66. Berlinale 2016
Fiktionen des Wirklichen |
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Sieht nur auf den ersten Blick wie ein Dokumentarfilm aus: Eldorado XXI |
Von Dunja Bialas
Als Grenzgänger kann man sie bezeichnen, Gratwanderer und Seiltänzer: Filme, die mit dem Vokabular von Dokumentarfilmen sprechen, sich aber mitsamt den Wirklichkeitsanteilen, die sie in der real dokumentierbaren Welt aufsammeln, über den Abgrund der Fiktion begeben. Ob dies leichtfertig oder mit Bravour geschieht: das hat viel zu tun mit dem Standpunkt des Betrachters. Denn das Spiel mit dem Wirklichen gerät unter dem Blick der Dokumentar-Verfechter zu einer Wirklichkeitsverfälschung, zu einer waghalsigen Abkehr von der Verpflichtung zu Methodik und Ethik des Dokumentaristen. Bewunderung erfährt der Balanceakt von allen Kino-Träumern: die das Zusammentreffen von Dokumentation und Fiktion begrüßen, weil es das Imaginäre, den diffusen Untergrund von Erzählungen, Mythen und Träumen, der das Wirkliche begleitet, hervortreten l ässt.
Apichatpong Weerasethakul hat für die Seelenwanderung des Wirklichen eine neue filmische Metapher geschaffen: Vapour. In seinem Kurzfilm, der auf der Woche der Kritik parallel zur Berlinale gezeigt wurde, schickt der thailändische Regisseur eine Wolke durch den Ort, an dem er wohnt: Wie Dampf und Nebel, aber auch unheilvoll wie Rauchschwaden eines bereits gelöschten Feuers, wandert sie durch die Häuser des Ortes, bahnt sich ihren Weg durch die Fenster und Türen. Der Ort ist real, das Bild wirkt dokumentarisch, der Vorfall ist es nicht. Unsicherheit gegenüber dem Dargestellten kommt auf und die vage Vermutung, es mit einer politischen Anspielung zu tun zu haben. Auf der Website heißt es: »Vapour takes place at Toongha village in Mae Ram district that has been Apichatpong’s home for the past eight years. The village is one of several areas in the country that are plagued with land management issues. For the past sixty years, it has been a battleground between the people and the state.« Auch ein Versuch, Werk und Wirklichkeit zu fassen.
Zwei Autoren des diesjährigen Forum-Programms schickten ähnlich wie Weerasethakul eine Wolke des Imaginären durch ihre dokumentarisch angelegten Werke: Der deutsche Regisseur Philip Scheffner und die Portugiesin Salomé Lamas. Beide zeigen die Wirklichkeit als Dipositiv, als Anordnung, in die sie eingreifen. Philip Scheffner, der hier bereits mit seinem inszenierten Film-im-Dokumentarfilm And-Ek Ghes vorgestellt wurde, hat in dem zweiten, ebenfalls im Forum präsentierten Film Havarie die Wirklichkeit gedehnt, bis sie sich in ihrer ganzen Deutlichkeit zu erkennen gibt: Havarie, das ist der Schiffbruch mit Zuschauer. Ein Video, das ein Urlauber bei einer Kreuzfahrt aufgenommen hat, ist die Bild-Spur des Films: ein bemanntes Boot treibt auf dem offenen Meer. Hier wurde aus erhöhter Perspektive gefilmt: vom Deck des Dampfers aus, aus der Sicherheit des festen Schiffs und aus der Comfortzone des Urlaubers. In Sichtweite das Boot, ein Schlauchboot mit sechs bis sieben Personen, erkennbar nur als Silhouetten, das Boot sichtlich steuerlos, treibend: eines der ersten Dokumente der Migration über das Mittelmeer, das Video wurde 2012 aufgenommen. Gefilmt hat der Ire Terry Diamond, der seinen Film auf Youtube stellte. »It wasn’t in the media at the time«, erläutert Diamond bei der Premiere, er fand es wichtig, dass die Welt erfährt, was sich auf dem Mittelmeer abspielt. Philip Scheffner zeigt die dreieinhalb-Minuten-Sequenz in Einzelbild-Abfolge und dehnt sie so auf die Länge von eineinhalb Stunden. Aus dem Off ertönt eine Collage von Stimmen: ein Kapitän eines Containerschiffs, Anrufe einer Frau, die von ihrer bevorstehenden Abreise erzählt, eine Liebesgeschichte, die sich auf der Tonspur vollzieht. Scheffner hat aus den Fragmenten des Aufbruchs und der Überfahrt, aus Stimmen und Situationen, die der Havarie des Bootes vorausgegangen sein oder sie begleitet haben könnten, eine Tonspur gesponnen; Grundlage ist der gleichnamige Kriminalroman seiner Co-Autorin Merle Kröger. So entsteigen, ähnlich wie in seinem Film The Halfmoon Files (2007), den Zwischenräumen der Einzelbilder die Geschichten der Menschen wie Gespenster- und Geistergeschichten.
Natürlich erfahren wir nichts über die realen Schicksale der im Meer Treibenden, auch blendet Scheffner sowohl den Ort als auch die weitere Entwicklung aus (wurden die Havaristen gerettet?). Alles wird, wie in der Dehnung der Aufnahme, zeitenthoben, der Wirklichkeit entrissen. Universalität macht sich breit und Anthropologie: die Geworfenheit des Menschen angesichts seiner Träume und Wünsche.
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Philip Scheffner, das darf nicht vergessen werden, hat für die Tonspur in weiten Teilen gleichfalls in der Art des Dokumentarfilmers gearbeitet. Er reiste nach Nordafrika, in die Orte des Aufbrechens und zu den Küstenwachen am Mittelmeer und filmte die interviewten Menschen. Später behielt er von den Aufnahmen nur die Tonspur behielt. Er hat, indem er das Anfangsbild für seinen Film, das im Meer treibende Boot, nicht durch andere Bilder bedrängte oder ergänzte, trotz aller Bearbeitung und künstlerischer Entfernung, die Essenz des Bildes und des Hergangs bewahrt.
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Auch Eldorado XXI sieht nur auf den ersten Blick wie ein Dokumentarfilm aus. Er ist ein filmisches Gemälde das direkt in die Vorhölle führt: in die Goldminen der peruanischen Anden. Die Portugiesin Salomé Lamas zeigt in dichten Tableaus die Arbeitswelt der Minenarbeiter, vor allem aber der Arbeiterinnen, die sich zu einer neuen Organisation formieren. »Se vende cubos«, steht auf einer der vielen Wellblech-Baracken, die sich silbergrau in das steile Felsmassiv ducken: Container zu verkaufen, als Unterkunft für die zahllosen Goldsucher, die auf eigene Faust arbeiten. Der Ort ist mehr als unwirtlich und, wie Lamas im Anschluss über die Dreharbeiten erzählt, kein Ort, an dem sich Menschen aufhalten sollten: zu hoch, zu kalt, zu entlegen, „on the edge of the world“. Sechs Wochen hat sie in den Anden gedreht, ist jeden Tag ins Tal zurückgefahren und hat sich dennoch an die Höhe gewöhnt, damit sie nicht, wenn sie filmt, als einzige mit Sauerstoffmaske arbeiten muss.
Den Ort und ihre Protagonisten hat sie gecastet: nach dem spektakulär Extremen, nach der Möglichkeit, in Andeutungen eine Geschichte erzählen zu können. Lamas Film ging eine Installation voraus, die als erste Sequenz enthalten ist: man sieht bei Dunkelheit die Arbeiterinnen und Arbeiter in Schutzkleidung den schieferbedeckten Hang hinauf und hinuntergehen, in einer nie abreißenden Auf- und Abwärtsbewegungen, nur denkbar in einer räumlichen Paradoxie wie bei Gödel, Escher, Bach: das Hinauf führt im selben Moment wieder hinunter. Die einstündige Anfangssequenz ist der Auftakt zur Schilderung einer Vorhölle in mythischer Dimension. Aus dem Off ertönt währenddessen eine Sendung des Frühstücksradios, die gut gelaunt über Aspekte des Goldes, der Rechte der Arbeiter, kommende Gesetzesänderungen durch die Regierung informiert.
Nach dem dichten Auftakt wird im weiteren Platz für die Protagonistinnen gemacht. Man sieht sie bei der Arbeit in den steilen Hängen, bei harschem Schneesturm oder tief im Schlamm stehend. Alles ist mehr als unwirtlich, ein permanentes Donnergrollen liegt über dem weitgefassten Plateau, auf dem sich die Häuser und das Laufen der vielen Minenarbeitern wie auf einem Gemälde von Breughel ausnehmen.
Natürlich lässt sich hier die Frage stellen, ob Lamas mit ihrem Film nicht einen Beitrag zum Exploitation-Kino macht, indem sie die Schicksale der Menschen für ihre eigenen Zwecke „missbraucht“. Dies wäre dann: Aus ihrem Schicksal ein überwältigendes und deprimierendes Kunstwerk geschaffen zu haben, das die Welt in mythische Dimensionen bringt. Wäre aber ein Dokumentarfilm, der auf die Überhöhung und auf die Gestaltung seiner Bilder zugunsten der Effekte des Realen verzichtet, der Wirklichkeit näher? Lamas schafft einen akustisch-visuellen Erlebnisraum, der direkt auf die Psyche unserer Wahrnehmung zielt. Der Schrecken des Großartigen ist bei ihr gleichermaßen erfahrbar.