16.02.2017
67. Berlinale 2017

Die Berlinale zeigt heute weniger deutsche Filme als in den 90er Jahren

Die Tochter
Die Perspektive »Neues deutsches Kino« auf der Berlinale: Ghetto fürs deutsche Kino?
(Foto: missingFilms Acrivulis & Severin GbR)

Die Regisseure werden immer älter, die Frauen nicht mehr und die Deutschen laufen im Ghetto – was tut Dieter Kosslicks Berlinale wirklich für den deutschen Film? Eine Münchner Studie liefert überraschende Ergebnisse – Berlinale-Tagebuch, Folge 06

Von Rüdiger Suchsland

Die Berlinale ist das mit Abstand größte deutsche Film­fes­tival und auch eines der inter­na­tional bedeu­tendsten Film­fes­ti­vals der Welt. Dort laufen in über einem Dutzend Sektionen und Unter­sek­tionen Filme aus aller Welt, nicht zuletzt auch immer mehr Filme von Regis­seu­rinnen und immer mehr Filme aus Deutsch­land. Denn die Berlinale behauptet von sich, dass sie Frauen fördert und viel für das hiesige Kino tut, ein Schau­fenster für den deutschen Film ist.

»Wir haben 74 deutsche Filme in allen Programmen der Berlinale, das ist ja auch wichtig und drei im Wett­be­werb und mehrere deutsche Filme noch im ›Berlinale-Spezial‹.« Also sprach Berlinale Direktor Dieter Kosslick erst vor einer Woche, als er das dies­jäh­rige Programm vorstellte. Stimmt doch auch. Oder etwa nicht?

Es stimmt zumindest nicht ganz, muss man zugeben. Drei Wissen­schaftler der LMU, der Münchner Univer­sität und der Münchner Film­hoch­schule – Tanja C. Krain­höfer, Konrad Schreiber und Dr. Thomas Wiedemann – haben jetzt etwas genauer hinge­schaut, was wirklich an den voll­mun­digen Behaup­tungen und dem Selbstlob der Berlinale dran ist.

Das Ergebnis ist ernüch­ternd.

Die Wissen­schaftler haben 37 Jahre Berlinale-Programm gründlich unter die Lupe genommen und nach Herkunft, Alter und Geschlecht der Filme­ma­cher aufge­schlüs­selt. Weil im Gegensatz zu Cannes oder Venedig in Berlin die Leiter leicht die Amts­zeiten sowje­ti­scher Partei­funk­ti­onäre über­schreiten, werden damit genau­ge­nommen nur zwei Inten­danten mitein­ander vergli­chen: Der Schweizer Moritz de Hadeln, der 1980 die Leitung der Berlinale übernahm, und sein Nach­folger nach 21 Jahren, Dieter Kosslick, der, wenn er im Jahr 2019 aufhört, auch 19 Jahre im Amt sein wird.

Was etwas trocken als »Unter­su­chung der Programm­di­ver­sität« – also der Programm­viel­falt – »der Inter­na­tio­nalen Film­fest­spiele Berlin« bezeichnet wird, ist viel mehr nur eine enorme Fleiß­ar­beit – hinter allerlei Zahlen­ta­bellen und Diagrammen enthält der Text auch einigen kultur­po­li­ti­schen Spreng­stoff.

Das wich­tigste Ergebnis: Der Anstieg des deutschen Produk­ti­ons­auf­kom­mens spiegelt sich nicht in einer Erhöhung der program­mierten deutschen Produk­tionen wider. Gemessen am Gesamt­pro­gramm, das in den letzten Jahr­zehnten mehr als verdrei­facht wurde, hat der Anteil der deutschen Filme sogar abge­nommen.

Die immer gern wieder­holte Selbst-Preisung des Direktors, er Dieter Kosslick habe auf seiner Berlinale so viel für die Präsenz des deutschen Films getan, ist auch in anderer Hinsicht einfach unwahr.

Denn abgesehen vom Wett­be­werb nimmt der Anteil der deutschen Filme in den wichtigen Sektionen »Panorama« und »Forum« sogar deutlich ab. Die relativ neue Sektion »Perspek­tive deutsches Kino« erweist sich als ein Ghetto für das deutsche Kino – in der Studie ist von einer »frag­wür­digen« »Abspal­tung« vom jungen inter­na­tio­nalen Programm die Rede.

Und noch mit einem weiteren Ergebnis übt die Studie deutliche Kritik: »Große Versäum­nisse sind ... erkennbar, wenn es darum geht, die Vielfalt der deutschen Gesell­schaft im Programm wider­zu­spie­geln. Dies gilt einer­seits hinsicht­lich der Reprä­sen­tanz von Filme­ma­chern mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, ande­rer­seits aber auch im Hinblick auf den Anspruch auf Teilhabe von einzelnen Gruppen der deutschen Zuwan­de­rungs­ge­sell­schaft.«

Der multi­kul­tu­relle Alltag in Deutsch­land wird auf der Berlinale nicht sichtbar.

Auch in anderer Hinsicht genügt die Berlinale nicht ihren eigenen Ansprüchen bei genauerem Hinsehen nicht, jeden­falls nicht in Bezug auf das deutsche Kino: Die Gleich­stel­lung von Frauen.

O-Ton Dieter Kosslick auf der Pres­se­kon­fe­renz: »Das is' ja heute wichtig: 124 Frauen sind im Programm der Berlinale vertreten, ja muss man sagen, die sind entweder mit Kamera, Produk­tion oder Regie vertreten. Wir sind auf gutem Wege«

Die Neben­be­mer­kung in Dieter Kosslicks Statement ist schon ein guter Hinweis. »Kamera und Produk­tion« – bei Männern würde der Berli­nal­e­di­rektor das gar nicht erwähnen. Immerhin hat er Schau­spie­le­rinnen nicht auch noch mitge­zählt.

Was aber hinter den gut klin­genden 124 Frauen bei 370 Filmen nicht dazu gesagt wird: Die wenigsten sind Regis­seu­rinnen. Und wenn doch, dann kommen sie nicht aus Deutsch­land.

Aus der Münchner Studie wird Wider­sprüch­li­ches deutlich. Einer­seits steigt der Anteil der Regis­seu­rinnen konti­nu­ier­lich. Aber nur inter­na­tional. Deutsche Regis­seu­rinnen gibt es heute auf der Berlinale kaum häufiger, als vor 37 Jahren.

Und auch der allge­meine Anstieg ist vor allem ein statis­ti­scher Mittel­wert. Denn über die Jahre gibt es erheb­liche Schwan­kungen. Nur ein einziges Mal lag der Anteil von Regis­seu­rinnen im Programm höher als im aller­ersten Jahr 1980: 1999. Unter Dieter Kosslick lag er niemals so hoch wie unter seinem Vorgänger.

Mit solchen Fakten schütten die Münchner Wissen­schaftler etwas Wasser in den Wein des Festival-Marke­tings. Den Kater nach dem Berlinale-Rausch in ein paar Tagen wird das hoffent­lich mildern.