, So. 16:30 Atelier) oder erzählen einem alles über Plastik und seine (nichtvorhandene) Entsorgung (Addicted to Plastic, Mo. 19:00 + Mi. 17:00 Atelier). Die beste Strategie bei der persönlichen Programmzusammenstellung ist hier wohl: Eine Film auswählen, über dessen Thema man bislang noch möglichst wenig gehört hat, sich überraschen lassen und den eigenen Horizont erweitern.
Für alle, die dabei zu tragische, zu problembeladene oder zu deprimierende Filme erwischen hier noch drei Tipps zu Filmen, die – nach der Inhaltsangabe im Katalog – Aufmunterung versprechen, auch wenn sie ernsthafte Themen behandeln:
Hans-Erich Viet, der in Milch und Honig aus Rotfront Deutschstämmige in Kirgisien oder Die
Ostfriesen beobachtet hat, geht nun in Deutschland nervt! (Sa. 17:00 Filmmuseum,. Mo. 17:00 Atelier) der Frage nach, wie die deutsche Seele im In- uns Ausland tickt. The Yes Men Fix the World (Fr. 22:00 + Di. 22:00 Arri) zeigt die Yes-Men bei der Arbeit, eine Gruppe von Aktivisten, die sich in Wirtschaftsforen
einschmuggeln und die dort herrschende Denkweise durch Übertreibung und satirische Vorschläge entlarven und ad absurdum führen. Schließlich beschäftigt sich Coco Schrijber in Bloody Mondays & Strawberry Pies (Mo.22:00 Filmmuseum, Mi. 19:30 Atelier) mit der Langeweile. Das wird bestimmt nicht langweilig.