68. Berlinale 2018
Die Berlinale-Workout Playlist 2018, Vol. I |
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Damsel: ein Film der diversen Ansätze, die quer zueinander stehen | ||
(Foto: David Zellner / Berlinale) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Dem typischen Berlinale-Film des Jahrgangs 2018 war Musik eher suspekt. Sinnlichkeit und Emotionen, die nicht erst den Umweg über den Verstand nehmen, die zu direkt begreifbar und ergreifend sind – das passt nicht in die preussisch-protestantische Erbaulichkeits-Ästhetik. Selbst wenn vorgebliche »Rockopern« im Programm sind, dann stellen sie sich als reine A Capella-Politschauermären heraus, in denen in vier Stunden den Protagonisten nur immer wieder und wieder die fünf
gleichen, simplen Lieder über die Lippen kommen. (Freilich haben wir die Ed Sheeran Doku Songwriter nicht gesehen – und haben damit womöglich das eine großmusikalische Glückserlebnis verpasst…)
Drum hätten wir ein paar Vorschläge, mit welchen Tracks auf den Kopfhörern sich das cineastische Ausdauertraining schwungvoller abarbeiten ließe.
Was sich aus der Perspektive des einen wie ein große Liebe anfühlen mag, kann sich aus der Sicht der anderen zu einem Horrorfilm entwickeln.
Der Begriff »Gaslighting« greift mit gutem Grund zurück auf den klassischen Psychothriller Gaslight – und Steven Soderberghs Unsane zeigt, wie
verblüffend unverändert die Genre-Muster von Irrenanstalts-Drama, Paranoia-Thriller à la Seconds, getaucht in die Ästhetik des ‘90er Jahre Direct-to-Video Horrorfilms übernommen und genutzt werden können, um ein ins Albtraumhafte verzerrtes Bild zu geben von jenen weiblichen Alltagserfahrungen, die derzeit wieder etwas hörbarer im Gespräch sind.
Die von einem Stalker traumatisierte Geschäftsfrau Sawyer (Claire Foy) will sich in Therapie begeben – gerät dabei aber in das Mahlwerk der korrupten US-Gesundheitsindustrie und findet sich als unfreiwillige Insassin eines psychiatrischen Instituts wieder. Wo sie erneut ihrem Stalker ausgeliefert ist.
Anfangs macht der Film einen dabei zu Komplizen eines Systems, das bis zum Gegenbeweis lieber den Opfern misstraut, sie als hysterisch abstempelt, und von ihnen
verlangt, sich doch bitte einfach mal zusammenzureißen. Bis man dann wirklich in Sawyers Sicht reinkommt und nachfühlen kann, wie monströs die Nachstellungen sind jenes Mannes, der sie unerbittlich zum Objekt seiner sogenannten »Liebe« auserkoren hat.
Wie gut und clever es Soderbergh gelingt, diesen für manche Leute schon wieder totdiskutierten Erfahrungen in Genre-Hülle seinen Schrecken zurückzugeben, konnte man daran erkennen, dass Unsane fast der einzige Wettbewerbs-Film war, der dem in deprimierte Duldungsstarre verfallenen Fachpublikum hörbare emotionale Reaktionen zu entlocken vermochte. So schön hat man in einer Pressevorführung lange keinen kollektiven #Aufschrei erlebt.
Etwas ganz Änliches versucht Damsel mit dem Western. Auch er verwendet die Genre-Konventionen, um von diesen Themen zu erzählen, und dabei anfangs auf die falsche Fährte zu führen. Man kommt gar nicht auf die Idee zu hinterfragen, dass Samuel der romantische Held ist, ausgezogen seine Holde aus den Fängen des Schurken zu befreien. Pfarrer und Verlobungsring hat er schon dabei, sie warten nur auf ihren Einsatz zum unweigerlichen Happy End. Freilich wirkt er wie ein rechter Tölpel – aber der unwuchtig ausbalancierte Film schlägt anfangs generell einen sehr gewollt bizarren Ton an, wie eine schlechte Coen Bros. Imitation. Und Robert Pattinson als ideale Besetzung bringt ein Image mit, das er hier lediglich bewusst zu parodieren scheint.
Doch Damsel geht weiter: Er entblößt, wie creepy Edward & Co. sein können, wenn man sie nicht durch die verblendende Tennieschwarm-Brille sieht.
Denn Samuels Angebetete (Mia Wasikowska) verspürt keinerlei Bedürfnis nach Rettung – im Gegenteil: Sie ist glücklich verheiratet mit Anton, dem Mann, den sie liebt. Und Samuel ist, wie der Stalker aus Unsane,
so sehr in seine Wahnidee einer großen Liebe verrannt, dass er Penelopes Idylle zerstört, Anton ermordet.
Nach dieser Wendung, dieser bewussten Demontage der Plot-Automatismen, steht Damsel aber vor der Frage: Wie geht es weiter? Und so sehr er Penelope auch die Frustration der Frauen aussprechen lässt, so sehr bleibt das Papierdialog. Fatalerweise gelingt ihm das offensichtlich Notwendige nicht: Wahrhaft in Penelopes Perspektive zu wechseln.
Der Fokus der verbleibenden seiner schier endlosen zwei Stunden liegt bei dem Pfarrer und dessen Ziellosigkeit, Einsamkeit. Das verfolgt zwar jenen Strang des Films, der den Mythos vom Wilden Westen dekonstruieren möchte als Raum, in dem man sich neu finden und erfinden kann. Aber Damsel bleibt ein Film der diversen Ansätze, die quer zueinander stehen, sich gegenseitig ins Gehege kommen.
Als Vorbilder nennen die Zellner Bros. die impressionistischen Post-Western der ‘60er, ‘70er – doch deren Langsamkeit geht nicht zusammen mit dem permanent ironischen Modus von DAMSEL. Der Film entbehrt jedes Gespürs für Rhythmus genauso wie für Timing. Schade drum: Vom Konzept her wäre es einer der spannendsten Werke im Wettbewerb gewesen – von der Ausführung her war es einer der ungelenksten.
Es ist Weihnachten, in Rumänien gegen Ende der Ostblockzeit – und der Protagonist von Fotbal infinit ist allein auf weiter Flur. Bei der schweren Arbeit in der Fabrik hat er sich, von den Kollegen unbemerkt, das von einer jugendlichen Fussballverletzung angeknackste Bein gebrochen. Der letzte Bus ist weg. Und Laurentiu Ginghina bleibt nichts übrig, als die 6 Kilometer Heimweg humpelnd zu Fuß anzutreten.
Ausgerechnet diese Einschränkung seiner tatsächlichen Bewegungsfreiheit wird für ihn zum Auslöser eines obsessiven Bemühens, auf theoretischer, auf Ebene des Regelwerks seinen Lieblingssport zu revolutionieren: Er will dem Ball zu mehr Tempo und Freiheit verhelfen – paradoxerweise, indem er durch immer weitere Unterteilungen des Felds dem Spielraum der Fußballer Grenzen zieht.
Corneliu Porumboius Film scheint zunächst lediglich eine launige Doku über diese exzentrischen, kauzigen Regeländerungen zu sein. Doch bald begreift man, wieviel Biographie und Psychologie Ginghinas Streben antreibt.
Fotbal infinit bleibt filmisch unaufwändig. Doch er weitet sich zum Portrait einer Resignation – die Ginghina zum Teil von außen aufgedrängt wird, zum Teil aus ihm selber stammt. Sein Versuch, in die USA auszuwandern, scheiterte noch an der Verschärfung der Einreisebedingungen nach 9/11. Nach der Aufnahme Rumäniens in die EU scheint er aber schon den Wagemut verloren und für sich als Ausrede vorschnell beschlossen zu haben, dass das Experiment Europa gescheitert ist.
So sitzt er noch immer in seinem lokalen Bürokratenjob fest. Was nicht weniger tragisch wird dadurch, dass er selbst durchaus begreift, wie sehr seine Träume vom Fußball-Revoluzzer eine Ersatz-Hoffnung sind.
Am Ende ist Fotbal infinit ein melancholischer, durchaus berührender Film über die Frage, was von einem Leben bleiben, welche Spuren man in der Welt hinterlassen wird.
Spuren sind auch in L’empire de la perfection von großer Bedeutung: Wieder und wieder diskutiert John McEnroe minutenlang über die Abdrücke von Bällen auf dem Sandplatz. Es macht ihn schier wahnsinnig, dass in seiner Wahrnehmung die Schiedsrichter seine Obsessivität nicht teilen – dass nur er 100% gibt. Die 100% sind sein großes Ziel: Als erster Spieler überhaupt will er die perfekte Gewinnquote über eine Saison erreichen.
L’empire de la perfection zeigt McEnroe bei den French Open 1984, wo er diesem Ziel zum Greifen nah war – und im letzten Moment scheiterte. Es wird ihm ewig nachhängen – nachher verzweifelt er, wie anders sein Leben gewesen wäre, hätte er nur gewonnen. (Man fragt sich freilich: Wie?) Dabei scheint er im Film nur glücklich im Unglück – wenn er einen Drachen hat, gegen den er kämpfen kann, wenn er hadert mit der Welt und sich, wenn er sich auf einsamem
Posten gegen alle sieht.
Tom Hulce, verrät L’empire de la perfection, hat bei seiner Vorbereitung auf die Rolle als Mozart in Amadeus das manische Genie McEnroe studiert – und wenn man das einmal weiß, kann man es nicht mehr ungesehen machen.
Julien Farauts Film ist keine gewöhnliche Sportdoku. Sie handelt zunächst von einem anderen Besessenen: Gil de Kermadec – den er
als einen verschollenen Meister der Filmgeschichte etablieren möchte. De Kermadec – dessen Werk in hunderten Filmdosen im nationalen Sportarchiv schlummert – drehte anfangs höchst charmante, eher abstrakte Tennis-Lehrfilme. Begann dann aber, deren Grenzen zu erkennen und reale Matches zu dokumentieren und analysieren.
Alles Material der French Open 1984 in L’empire de la perfection stammt von ihm – der damals vehement den Vorschlag der Organisatoren zurückwies, er könne für seine Studien doch einfach auf die Fernsehbilder zurückgreifen. Er mache hier schließlich einen Film! Und so sieht man auch immer wieder parallel zur Punktezählung des Matches die Zählung der Takes auf der improvisierten Klappe – sehr zum Missfallen von McEnroe, hinter dessen Stuhl direkt der Tonmann sitzt, all seine Pausenflüche mit einfangend.
»Kino lügt, Sport nicht«, zitiert L’empire de la perfection Godard. Und immer wieder geht es um die Parallelen und Spannungen zwischen den beiden Gattungen. Wenn man de Kermadec in seiner Besessenheit, Waghalsigkeit, dem Hang zugleich zu Dokumentation und Drama als eine Art Werner Herzog des Tennislehrfilms sehen mag, dann hat er in John McEnroe seinen Kinski gefunden.
Einer der anstrengendsten Aspekte der Berlinale-Filmauswahl 2018 war ein Hang zu hoher Redundanz bei erstaunlich geringer Komplexität.
Drvo (The Tree) von André Gil Mata wäre da eigentlich noch auf der einnehmenderen Seite gewesen. Freilich geschieht nicht viel, und das sehr langsam: Ein Kind steht am Fenster. Ein alter Mann geht nachts aus dem Haus, im schneevereisten Ort leere Wasserbehältnisse zu sammeln und an einem Joch zu
seinem Kahn zu schleppen. Er rudert zu einer entlegenen Quelle. Und begegnet dem Kind. In der Ferne ahnt man ständig einen Krieg. Das ist im Prinzip alles, in 104 Minuten.
Aber – anders als viele der anderen, künstlich zerdehnten Filme – hat Drvo ein Gespür für Zeit; schafft es, einen in den Bann seines Rhythmus zu lullen; akzeptieren zu lassen, dass die Zeit langsam vergeht, und dabei dennoch das Gefühl einer Vorwärtsbewegung zu haben. Man fühlt sich seltsam aufgehoben in dem schweren Schwarz seiner stimmigen, starken Bilder, der gemäldehaften Irrealität.
Und solange der Film den Mund hält, nutzt man die Zeit, die er einem gibt, auch durchaus, diese Bilder zu deuten. Kommen einem schon die richtigen Assoziationen – Quelle des Lebens, Sisyphos, der Fluss Styx. Ist man noch fasziniert von dem Spiel mit möglichen Zeitebenen.
Doch ach, hättest Du geschwiegen, Drvo! Am Ende nötigt er seinem Wasserträger einen Monolog auf, der für alles, was schon da war, auch noch Worte finden möchte – und es dabei mit platter Poetik samt und sonders niedertrampelt. Binnen Sekunden wechselt man vom hypnotisierten zum augenrollenden Zuschauen.
Wenn Drvo dann noch von der »Wärme, die nur die Traurigkeit bieten kann« wabert, ist man leider beim schlimmsten Klischee von
dem, was passiert, wenn ein Portugiese bei Béla Tarr in die Schule geht.
Wenn Ludwig Wüsts Aufbruch in den Ruderkahn steigt, dann treibt man leider auch schon tief in der gewollten Styx-Metaphorik. Und hat den trockenen österreichischen Humor, das schön Handfeste des Anfangs längst hinter sich gelassen, wo man noch mit dem Meister Kabinenmoped durch die Landschaft knatterte.
Aufbruch ist eine Art Roadmovie im 5km-Umkreis. Ein Mann im blauen Handwerker-Overall klaubt eine am Straßenrand schlafende, ältere Frau auf. Fährt sie zu ihrem Elternhaus, das abgerissen werden soll. Die beiden klauben Kartoffeln von einem abgeernteten Feld. Rudern zu einem Industriehafen. Essen die Kartoffeln, trinken Milch. Der Mann bieselt – die Frau stirbt.
Das alles funktioniert, solange es im sehr Konkreten verankert und das Symbolische nur wie ein Firnis
auf dem Alltäglichen ist. In der schönsten Szene des Films tischlert Wüst (der auch Hauptdarsteller ist) ein Kreuz. Man beobachtet ihn minutenlang, wie er mit geübten Handgriffen das Holz zurechtrichtet und zusammenfügt. Und das ist auf wunderbare Weise zuerst Handwerk, und dann Kunst. »Jetzt hab ich ein schönes Kreuz gemacht. Ist halt so«, kommentiert er danach.
Diese Nähe zum Menschlichen, diese unterschwellig Lässigkeit ist leider, leider perdu, wenn am Ende das mühsam geschreinerte (Grab?)-Kreuz bedeutungsschwanger zertreten wird; wie auch der Holzkoffer, den die Frau zusammen mit einer Portraitphotographie ihrer Mutter als einzige Erinnerungsstücke aus dem Elternhaus gerettet hat. Um aus den Trümmern ein Lagerfeuer zu schichten, ihre aus der Krume geborgenen Erdäpfel darin zu garen – und selbige dann bedächtig, an Bahngleisen sitzend, in Echtzeit zu verzehren.
Was man dieser Szene während des Anschauens vielleicht noch an Resten guten Willens zugestanden hätte, das verlor man dann leider beim anschließenden Q & A. Wo das Missverhältnis umso eklatanter wurde zwischen dem, was die Filmemacher an großer Bedeutung in alle Details geladen zu haben glauben – und dem, was an wirklicher Tiefe und Substanz in den offensichtlich rein vom Symbolhaften her konstruierten Schlussmomenten des Films tatsächlich zu spüren ist.