68. Berlinale 2018
Aktion Sex |
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Didaktisches Themenkino: Touch Me Not von Adina Pintilie | ||
(Foto: Alamode / Berlinale) |
Von Dunja Bialas
Touch Me Not, der Gewinnerfilm der diesjährigen Berlinale, ist vieles nicht. Er ist kein rumänischer Film, auch wenn seine Regisseurin Adina Pintilie aus Rumänien stammt. Der Film ist vielmehr ein klassischer Fall von »Europudding«: mehrere europäische Länder, Rumänien, Deutschland, Tschechien, Bulgarien und Frankreich, kofinanzierten das Projekt. Gedreht wurde in Berlin, Filmsprache ist ein neutrales Englisch. Allein die Regisseurin, die in ihrem eigenen Film eine Rolle innehat, spricht mit osteuropäischem Akzent. Touch Me Not ist kein Dokumentarfilm und auch kein Experimentalfilm, zumindest nicht, was seine filmische Gestaltung betrifft. Ihm zugrunde liegt aber eine von der Regisseurin initiierte Versuchsanordnung, das Experiment einer Gruppentherapie zwischen Behinderten und Nichtbehinderten, auf dessen Basis das Skript für den Film entstand. Die Hauptrollen werden von Schauspielern gespielt, die als Trigger für die Thesen des Experiments fungieren. Laura Benson, eine in Frankreich lebende Britin (unter anderem bei Stephen Frears Dangerous Liaisons und Alain Resnais' I Want to Go Home), spielt die verklemmte Laura, die sich Callboys und eine Transgender-Sexarbeiterin ins Haus holt, um ihre Sexualität zu befreien; der Isländer Tómas Lemarquis (Blade Runner 2049, X-Men: Apocalypse und Snowpiercer) geht auf Hautkontakt mit einem Behinderten.
Laura Benson gibt ihrer Figur ihren Klarnamen, Laura. Eine bewährte Strategie, um die Illusion des Dokumentarischen hervorzubringen und den Zuschauer auf das narrative Möbiusband zu locken, auf dem beides gleichermaßen existiert: das Gespielte und das Wahre. Den Rest des Casts bilden Laiendarsteller. Christian Bayerlein, Informatiker und ehemaliger Behindertenbeauftragter der Stadt Koblenz, spielt den Main-Act der Therapiegruppe. Beyerlein ist außerdem bekennender Sex-Aktivist; in seinem Blog »kissability« geht es ihm um das Thema »Sex und Behinderung«. Tómas stellt sich dem Kontakt mit Bayerlein, berührt seinen von spinaler Muskelatrophie gezeichneten Körper und streichelt sein speichelnasses Gesicht, aus dem verfault die Schneidezähne herausragen.
Weitere zentrale Figur des Films ist die* Transgender-Sexarbeiterin* Hanna Hoffmann, die* auch im wirklichen Leben Workshop-erfahren ist. Sie* darf Katalysator sein für die verkümmerte Sexualität von Laura, die sich nicht berühren lassen kann und sich deshalb aufs Zusehen verlegt.
In Pintilies Film geht es, klar, um den Tabubruch, um die Herausforderung des Zuschauers durch unbehagliche Szenen. Die Abstoßung (Beyerlein), aber auch die Neugier (Hoffmann) sind die dramaturgischen Antriebskräfte des Films und werden immer wieder explizit gemacht. Beyerlein benennt den Ekel, den Tómas beim Berühren seines feuchten Gesichts empfindet und fängt das negative Gefühl als ein natürliches wieder ein; Hanna zeigt uns, wie sie* ihren Schwanz zwischen den Beinen versteckt und spricht offen über ihre* operierten Brüste.
Dies alles kann nur funktionieren, weil der Zuschauer selbst zum Bestandteil des Films wird. Auch wir, die Zusehenden, müssen uns auseinandersetzen mit dem Peinlichen, Abstoßenden und überaus Intimen, wir wollen nicht zuschauen, damit aber gäben wir unsere Position als Zuschauer auf – weshalb auch viele während der Vorführung den Saal verließen; sie gaben dem natürlichen Fluchtreflex nach. Wer dies nicht tat, hatte den Eindruck, vom Film als »Geisel« (»Tagesspiegel«) oder »Voyeur« (»FAZ«) gefangen genommen zu sein.
Andererseits: Wären wir abgeklärt und von Hause aus tolerant, würde der Film in sich zusammenfallen. Der Film ist eine spekulative Therapiesitzung, die nicht den Protagonisten gilt, wie uns der Film zunächst glauben macht. Zielpunkt ist einzig und allein der Zuschauer, und das macht den Film so zweifelhaft.
Denn übrig bleibt didaktisches Kino. Die Inszenierung, die Ausleuchtung, die Farbdramaturgie, auch das neutrale Englisch sind Teil einer aufklärerischen Strategie, mit der sich die Regisseurin als Kontrollfreak ausweist. Die Räume sind in aseptisches Weiß getaucht, die Kostüme in Graublau und abweisenden Schnitten gehalten. Alles ist auf Kälte gebürstet, alles mit dem Ausrufezeichen für mehr Kontakt versehen. Vor allem die Therapieszenen zwischen Behinderten und Nichtbehinderten sind hochgradig manipulativ und eindeutig, und erinnern in Inhalt und Inszenierung über weite Strecken an den Imagefilm von »Aktion Mensch«, mit dem die Organisation letztes Jahr im Kino für Kontaktaufnahme mit Behinderten warb. Niemals lässt der Film Uneindeutigkeiten zu; kaum ergibt sich ein widerstrebendes Gefühl, wird es auch schon »umarmt«: Dass es völlig normal sei, wird uns erklärt, wenn wir uns jetzt unbehaglich fühlen.
Adina Pinitilie erteilt damit der größten Stärke des Kinos eine Absage: uns ins Zwischenreich unserer Ängste, Träume und Alpträume zu entführen, uns mit uns selbst und unserem Unbewussten allein zu lassen und widersprüchliche Gefühle im Durchgang der Erzählungen selbst zu verhandeln, in einem kathartischen Erleben. Tod Browning konfrontierte uns 1932 in Freaks mit dem Unperfekten, Unvollständigen, Abstoßenden des menschlichen Körpers und schickte uns in das horrorifizierende Zwischenreich unserer Urängste. Touch Me Not hingegen dementiert die negativen Gefühle, kaum, dass sie entstehen, weist sie als unbedingt therapiefähig aus und lässt sie unter dem Diktat politischer Korrektheit kinematographisch veröden.
Tom Tykwer, der dieses Jahr den Berlinale-Juryvorsitz innehatte und, nebenbei bemerkt, die vier Wettbewerbsfilme seiner deutschen Kollegen ignorierte, sprach im Rahmen der Auszeichnung auch von der Zukunft des Kinos: »Wir haben herausgefunden, dass wir nicht nur das würdigen wollen, was Kino kann, sondern auch das, wo es noch hingehen kann.« Der diesjährige Goldene Bär ist jedoch eine Auszeichnung für ein Kino, in dem nicht sein kann, was sich nicht inhaltistisch als Thema identifizieren ließe, und das die Magie des Kinos verabschiedet hat.