01.03.2018
68. Berlinale 2018

Die Berlinale-Workout Playlist 2018, Vol. I

Damsel
Damsel: ein Film der diversen Ansätze, die quer zueinander stehen
(Foto: David Zellner / Berlinale)

Edelmann & Willmann haben ein paar lästige Ohrwürmer

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Dem typischen Berlinale-Film des Jahrgangs 2018 war Musik eher suspekt. Sinn­lich­keit und Emotionen, die nicht erst den Umweg über den Verstand nehmen, die zu direkt begreifbar und ergrei­fend sind – das passt nicht in die preus­sisch-protes­tan­ti­sche Erbau­lich­keits-Ästhetik. Selbst wenn vorgeb­liche »Rockopern« im Programm sind, dann stellen sie sich als reine A Capella-Polit­schau­er­mären heraus, in denen in vier Stunden den Prot­ago­nisten nur immer wieder und wieder die fünf gleichen, simplen Lieder über die Lippen kommen. (Freilich haben wir die Ed Sheeran Doku Song­writer nicht gesehen – und haben damit womöglich das eine groß­mu­si­ka­li­sche Glücks­er­lebnis verpasst…)
Drum hätten wir ein paar Vorschläge, mit welchen Tracks auf den Kopf­hö­rern sich das cine­as­ti­sche Ausdau­er­trai­ning schwung­voller abar­beiten ließe.

»Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen«

Was sich aus der Perspek­tive des einen wie ein große Liebe anfühlen mag, kann sich aus der Sicht der anderen zu einem Horror­film entwi­ckeln.
Der Begriff »Gaslighting« greift mit gutem Grund zurück auf den klas­si­schen Psycho­thriller Gaslight – und Steven Soder­berghs Unsane zeigt, wie verblüf­fend unver­än­dert die Genre-Muster von Irren­an­stalts-Drama, Paranoia-Thriller à la Seconds, getaucht in die Ästhetik des ‘90er Jahre Direct-to-Video Horror­films über­nommen und genutzt werden können, um ein ins Albtraum­hafte verzerrtes Bild zu geben von jenen weib­li­chen Alltags­er­fah­rungen, die derzeit wieder etwas hörbarer im Gespräch sind.

Die von einem Stalker trau­ma­ti­sierte Geschäfts­frau Sawyer (Claire Foy) will sich in Therapie begeben – gerät dabei aber in das Mahlwerk der korrupten US-Gesund­heits­in­dus­trie und findet sich als unfrei­wil­lige Insassin eines psych­ia­tri­schen Instituts wieder. Wo sie erneut ihrem Stalker ausge­lie­fert ist.
Anfangs macht der Film einen dabei zu Komplizen eines Systems, das bis zum Gegen­be­weis lieber den Opfern misstraut, sie als hyste­risch abstem­pelt, und von ihnen verlangt, sich doch bitte einfach mal zusam­men­zu­reißen. Bis man dann wirklich in Sawyers Sicht reinkommt und nach­fühlen kann, wie monströs die Nach­stel­lungen sind jenes Mannes, der sie uner­bitt­lich zum Objekt seiner soge­nannten »Liebe« auser­koren hat.

Wie gut und clever es Soder­bergh gelingt, diesen für manche Leute schon wieder totdis­ku­tierten Erfah­rungen in Genre-Hülle seinen Schrecken zurück­zu­geben, konnte man daran erkennen, dass Unsane fast der einzige Wett­be­werbs-Film war, der dem in depri­mierte Duldungs­starre verfal­lenen Fach­pu­blikum hörbare emotio­nale Reak­tionen zu entlocken vermochte. So schön hat man in einer Pres­se­vor­füh­rung lange keinen kollek­tiven #Aufschrei erlebt.

Etwas ganz Änliches versucht Damsel mit dem Western. Auch er verwendet die Genre-Konven­tionen, um von diesen Themen zu erzählen, und dabei anfangs auf die falsche Fährte zu führen. Man kommt gar nicht auf die Idee zu hinter­fragen, dass Samuel der roman­ti­sche Held ist, ausge­zogen seine Holde aus den Fängen des Schurken zu befreien. Pfarrer und Verlo­bungs­ring hat er schon dabei, sie warten nur auf ihren Einsatz zum unwei­ger­li­chen Happy End. Freilich wirkt er wie ein rechter Tölpel – aber der unwuchtig ausba­lan­cierte Film schlägt anfangs generell einen sehr gewollt bizarren Ton an, wie eine schlechte Coen Bros. Imitation. Und Robert Pattinson als ideale Besetzung bringt ein Image mit, das er hier lediglich bewusst zu parodieren scheint.

Doch Damsel geht weiter: Er entblößt, wie creepy Edward & Co. sein können, wenn man sie nicht durch die verblen­dende Tennie­schwarm-Brille sieht.
Denn Samuels Ange­be­tete (Mia Wasi­kowska) verspürt keinerlei Bedürfnis nach Rettung – im Gegenteil: Sie ist glücklich verhei­ratet mit Anton, dem Mann, den sie liebt. Und Samuel ist, wie der Stalker aus Unsane, so sehr in seine Wahnidee einer großen Liebe verrannt, dass er Penelopes Idylle zerstört, Anton ermordet.
Nach dieser Wendung, dieser bewussten Demontage der Plot-Auto­ma­tismen, steht Damsel aber vor der Frage: Wie geht es weiter? Und so sehr er Penelope auch die Frus­tra­tion der Frauen ausspre­chen lässt, so sehr bleibt das Papier­dialog. Fata­ler­weise gelingt ihm das offen­sicht­lich Notwen­dige nicht: Wahrhaft in Penelopes Perspek­tive zu wechseln.

Der Fokus der verblei­benden seiner schier endlosen zwei Stunden liegt bei dem Pfarrer und dessen Ziel­lo­sig­keit, Einsam­keit. Das verfolgt zwar jenen Strang des Films, der den Mythos vom Wilden Westen dekon­stru­ieren möchte als Raum, in dem man sich neu finden und erfinden kann. Aber Damsel bleibt ein Film der diversen Ansätze, die quer zuein­ander stehen, sich gegen­seitig ins Gehege kommen.

Als Vorbilder nennen die Zellner Bros. die impres­sio­nis­ti­schen Post-Western der ‘60er, ‘70er – doch deren Lang­sam­keit geht nicht zusammen mit dem permanent ironi­schen Modus von DAMSEL. Der Film entbehrt jedes Gespürs für Rhythmus genauso wie für Timing. Schade drum: Vom Konzept her wäre es einer der span­nendsten Werke im Wett­be­werb gewesen – von der Ausfüh­rung her war es einer der unge­lenksten.

»Deine Spuren im Sand«

Es ist Weih­nachten, in Rumänien gegen Ende der Ostblock­zeit – und der Prot­ago­nist von Fotbal infinit ist allein auf weiter Flur. Bei der schweren Arbeit in der Fabrik hat er sich, von den Kollegen unbemerkt, das von einer jugend­li­chen Fuss­ball­ver­let­zung ange­knackste Bein gebrochen. Der letzte Bus ist weg. Und Laurentiu Ginghina bleibt nichts übrig, als die 6 Kilometer Heimweg humpelnd zu Fuß anzu­treten.

Ausge­rechnet diese Einschrän­kung seiner tatsäch­li­chen Bewe­gungs­frei­heit wird für ihn zum Auslöser eines obses­siven Bemühens, auf theo­re­ti­scher, auf Ebene des Regel­werks seinen Lieb­lings­sport zu revo­lu­tio­nieren: Er will dem Ball zu mehr Tempo und Freiheit verhelfen – para­do­xer­weise, indem er durch immer weitere Unter­tei­lungen des Felds dem Spielraum der Fußballer Grenzen zieht.

Corneliu Porum­boius Film scheint zunächst lediglich eine launige Doku über diese exzen­tri­schen, kauzigen Regelän­de­rungen zu sein. Doch bald begreift man, wieviel Biogra­phie und Psycho­logie Ginghinas Streben antreibt.

Fotbal infinit bleibt filmisch unauf­wändig. Doch er weitet sich zum Portrait einer Resi­gna­tion – die Ginghina zum Teil von außen aufge­drängt wird, zum Teil aus ihm selber stammt. Sein Versuch, in die USA auszu­wan­dern, schei­terte noch an der Verschär­fung der Einrei­se­be­din­gungen nach 9/11. Nach der Aufnahme Rumäniens in die EU scheint er aber schon den Wagemut verloren und für sich als Ausrede vorschnell beschlossen zu haben, dass das Expe­ri­ment Europa geschei­tert ist.

So sitzt er noch immer in seinem lokalen Büro­kra­tenjob fest. Was nicht weniger tragisch wird dadurch, dass er selbst durchaus begreift, wie sehr seine Träume vom Fußball-Revo­luzzer eine Ersatz-Hoffnung sind.

Am Ende ist Fotbal infinit ein melan­cho­li­scher, durchaus berüh­render Film über die Frage, was von einem Leben bleiben, welche Spuren man in der Welt hinter­lassen wird.

Spuren sind auch in L’empire de la perfec­tion von großer Bedeutung: Wieder und wieder disku­tiert John McEnroe minu­ten­lang über die Abdrücke von Bällen auf dem Sandplatz. Es macht ihn schier wahn­sinnig, dass in seiner Wahr­neh­mung die Schieds­richter seine Obses­si­vität nicht teilen – dass nur er 100% gibt. Die 100% sind sein großes Ziel: Als erster Spieler überhaupt will er die perfekte Gewinn­quote über eine Saison erreichen.
L’empire de la perfec­tion zeigt McEnroe bei den French Open 1984, wo er diesem Ziel zum Greifen nah war – und im letzten Moment schei­terte. Es wird ihm ewig nach­hängen – nachher verzwei­felt er, wie anders sein Leben gewesen wäre, hätte er nur gewonnen. (Man fragt sich freilich: Wie?) Dabei scheint er im Film nur glücklich im Unglück – wenn er einen Drachen hat, gegen den er kämpfen kann, wenn er hadert mit der Welt und sich, wenn er sich auf einsamem Posten gegen alle sieht.

Tom Hulce, verrät L’empire de la perfec­tion, hat bei seiner Vorbe­rei­tung auf die Rolle als Mozart in Amadeus das manische Genie McEnroe studiert – und wenn man das einmal weiß, kann man es nicht mehr ungesehen machen.
Julien Farauts Film ist keine gewöhn­liche Sportdoku. Sie handelt zunächst von einem anderen Beses­senen: Gil de Kermadec – den er als einen verschol­lenen Meister der Film­ge­schichte etablieren möchte. De Kermadec – dessen Werk in hunderten Filmdosen im natio­nalen Sport­ar­chiv schlum­mert – drehte anfangs höchst charmante, eher abstrakte Tennis-Lehrfilme. Begann dann aber, deren Grenzen zu erkennen und reale Matches zu doku­men­tieren und analy­sieren.

Alles Material der French Open 1984 in L’empire de la perfec­tion stammt von ihm – der damals vehement den Vorschlag der Orga­ni­sa­toren zurück­wies, er könne für seine Studien doch einfach auf die Fern­seh­bilder zurück­greifen. Er mache hier schließ­lich einen Film! Und so sieht man auch immer wieder parallel zur Punk­te­zäh­lung des Matches die Zählung der Takes auf der impro­vi­sierten Klappe – sehr zum Miss­fallen von McEnroe, hinter dessen Stuhl direkt der Tonmann sitzt, all seine Pausen­flüche mit einfan­gend.

»Kino lügt, Sport nicht«, zitiert L’empire de la perfec­tion Godard. Und immer wieder geht es um die Paral­lelen und Span­nungen zwischen den beiden Gattungen. Wenn man de Kermadec in seiner Beses­sen­heit, Waghal­sig­keit, dem Hang zugleich zu Doku­men­ta­tion und Drama als eine Art Werner Herzog des Tennis­lehr­films sehen mag, dann hat er in John McEnroe seinen Kinski gefunden.

»Don’t Pay the Ferryman«

Einer der anstren­gendsten Aspekte der Berlinale-Film­aus­wahl 2018 war ein Hang zu hoher Redundanz bei erstaun­lich geringer Komple­xität.
Drvo (The Tree) von André Gil Mata wäre da eigent­lich noch auf der einneh­men­deren Seite gewesen. Freilich geschieht nicht viel, und das sehr langsam: Ein Kind steht am Fenster. Ein alter Mann geht nachts aus dem Haus, im schnee­ver­eisten Ort leere Wasser­behält­nisse zu sammeln und an einem Joch zu seinem Kahn zu schleppen. Er rudert zu einer entle­genen Quelle. Und begegnet dem Kind. In der Ferne ahnt man ständig einen Krieg. Das ist im Prinzip alles, in 104 Minuten.

Aber – anders als viele der anderen, künstlich zerdehnten Filme – hat Drvo ein Gespür für Zeit; schafft es, einen in den Bann seines Rhythmus zu lullen; akzep­tieren zu lassen, dass die Zeit langsam vergeht, und dabei dennoch das Gefühl einer Vorwärts­be­we­gung zu haben. Man fühlt sich seltsam aufge­hoben in dem schweren Schwarz seiner stimmigen, starken Bilder, der gemäl­de­haften Irrea­lität.

Und solange der Film den Mund hält, nutzt man die Zeit, die er einem gibt, auch durchaus, diese Bilder zu deuten. Kommen einem schon die richtigen Asso­zia­tionen – Quelle des Lebens, Sisyphos, der Fluss Styx. Ist man noch faszi­niert von dem Spiel mit möglichen Zeit­ebenen.

Doch ach, hättest Du geschwiegen, Drvo! Am Ende nötigt er seinem Wasser­träger einen Monolog auf, der für alles, was schon da war, auch noch Worte finden möchte – und es dabei mit platter Poetik samt und sonders nieder­tram­pelt. Binnen Sekunden wechselt man vom hypno­ti­sierten zum augen­rol­lenden Zuschauen.
Wenn Drvo dann noch von der »Wärme, die nur die Trau­rig­keit bieten kann« wabert, ist man leider beim schlimmsten Klischee von dem, was passiert, wenn ein Portu­giese bei Béla Tarr in die Schule geht.

Wenn Ludwig Wüsts Aufbruch in den Ruderkahn steigt, dann treibt man leider auch schon tief in der gewollten Styx-Meta­phorik. Und hat den trockenen öster­rei­chi­schen Humor, das schön Handfeste des Anfangs längst hinter sich gelassen, wo man noch mit dem Meister Kabi­nen­moped durch die Land­schaft knatterte.
Aufbruch ist eine Art Roadmovie im 5km-Umkreis. Ein Mann im blauen Hand­werker-Overall klaubt eine am Straßen­rand schla­fende, ältere Frau auf. Fährt sie zu ihrem Eltern­haus, das abge­rissen werden soll. Die beiden klauben Kartof­feln von einem abge­ern­teten Feld. Rudern zu einem Indus­trie­hafen. Essen die Kartof­feln, trinken Milch. Der Mann bieselt – die Frau stirbt.
Das alles funk­tio­niert, solange es im sehr Konkreten verankert und das Symbo­li­sche nur wie ein Firnis auf dem Alltäg­li­chen ist. In der schönsten Szene des Films tischlert Wüst (der auch Haupt­dar­steller ist) ein Kreuz. Man beob­achtet ihn minu­ten­lang, wie er mit geübten Hand­griffen das Holz zurech­trichtet und zusam­men­fügt. Und das ist auf wunder­bare Weise zuerst Handwerk, und dann Kunst. »Jetzt hab ich ein schönes Kreuz gemacht. Ist halt so«, kommen­tiert er danach.

Diese Nähe zum Mensch­li­chen, diese unter­schwellig Lässig­keit ist leider, leider perdu, wenn am Ende das mühsam geschrei­nerte (Grab?)-Kreuz bedeu­tungs­schwanger zertreten wird; wie auch der Holz­koffer, den die Frau zusammen mit einer Portrait­photo­gra­phie ihrer Mutter als einzige Erin­ne­rungs­stücke aus dem Eltern­haus gerettet hat. Um aus den Trümmern ein Lager­feuer zu schichten, ihre aus der Krume gebor­genen Erdäpfel darin zu garen – und selbige dann bedächtig, an Bahn­gleisen sitzend, in Echtzeit zu verzehren.

Was man dieser Szene während des Anschauens viel­leicht noch an Resten guten Willens zuge­standen hätte, das verlor man dann leider beim anschließenden Q & A. Wo das Miss­ver­hältnis umso ekla­tanter wurde zwischen dem, was die Filme­ma­cher an großer Bedeutung in alle Details geladen zu haben glauben – und dem, was an wirk­li­cher Tiefe und Substanz in den offen­sicht­lich rein vom Symbol­haften her konstru­ierten Schluss­mo­menten des Films tatsäch­lich zu spüren ist.