68. Berlinale 2018
Die Berlinale-Workout Playlist 2018, Vol. II |
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Die erfüllte Langsamkeit ist oft der einzig sinnvolle, ja mögliche Rhythmus | ||
(Foto: Arsenal Institut / Forum Berlinale) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Der Mensch ist schlecht, die Welt schon auch – und nur die Erde gut. Das ist ziemlich erschöpfend die Erkenntnis von Kim Ki-duks zweistündigem Inkan, Gongkan, Sikan Grigo Inkan (Human, Space, Time and Human). Ein Film mit einem Hang zu hoher Redundanz bei recht geringer Komplexität.
Diese Weltsicht ist nichts Neues bei Kim Ki-duk. Ungewohnt aber ist, dass sich das bei ihm – dem es sogar einmal gelungen ist, ganz allein in
einem Zelt mit Handkamera einen spannenden Film zu drehen – derart leer, desinteressiert, fad und nach Masche anfühlt.
Inkan, Gonkan, Sikan Grigo Inkan ist eine »Narrenschiff«-Variation – in der ein allegorischer Querschnitt der Gesellschaft auf einem ausrangierten Schlachtschiff zu einer Fahrt ins Ungewisse versammelt ist. Es gibt die eitlen Mächtigen; die Kleinganoven, die deren Macht mit körperlicher Gewalt und Einschüchterung
sichern; die meist nur als Horde auftretenden normalen Leute – und den stummen Künstler (Kim Ki-Duk selbst), der außerhalb von allem steht und es beobachtet. Und jetzt raten Sie mal, wer da die Bösen sind, und wie die sich verhalten!
Bei einer an Vergewaltigungsszenen wirklich nicht armen Berlinale (ausgerechnet in diesem Jahr...) dürfte dennoch Inkan, Gonkan... unangefochten die Konkurrenz anführen um die meisten solchen Szenen in einem Film. Keine
einzige Frau in Inkan entgeht diesem Schicksal – es ist die Standardlösung, wann immer Kim erzählerisch nicht vorankommt. (Quasi wie späteres Game of Thrones für Bildungsbürger.) Ohne dass es in einem selbst oder den Figuren etwas bewegt.
Männer sind Mörder und Vergewaltiger, Frauen sind Nutten oder Allmütter – weiter kommt der Film in seinem ach so radikalen Menschenbild nicht. Nur der visionäre, ackernde Künstler
bestellt aus Staub und Saat bereits die neue, kommende Welt, während die anderen sich zerfleischen und am Untergang laben.
Ähnlich wie in Aufbruch sind es die zu wenigen, zu kurzen Momente, wo Kim auf der Leinwand in sich versunken ganz bodenständig an seinem postapokalyptischen Schrebergarten werkelt, wo der Film zu leben beginnt, eigene, nicht abgenutzte, abgeschmackte Bilder
findet.
Aber der paradiesische Neustart trägt den nächsten Untergang schon in sich. Die vermeintliche Hoffnung der (neuen) Menscheit – das (freilich bei einer der Vergewaltigungen gezeugte) Kind ist auch nur ein Mann. Wussten Sie schon? Der Mensch ist schlecht, die Welt schon auch – und nur die Erde gut!
Gut ist die Welt schon auch nicht, in Hu Bos An Elephant Sitting Still – aber sie existiert nicht allein als Bühne für die Leiden und Schlechtigkeit der Menschen. Und obwohl es vier durchaus gewichtvolle Stunden sind, so lohnen sie das, was sie einem abverlangen. Und es bewegt sich in ihnen etwas – völlig im Gegensatz zum hysterischen Stillstand bei Kim Ki-duk.
Das liegt gewiss
nicht zuletzt daran, dass An Elephant Sitting Still zwar Hu Bos filmisches Erstlingswerk ist, der 29-Jährige aber zuvor in China bereits als Romanautor etabliert war. Dem Film eignet die epische Fortbewegung, der unaufgeregte, ruhige, aber zwingende Fluss eines gut strukturierten Romans. Anders als bei so vielen gewollt zerdehnten, diesjährigen Berlinale-Filmen hat man das Gefühl, dass die
erfüllte Langsamkeit hier der einzig sinnvolle, ja mögliche Rhythmus ist – es ist der innere Rhythmus des Lebens, das er zeigt.
Der Film nimmt seinen Ausgang in der nüchternen Tristesse einer Hochhaussiedlung in Manjur – einer mittelgroßen chinesischen Stadt. Wir lernen die Protagonisten jede und jeden für sich alleine kennen – und im Grunde bleiben sie bis zum Ende alleine, auch wenn all ihre Leben sich im Laufe des Filmes kreuzen und berühren. Da sind unter
anderem ein Teenager, der sich zu vehement gegen einen Bully in seiner Schule wehrt; ein Großvater, den seine Kinder ins Altersheim abschieben wollen, um an seine Wohnung zu kommen; ein Mädchen das ein Verhältnis mit einem ihrer Lehrer hat; eine Bande von Kleinkriminellen.
Der Film spielt an einem einzigen Tag – und die Stimmung, die einem die angemessen, aber nicht erzwungen kühlen Bilder vermitteln, ist die träge Schwere des immergleichen Alltags, selbst wenn sich
Außergewöhnliches ereignet.
An Elephant Sitting Still gesteht seinen Figuren die Würde zu, weder die Menschheit zu hassen, noch sie zu bemitleiden. Auch wenn Hu Bo für sich wohl einen anderen Schluss gezogen hat (er nahm sich letztes Jahr das Leben), hat der Film durchaus Glauben an die Menschen. Der Film gibt sich nicht der Depression hin, ist weder Hilferuf noch Anklage, sondern meisterhaft
geformte Kunst, ist ein klarer Blick aufs Leben.
Im Gegensatz zu den ganzen Pseudo-»Die Welt ist schlecht«-Filmen der Berlinale 2018 hatte er als einziger die Größe, im fatalsten Moment auf die Absurdität des Lebens mit Humor, mit Lachen zu reagieren. Und dieser Moment war eben kein redundantes Beharren auf der Schlechtigkeit des Menschen – sondern vollends zum Desaster kommt es gerade, wenn alle versuchen sich zusammenzureißen und hilfreich zu sein.
Hu Bos Film ist
hoffnungs-, aber nicht trostlos: Er macht keinerlei Hoffnung, dass die Situation sich bessern wird, oder dass man sich selber je entkommen könnte. Aber er lässt einem den keineswegs billigen Trost, dass das Ganze sich – gemeinsam nebeneinander – ertragen lassen kann.
Viele Protagonisten in den Filmen der diesjährigen Berlinale waren auf der Suche nach einem Platz in der Welt. Und auffällig oft wurden tatsächlich im Bild Stätten, die Heim bedeuten – bescheidene Häuschen und Hütten –, niedergebrannt, gesprengt, dem Erdboden gleichgemacht. Als wäre das die notwendige Voraussetzung, dass die Figuren phönixgleich aus der Asche sich aufmachen können in ein neues Leben.
Das war in Damsel oder Ang panahon ng halimaw so, und selbst bei der Woche der Kritik in Hagazussa. Am gewolltesten war Isabel Coixets Versuch, dem (sehr herbeigesehnten) Ende von The Bookshop mit CGI-Feuer etwas Dramatik zu
verleihen. Warum das historische Häuschen, das Florence Greens (Emily Mortimer) Buchladen beherbergte, in Flammen aufgehen muss, darf man genausowenig hinterfragen, wie warum sie den Laden überhaupt unbedingt genau dort, in dem winzigen, an Literatur desinteressiertem Insel-Örtchen und in der auch von der reichen Grande Dame des Dorfes begehrten Immobilie eröffnet.
Man wäre vollauf zufrieden gewesen, hätte sich The Bookshop als eine Art Chocolat mit Büchern erwiesen. Und man sollte meinen, bei dem Setting und der Besetzung (u.a. Bill Nighy, Patricia Clarkson) hätte das fast ein Selbstläufer sein sollen. Aber wie in ihrem letzten Debakel eines Berlinale-Beitrags, Nobody Wants the Night, zeigt die Spanierin auf fremdem Terrain keinerlei
Gespür für den Ort und dessen Bevölkerung. Das funktioniert noch nicht einmal als ein Klischee-Bild vom England der 1950er.
Die vermeintliche Liebe zu seinen Themen bleibt leere Behauptung, sie springt nie über, wird nie wirklich spürbar. Berühmte Bücher (»Fahrenheit 451«, »Lolita«) werden ins Bild gehalten und kurz für toll befunden – aber es wird nie auch nur ein Satz mehr darüber kommuniziert, was es denn ist, was einen an Literatur berührt, bewegt.
Und selbst wenn man
wirklich bereit ist, über die Kleinigkeiten hinwegzusehen, die beim Film nun mal schiefgehen können, bombardiert einen The Bookshop mit einer ärgerlichen, irritierenden Häufung von Schlampereien. Ob ein im Film vom ganzen Dorf diskutiertes Kleid vom Kostümdepartment schief genäht ist; ob in Großaufnahmen deutlich Kontaklinsen zu sehen sind; im Regal aktuelle Penguin-Ausgaben
prangen; oder beim ausgedehnten Nachmittagstee kein einziger Bissen vom – auch wieder vieldiskutierten – Kuchen gegessen wird, man sich aber nachher ganz unironisch fürs leckere Mahl bedankt, und und und: Wenn in fast jeder Szene einem derartiges aufstößt, dann findet man einfach kein Heim mehr in der Illusion.
Und wenn am Ende zu Florences unfreiwilligem Abschied von der Insel das umstrittene Häuschen abgefackelt wird, nur damit es nicht der Rivalin in die Hände
fällt – dann tut das poetisch und gerecht, ist im Grunde aber nur ein kleinlicher, zerst örerischer Racheakt.
Bei allem Geheische von Völkerverständigung waren bei dieser Berlinale erstaunlich viele Filme im Programm, die es sich sehr einfach machten, die Menschheit klar und platt in Gut und Böse zu unterteilen. Und dann alles abzusegnen, was den angeblich Bösen im Namen des Guten angetan wird.
Es sagt viel, wenn in Black 47 noch die wohl nuancierteste Szene einen der bösen Engländer (Jim Broadbent) immerhin nicht völlig verschlossen der verblüffenden
Erkenntnis zeigt, dass nicht alle irischen Frauen dreckige Tiere seien. Dieser Ansatz von Belehrbarkeit rettet freilich auch ihn nicht.
Black 47 ist ein Rachewestern im Hungerwinter des englisch besetzten Irlands 1847. Und freilich führten sich historisch die Besatzer dort nicht auf die feine englische Art auf. Aber wie Lance Dalys Film den einsamen Feldzug seines Protagonisten inszeniert, vermeidet schon sehr jegliche Komplexität – bei reichlicher
Rednundanz.
Nach der anfänglichen Elends-Porno Tour durch das dekorativ hungernde, erfrierende irische Dorfleben und die Zerstörung von Heim und Herd läuft der restliche Film nach dem immergleichen Prinzip ab: Einer der zum Bösen Erklärten – sei es Engländer, irischer Kolaborateur oder auch einfach nur verhungernder Ire, der von den Engländern Essen akzeptiert hat – kommt nach Hause. Unser Held sitzt schon da und guckt finster. Der Böse versucht sich zu
rechtfertigen. Der Held bringt ihn auf durchaus kreative und abwechslungsreiche, möglichst sadistische Weise um.
Und egal wie albern, berechtigt oder empörend man das historisch und politisch finden mag: Man muss dabei durchleiden, wie in der Hauptrolle das australische Charisma-Vakuum James Frecheville permanent die deutlich pr äsenteren, sehenswerteren Schauspieler aus dem Film befördert.
Wo viele der anderen Berlinale-Filme als künstlerisches Mittel die zeitliche Ausdehnung in die Horizontale wählten, packen Guy Maddin, Evan Johnson und Galen Johnson quadratisch, praktisch, gut die Substanz von rund 30 Filmen in 10 Minuten und ein Wimmelbild. Man blickt auf die Balkone und Fenster einer Hochhausfassade und die Dramen der Bewohner – mal alltäglich, mal genrefilmreif –, die sich darauf und dahinter abspielen. Accidence ist
quasi Rear Window ohne Teleobjektiv.
Man kann diesen narrativen Setzkasten von tatiesquer Dichte nur auf großer Leinwand wirklich wahrnehmen – da man dabei aber frei und gezwungen ist, seine Aufmerksamkeit jeweils nur auf einen Teil der ineinander verwobenen Kurzgeschichtensammlung zu lenken, hat das kollektive Kinoerlebnis paradoxerweise zum Resultat, dass alle im
Saal einen anderen Film sehen.
Accidence war somit das perfekte Gegenstück zum diesjährigen Berlinale-Trend zu hoher Redundanz bei geringer Komplexit ät.
Der zweite Film des Maddin, Johnson & Johnson-Double Features stellt das Prinzip von Accidence sozusagen auf den Kopf. Die Geschichte(n) von The Green Fog spielt zwar an einem Ort – aber nicht in einer Zeit.
Dieser Ort ist das stets latent von Vertigo (wieder: Hitchcock) durchspukte San Francisco. Es ist ein San Francisco das die Filemacher zusammensetzen aus Fragmenten dutzender Spielfilme.
Ein Mosaik San Franciscos aus Jahrzehnten von Film- und damit nebenbei eingefangener Stadtgeschichte – das gleichzeitig Bild für Bild verankert, und im Gesamtbild doch losgelöst ist von der Zeit.
Ausgerechnet dieser Recycling-Film, der davon handelt, dass alle Geschichten
schon tausendfach erzählt sind; dass sie wieder und wieder die selben Orte heimsuchen; dass alle Dialoge schon so oft gesprochen wurden, dass es reicht, von Dialogszenen nur die Pausen zwischen den Worten übrige zu lassen – ausgerechnet dieser Film erwies sich als ein erstaunlich erquickliches Gegengift zum Ermattungs-Gefühl, welches die übrige Berlinale durchwaberte.