26.02.2018
68. Berlinale 2018

Aktion Sex

Touch me not
Didaktisches Themenkino: Touch Me Not von Adina Pintilie
(Foto: Alamode / Berlinale)

Der Goldene Bär der Berlinale 2018 geht an eine therapeutische Versuchsanordnung und erteilt dem Erzählkino eine Absage

Von Dunja Bialas

Touch Me Not, der Gewin­ner­film der dies­jäh­rigen Berlinale, ist vieles nicht. Er ist kein rumä­ni­scher Film, auch wenn seine Regis­seurin Adina Pintilie aus Rumänien stammt. Der Film ist vielmehr ein klas­si­scher Fall von »Euro­pud­ding«: mehrere europäi­sche Länder, Rumänien, Deutsch­land, Tsche­chien, Bulgarien und Frank­reich, kofi­nan­zierten das Projekt. Gedreht wurde in Berlin, Film­sprache ist ein neutrales Englisch. Allein die Regis­seurin, die in ihrem eigenen Film eine Rolle innehat, spricht mit osteu­ropäi­schem Akzent. Touch Me Not ist kein Doku­men­tar­film und auch kein Expe­ri­men­tal­film, zumindest nicht, was seine filmische Gestal­tung betrifft. Ihm zugrunde liegt aber eine von der Regis­seurin initi­ierte Versuchs­an­ord­nung, das Expe­ri­ment einer Grup­pen­the­rapie zwischen Behin­derten und Nicht­be­hin­derten, auf dessen Basis das Skript für den Film entstand. Die Haupt­rollen werden von Schau­spie­lern gespielt, die als Trigger für die Thesen des Expe­ri­ments fungieren. Laura Benson, eine in Frank­reich lebende Britin (unter anderem bei Stephen Frears Dangerous Liaisons und Alain Resnais' I Want to Go Home), spielt die verklemmte Laura, die sich Callboys und eine Trans­gender-Sexar­bei­terin ins Haus holt, um ihre Sexua­lität zu befreien; der Isländer Tómas Lemarquis (Blade Runner 2049, X-Men: Apoca­lypse und Snow­piercer) geht auf Haut­kon­takt mit einem Behin­derten.

Laura Benson gibt ihrer Figur ihren Klarnamen, Laura. Eine bewährte Strategie, um die Illusion des Doku­men­ta­ri­schen hervor­zu­bringen und den Zuschauer auf das narrative Möbi­us­band zu locken, auf dem beides glei­cher­maßen existiert: das Gespielte und das Wahre. Den Rest des Casts bilden Laien­dar­steller. Christian Bayerlein, Infor­ma­tiker und ehema­liger Behin­der­ten­be­auf­tragter der Stadt Koblenz, spielt den Main-Act der Thera­pie­gruppe. Beyerlein ist außerdem beken­nender Sex-Aktivist; in seinem Blog »kissa­bi­lity« geht es ihm um das Thema »Sex und Behin­de­rung«. Tómas stellt sich dem Kontakt mit Bayerlein, berührt seinen von spinaler Muskel­atro­phie gezeich­neten Körper und strei­chelt sein spei­chel­nasses Gesicht, aus dem verfault die Schnei­de­zähne heraus­ragen.

Weitere zentrale Figur des Films ist die* Trans­gender-Sexar­bei­terin* Hanna Hoffmann, die* auch im wirk­li­chen Leben Workshop-erfahren ist. Sie* darf Kata­ly­sator sein für die verküm­merte Sexua­lität von Laura, die sich nicht berühren lassen kann und sich deshalb aufs Zusehen verlegt.

In Pintilies Film geht es, klar, um den Tabubruch, um die Heraus­for­de­rung des Zuschauers durch unbe­hag­liche Szenen. Die Abstoßung (Beyerlein), aber auch die Neugier (Hoffmann) sind die drama­tur­gi­schen Antriebs­kräfte des Films und werden immer wieder explizit gemacht. Beyerlein benennt den Ekel, den Tómas beim Berühren seines feuchten Gesichts empfindet und fängt das negative Gefühl als ein natür­li­ches wieder ein; Hanna zeigt uns, wie sie* ihren Schwanz zwischen den Beinen versteckt und spricht offen über ihre* operierten Brüste.

Dies alles kann nur funk­tio­nieren, weil der Zuschauer selbst zum Bestand­teil des Films wird. Auch wir, die Zuse­henden, müssen uns ausein­an­der­setzen mit dem Pein­li­chen, Abstoßenden und überaus Intimen, wir wollen nicht zuschauen, damit aber gäben wir unsere Position als Zuschauer auf – weshalb auch viele während der Vorfüh­rung den Saal verließen; sie gaben dem natür­li­chen Flucht­re­flex nach. Wer dies nicht tat, hatte den Eindruck, vom Film als »Geisel« (»Tages­spiegel«) oder »Voyeur« (»FAZ«) gefangen genommen zu sein.

Ande­rer­seits: Wären wir abgeklärt und von Hause aus tolerant, würde der Film in sich zusam­men­fallen. Der Film ist eine speku­la­tive Thera­pie­sit­zung, die nicht den Prot­ago­nisten gilt, wie uns der Film zunächst glauben macht. Zielpunkt ist einzig und allein der Zuschauer, und das macht den Film so zwei­fel­haft.

Denn übrig bleibt didak­ti­sches Kino. Die Insze­nie­rung, die Ausleuch­tung, die Farb­dra­ma­turgie, auch das neutrale Englisch sind Teil einer aufklä­re­ri­schen Strategie, mit der sich die Regis­seurin als Kontroll­freak ausweist. Die Räume sind in asep­ti­sches Weiß getaucht, die Kostüme in Graublau und abwei­senden Schnitten gehalten. Alles ist auf Kälte gebürstet, alles mit dem Ausru­fe­zei­chen für mehr Kontakt versehen. Vor allem die Thera­pie­szenen zwischen Behin­derten und Nicht­be­hin­derten sind hoch­gradig mani­pu­lativ und eindeutig, und erinnern in Inhalt und Insze­nie­rung über weite Strecken an den Imagefilm von »Aktion Mensch«, mit dem die Orga­ni­sa­tion letztes Jahr im Kino für Kontakt­auf­nahme mit Behin­derten warb. Niemals lässt der Film Unein­deu­tig­keiten zu; kaum ergibt sich ein wider­stre­bendes Gefühl, wird es auch schon »umarmt«: Dass es völlig normal sei, wird uns erklärt, wenn wir uns jetzt unbe­hag­lich fühlen.

Adina Pinitilie erteilt damit der größten Stärke des Kinos eine Absage: uns ins Zwischen­reich unserer Ängste, Träume und Alpträume zu entführen, uns mit uns selbst und unserem Unbe­wussten allein zu lassen und wider­sprüch­liche Gefühle im Durchgang der Erzäh­lungen selbst zu verhan­deln, in einem kathar­ti­schen Erleben. Tod Browning konfron­tierte uns 1932 in Freaks mit dem Unper­fekten, Unvolls­tän­digen, Abstoßenden des mensch­li­chen Körpers und schickte uns in das horro­ri­fi­zie­rende Zwischen­reich unserer Urängste. Touch Me Not hingegen demen­tiert die negativen Gefühle, kaum, dass sie entstehen, weist sie als unbedingt thera­pie­fähig aus und lässt sie unter dem Diktat poli­ti­scher Korrekt­heit kine­ma­to­gra­phisch veröden.

Tom Tykwer, der dieses Jahr den Berlinale-Jury­vor­sitz innehatte und, nebenbei bemerkt, die vier Wett­be­werbs­filme seiner deutschen Kollegen igno­rierte, sprach im Rahmen der Auszeich­nung auch von der Zukunft des Kinos: »Wir haben heraus­ge­funden, dass wir nicht nur das würdigen wollen, was Kino kann, sondern auch das, wo es noch hingehen kann.« Der dies­jäh­rige Goldene Bär ist jedoch eine Auszeich­nung für ein Kino, in dem nicht sein kann, was sich nicht inhal­tis­tisch als Thema iden­ti­fi­zieren ließe, und das die Magie des Kinos verab­schiedet hat.