68. Berlinale 2018
Games wären auch noch eine Möglichkeit! |
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Wohin geht der Weg? artechock blickt durch | ||
(Zeichnung: artechock) |
Von Dunja Bialas
»Die Berlinale ist Scheiße!«, schleudert mir ein Berliner Kollege entgegen. Hm, denke ich mir, die Berlinale ist alles mögliche, aber bestimmt nicht Scheiße. In manchen Kreisen aber ist es sinnlos geworden, ein Gespräch über die Berlinale zu beginnen. Hass und Wut kommen einem entgegen, wenn man nachfragt. In einer öffentlichen Diskussionsrunde, die während der Berlinale abgehalten wurde, polemisiert ein Filmemacher, das Programm der Berlinale, so wie es ist, könnten auch Affen zusammenstellen. Wow. Er schlägt außerdem die Abschaffung der einzelnen Sektionen vor. Kinder- und Jugendfilme sollten ins allgemeine Programm eingegliedert, Dokumentarfilme nicht mehr ausgewiesen werden.
Nur in Berlin, so habe ich den Eindruck, können Debatten derart hochkochen. Das wirkt dann auch mal provinziell. Stichwort: die Besetzung der dffb-Leitung. Stichwort: die Volksbühne und Chris Dercon. Stichwort: Kosslick und die Berlinale. Bei all der Aufregung bleibt am Ende sogar für so manchen Unterzeichner des öffentlichen Regisseur*innen-Briefs unklar, wem der Unmut gilt. Dem bestehenden Festival? Dem zu erwartenden Besetzungsverfahren? Kosslick? Dietrich Brüggemann hat aus der Unschärfe des Protests seine Konsequenz gezogen und ist bei der neuen Unterzeichnungsrunde nicht mehr dabei.
Die Forderung nach einem öffentlich ausgeschriebenen und transparenten Besetzungsverfahren, bei dem nicht nur die Filmfunktionäre mitwirken, kann man uneingeschränkt unterstützen. Kunst und Kultur sind heute weitgehend Politikersache geworden, wird branchenfixierten Gremien übertragen, die nur im Blick haben: die Kreativwirtschaft, den Markt, die Rendite für die öffentliche Investition ins jeweilige Kulturobjekt. Die Berlinale aber will international betrachtet sein, und es sollte daher auch international nach einer Nachfolge gesucht werden. Noch wird Berlin als europäisches A-Festival in einem Atemzug mit Cannes und Venedig genannt. Doch es verliert an Renommee, zu unbedeutend, zu divers sind die programmierten Filme.
Aus eigenem Eindruck, der sich seit Jahren wiederholt, kann ich sagen, dass die Berlinale ein riesiger Späti ist. Hier findet man alles, was man braucht. Große Produktionen, Filmkunst und Kunstfilm, Kinderfilm, Dokumentationen, Queer Cinema. Und auch, was keiner braucht. Zweitklassige Produktionen, Europudding, Themenfilme, Filme von der Festival-Resterampe. Die Berlinale hat ein Pole-Position-Problem. Es ist das erste Festival im Kalenderjahr nach Sundance. Cannes, das wichtigste europäische Festival ist im Mai dran, viele Produktionen warten das ab. Venedig im späten Sommer kann auf Filme zugreifen, die Cannes nicht mehr geschafft haben. Dazwischen und danach schieben sich noch die A-Festivals von Locarno und San Sebastian, die ebenfalls Premieren wollen.
Für die Berlinale wird es also eng. Damsel, der im diesjährigen Wettbewerb lief, war in Sundance bereits in der internationalen Sektion »Premieren« zu sehen – ein Regelbruch, den nur der Direktor vornehmen darf. Man kann aber anerkennen, dass die Berlinale auch etwas aus ihrer Zwangslage macht. Das breite Spektrum, das sie präsentiert, kann als Profillosigkeit gelten, öffnet sich jedoch auch auf die große Bandbreite des Filmschaffens. Dabei ziehen zunehmend experimentelle Filmformate in den Wettbewerb ein. Vor zwei Jahren sorgte der achtstündige Lav Diaz A Lullaby to the Sorrowful Mystery für Aufmerksamkeit. Die Berlinale folgte damit den A-Festivals Locarno und Venedig, was dem Festival wiederum als »anbiedernd« vorgeworfen wurde. Dieses Jahr gab es vom selben Regisseur den kaum mehr beachteten vierstündigen Sprechgesangsfilm Season of the Devil im Wettbewerb. Es war aber nicht der einzige Film, der die Konventionen auf den Kopf stellte. Der mutigste, weil in dieser Form am wenigsten erwartete, war Philip Grönings Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot, der mit atemberaubenden Bildern eines Kornfelds vor Tankstelle aufwartete, in sprunghafter, inkonsistenter Montage die Zeit überwand und ein Geschwisterpärchen den Inzest entdecken ließ.
Ich stelle mir gerne vor, wie die versammelte Filmkritik oder die Jury unter dem Vorsitz von Tom Tykwer vier Stunden philippinischen Gesang über sich ergehen lässt. Das gefällt mir. Es gefällt mir auch deshalb, weil hier die Berlinale-Schere zwischen rotem Teppich und radikalem Kino aufklafft. Der Ruf der Berlinale der letzten Jahre könnte daher auch lauten: unberechenbar und herausfordernd, keinesfalls bequem zu sein. Wieso konnte sich eigentlich dieser Ruf nicht durchsetzen? Liegt es doch an Kosslick, der mit beeindruckender Oberflächlichkeit aufwartet? Dem man keinen cineastischen Tiefsinn zutraut?
Ein anderer Ruf aber hat sich festgesetzt. Die Berlinale gilt seit jeher als »größtes politisches Festival«. Das hat den Ursprung in der Geschichte der Berlinale, die 1951 im geteilten Berlin als »Schaufenster zur freien Welt« begann und dessen programmierte Filme die »Verständigung zwischen den Völkern« fördern sollten. Heute gilt das Festival als politisch, weil neuerdings auch Dokumentarfilme im Wettbewerb laufen und seit jeher auch die unterrepräsentierten Regionen des Weltkinos ihren Platz finden – auch um das Programm zu füllen. Und weil von den berufenen Jurys oft das politisch Korrekte, nicht das ästhetisch Mutige ausgezeichnet wird, wie es auch dieses Jahr mit dem semi-dokumentarischen Touch Me Not der Fall war. Was aber macht das Festival als solches politisch, wenn die Filme entsprechend ihres Genres oder ihrer Herkunft die sozialen Fragestellungen ohnehin mitbringen? Politisch wäre die Berlinale dann, wenn sie zu aktuellen Themen Stellung bezöge. Die Berlinale aber springt höchstens auf den Zug auf, der gerade vorbeifährt, so wie dieses Jahr bei »Me Too« geschehen – um sich prompt in neue Skandale wie beim Film von Kim Ki-duk zu verheddern.
Die Berlinale ist nicht politisch. Sie ist obszön. Die Stadt, in der das Festival stattfindet, ähnelt von Jahr zu Jahr mehr Fritz Langs futuristischer Großstadt »Metropolis«, mit seiner Unterstadt der Bettler. Hier sind Armut, Hunger, Drogensucht und Prostitution alltäglich. Hier hält Kosslick seit 2007 seine Leib- und Magenreihe »Kulinarisches Kino« ab. Eine Entrittskarte kostet inklusive warmer Mahlzeit 95 Euro. Kosslick wird damit dem Unterfangen der Filmauswerter gerecht, das Kinoerlebnis im Luxussegment anzusiedeln, die Gewinnspanne nach oben zu treiben und auch die Popcorn-Verächter und Operngänger, die Mondänen und die Gelangweilten ins Kino zu bringen. Politisches oder gar cineastisches Interesse: Null.
Wohin soll die Berlinale-Reise also gehen? Abgesehen von der recht abstrusen Forderung, die Sektionen abzuschaffen, weil »Kino« nicht teilbar sei, wollen die großen Berlinale-Kritiker auch weniger Filme im Programm sehen. Wie genau das gemeint ist, wird nicht klar. Meinen die Kritiker, zu viel Diversität und daher zu wenig Profil vorzufinden? Oder meinen sie schlichtweg: zu viel von allem? Die Berlinale ist wie die Hauptstadt selbst: ein sich in alle Richtungen ausstreckendes unersättliches Riesenmonster. Die Berlinale ist aber auch ein dezidiertes Publikumsfestival (330.000 verkaufte Tickets, was bei Eintrittspreisen von zwölf bis fünfzehn Euro überrascht), eine Rarität unter den A-Festivals.
Wenn ein Programm verknappt wird, geht das in der Regel nicht auf Kosten der Publikumshits, sondern der sperrigen, experimentellen Filme. Deshalb sollte man konkreter werden. Ich fordere: Weg mit den Berlinale-Specials! Weg mit der Serien-Schau! Entweder weg mit dem Forum Expanded, oder es besser zugänglich machen! Weg mit den Filmen außer Konkurrenz im Wettbewerb! Weg mit der »Native«-Reihe mit ihren zwei Filmen! Und vor allem: Weg mit dem Kulinarischen Kino! Aber seien wir jetzt mal ehrlich: All die Sektionen und Reihen haben uns bei unseren Berlinale-Besuchen bislang nicht gestört. Wir haben noch nicht einmal etwas von ihnen gehört.
Trends anderer Festivals ist, auch Filmproduktionen zu zeigen, die nicht fürs Kino gedacht sind, wie von Netflix oder Amazon. Auch dieses Jahr gab es mit Gus Van Sants Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot bereits einen Amazon-Film im Wettbewerb, abgesichert dadurch, dass der Film auch einen Kinostart bekommen soll. Oder, ganz großes Ding: Virtual Reality. Sundance hatte dieses Jahr dazu einen Schwerpunkt. Games wären auch noch eine Möglichkeit!
Festival-Nostalgiker wollen die Leitung wieder in kuratorischen und branchenfernen Händen wissen. Sie werden vermutlich bald der Zeit hinterhertrauern, als dies noch als reelle Forderung erschien. Die Zukunft ist unaufhaltbar.