19.08.2021
Cinema Moralia – Folge 253

Könige für tausend Nächte

Apocalypse
Ikonisches Bild eines Desasters: Apocalypse Now
(Foto: Tobis)

Das Desaster in Afghanistan und das Kino: Reiche zerfallen, Invasoren kommen und gehen – was bleibt, sind Luxus, Stil, Drogen und die Liebe – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 253. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»If your officer’s dead and the sergeants look white,
Remember it’s ruin to run from a fight:
So take open order, lie down, and sit tight,
And wait for supports like a soldier.
When you're wounded and left on Afgha­ni­stan’s plains,
And the women come out to cut up what remains,
Jest roll to your rifle and blow out your brains
An' go to your Gawd like a soldier.«
Rudyard Kipling: »The Young British Soldier«

»It’s a place of war and tribes – which is to say: a land of oppor­tu­nity.« – Dies ist der schönste Satz in diesem an solchen sardo­nisch-ehrlichen, bewusst humorvoll-provo­ka­tiven Sätzen reichen Film. Der Platz, von dem hier die Rede ist, heißt Kafiristan. Es gibt ihn wirklich, auch wenn es klingt wie aus einem Märchen von tausend­und­einer Nacht. Es liegt hinter dem Hindu­kusch, im Nordosten Afgha­ni­stans.
Dorthin wollen Peachy Carnehan und Daniel Dravot, denn »dort hat man noch Platz. Wir sind keine Klein­bürger.« Peachy und Dravot sind eher zwei Glücks­ritter, Ex-Soldaten der briti­schen Armee, die sich in Britisch-Indien um 1880 mit Dieb­stählen und Betrü­ge­reien durch­schlagen. In diesem Film lernt man zunächst Peachy kennen, in den Augen des Erzählers, der dritten Haupt­figur. Der merkt sofort, dass Peachy versucht hat, ihn zu bestehlen, dass er ein Hoch­stapler ist, aber immerhin einer mit Ehrgefühl – und der Erzähler ist faszi­niert von diesem seltsamen Mann. Dieser Erzähler heißt Rudyard Kipling, und da von diesem bis aufs »Dschun­gel­buch« bei uns viel zu unbe­kannten briti­schen Schrift­steller auch die Kurz­ge­schichte stammt, die die Vorlage für John Hustons The Man Who Would Be King (Der Mann, der König sein wollte) bildet, wird klar, dass Huston wie Kipling selbst – der in Britisch-Indien aufwuchs, wo er seine Karriere als Jour­na­list begann –, hier Histo­ri­sches mit Fiktion wild vermischt. Die Fiktion ist das Mittel, um Tatsachen deut­li­cher zu machen.

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Beiden geht es aber vor allem ums Abenteuer und um die ungeheure Faszi­na­tion für das Fremde, das Unent­deckte, die »oppor­tu­ni­ties«. Als Peachy und Dravot vom Commis­sioner des Landes verwiesen und »nach Hause« geschickt werden, antworten sie: »Nach Hause zu was? Um als Portiers vor dem Restau­rant für Zivi­listen Kutschen­türen zu öffnen? Nichts für uns, danke. Nicht, nachdem wir auf dem Schlacht­feld das Kommando über­nommen haben, als die Afghanen den Hügel runter­s­türmten und alle Offiziere wegrannten.« Sie spielen lieber »Alles oder Nichts« und ziehen gen Norden.

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Kafiristan also. Auf Kiplings Bemerkung, dorthin habe es seit Alexander dem Großen noch kein Europäer geschafft, fällt Peachy nur ein: »Well, if a Greek can do it, we can do it.«
In dieser Erzählung steckt eine große Kinder­ge­schichte von zwei Männern, die allein in ein wildes, unbe­kanntes Land ziehen, um dort ihr Glück zu machen, um fremde Völker zu unter­werfen und Könige zu werden. Es stecken hierin aber auch die Reise­ge­schichten aller Zeiten, der Eroberung der Welt durch die europäi­schen Kolo­ni­al­herren, die gerade auch etwas aus der Mode geraten sind, aber es ist doch nur eine Frage der Zeit, wann wir uns wieder auf sie besinnen, an ihnen orien­tieren werden: Dravot und Peachy sind moderne Conquis­ta­doren, und wie bei Cortez oder Pizarro liegt im tiefen Grund ihres Erobe­rungs­triebs die Verzweif­lung und Verlo­ren­heit von Veteranen, die außer Kämpfen nichts gelernt haben. Das ist der harte Kern dieser Erzählung. Ihre lichte Höhe ist der Mythos von Alexander dem Großen, dessen Züge ihn bis nach Indien führten, und dessen Heirat mit Roxanne den Traum der Verschmel­zung von West und Ost symbo­lisch vollzog: »Ex oriente lux!«

Als sie Kafiristan erreichen, werden Dravot und Peachy tatsäch­lich für Wieder­gänger dieses »Sikander« gehalten, für Götter also, und auch wenn Peachy abwehrt »Not gods – Englishmen. The next best thing«, legt man ihnen ein Reich zu Füßen, und auch eine Roxanne, die tatsäch­lich so heißt, lässt nicht lange auf sich warten. Dies ist natürlich pure Ironie. Satire auf Kolo­nia­lismus, auf die Doppel­moral der Impe­ria­listen: »Well, es waren 'Schäd­linge' wie wir, die das verdammte Empire aufgebaut haben«, erklärt Peachy schon früh.

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Es ist aber auch die reine unschul­dige Romantik. Und hier offenbart sich die Wahl-Verwandt­schaft zwischen Kipling und Huston. Auch Huston (der Regisseur von The Maltese Falcon, 1941; Key Largo, 1948; The Misfits, 1961) war ein Macho, der am liebsten mit seinen Haupt­dar­stel­lern saufen ging und mit seinen Haupt­dar­stel­le­rinnen ins Bett, auch wenn Letzteres nicht immer klappte; ein Filme­ma­cher, den immer wieder Krie­ge­ri­sches und Männer­bün­di­sches, aber auch verschwin­dende Männer­welten inter­es­sierten – wie in Kiplings Erzählung, die letztlich natürlich eine des Schei­terns ist, der zersto­benen Träume.

Huston unternahm über die Jahre gleich mehrere Anläufe, um den Stoff zu verfilmen: In den 1950er Jahren mit Humphrey Bogart und Clark Gable in den Haupt­rollen, später mit Burt Lancaster und Kirk Douglas, und noch einmal, um 1970, mit Robert Redford und Paul Newman. Man hätte alle diese drei Versionen auch gern gesehen. Newman soll es gewesen sein, der ihm dann Sean Connery und Michael Caine vorschlug, die schon wegen ihres briti­schen Englisch die viel geeig­ne­tere Besetzung waren. Dies ist tatsäch­lich einer der glän­zendsten Auftritte in beider Karriere. Chris­to­pher Plummer übernahm die Rolle Kiplings, Frauen dagegen kommen kaum vor – bis auf die Traumfrau Roxanne wie gesagt, hier gespielt von Caines Ehefrau, der Latein­ame­ri­ka­nerin Shakira Caine.

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Der Mann, der König sein wollte, der kürzlich erstmals auf Blu-Ray in pracht­voller Qualität (ohne erwäh­nens­werte Extras, die hier auch niemand vermisst) erschienen ist, ist groß­ar­tiges Aben­teu­er­kino, »wie es heute nicht mehr gemacht wird«, jeden­falls zu wenig: Voller Würde und Eleganz, mit Charme und Sinn für die ihm inne­woh­nende Absur­dität.
Weil dieser Film aber nicht nur von den Träumen der Männer erzählt, sondern auch von den Hoff­nungen und Projek­tionen des Westens, stößt er schmerz­haft hinein ins Herz unserer aktu­ellsten Gegenwart: Denn das Scheitern von Peachy und Dravot ist notwendig. Und mit ihnen scheitern wir alle. Huston erzählt mit Kipling, der sich zeit­le­bens als Inder und Fremd­körper im kleinen England fühlte, von der Über­le­gen­heit der nicht­eu­ropäi­schen Kulturen. Wie einige Kommen­ta­toren der vergan­genen Dekade, zuletzt Peter Frankopan in seinem Geschichts­schmöker »Licht aus dem Osten«, verla­gerten Kipling und Huston das Gravi­ta­ti­ons­zen­trum der Welt­ge­schichte nach Osten. So gesehen enthält dieser Film bereits alles, was sich seit der irani­schen Revo­lu­tion von 1979, seit der sowje­ti­schen Invasion Afgha­ni­stans 1980, seit den Golf­kriegen und 9/11 zwischen dem Mittleren Osten und »uns« ereignete. »Der Mann, der König sein wollte« ist ein wunder­barer Film über das Scheitern des Westens.

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Man muss die Leinwand vermut­lich nicht etwa »deko­lo­ni­sieren«, sondern Kolo­nia­lismus dialek­tisch reflek­tieren, wie Huston es tut, damit Filme ihr Erkennt­nis­po­ten­tial entfalten.

Wer mit diesem Beispiel nicht genug hat, dem kann man noch ein paar weitere Filme empfehlen, die Hilfestel­lung geben beim Sondieren der aktuellen Lage. Es gibt Nahe­lie­gendes: Khandahar vom Iraner Mohsen Makhmalbaf etwa, oder Syriana, einen der besten Filme über die Sinn­lo­sig­keit ameri­ka­ni­scher Geheim­dienst­ak­ti­vi­täten, die sich jetzt ja gerade wieder in der Praxis zeigt.

Weniger nahe liegen auf den ersten Blick zwei weitere Lite­ra­tur­ver­fil­mungen: Philip Noyce' The Quiet American, nach Graham Greene und auch mit Michael Caine: Wie die USA aus reiner Naivität in den Viet­nam­krieg hinein­ge­zogen werden.

Die Naivität besteht auch Jahre später oder früher, in Francis Ford Coppolas Apoca­lypse Now, das eigent­lich bekann­ter­maßen eine Verfil­mung von Joseph Conrads Kongo-Story »Heart of Darkness« ist.

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Erinnern wir uns: Zum Klang der »Doors« sehen wir Nebel­schwaden am Ufer eines schier endlosen Flusses. Als sie sich lichten, erkennt man eine Plantage. Colonel Willard, Held, Killer und Unschulds­engel in diesem Film, unter­bricht seine Reise mit ein paar Mann per Boot fluss­auf­wärts und wird für einen Tag und eine Nacht Gast bei den fran­zö­si­schen Plan­ta­gen­be­sit­zern.
Sie erhalten im Dschungel eine Art privates Kolo­ni­al­reich aufrecht: Reiche zerfallen, Invasoren kommen und gehen – was bleibt, sind Luxus, Stil, Drogen und die Liebe, die Kultur eines behag­li­chen Salons, erfüllt von Nostalgie, Konver­sa­tion und Debussy-Klängen.
Unter diesen Franzosen werden die Ameri­kaner endgültig zu Barbaren, und der fran­zö­si­sche Aris­to­krat Hubert de Marais sagt es ihnen auf den Kopf zu: »You don’t under­stand our mentality … Warum sind wir hier? Um unsere Familie zusam­men­zu­halten. Weil wir um das kämpfen wollen, was uns gehört. Ihr Ameri­kaner kämpft lediglich um das größte Nichts in der Geschichte der Mensch­heit.«

Diese Begegnung der alten und der vorü­ber­ge­henden neuen Herren, ein beklem­mendes Dinner mit Silber­be­steck und Smalltalk in der Wildnis, gehört zu den aller­besten Szenen dieses Films; sie zeigt das Herz der Zivi­li­sa­tion inmitten von Chaos und Barbarei des Dschun­gels.

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In der ursprüng­li­chen »Work in Progress«-Fassung von Apoca­lypse Now, die nach dem Gewinn der Goldenen Palme weltweit verbreitet wurde, fehlte sie. Trotzdem ist sie Teil der endgül­tigen Gestalt dieses Meis­ter­werks geworden.
Eines Meis­ter­werks, das zu den seltenen Filmen gehört, die nicht nur fester Bestand­teil im kultu­rellen Kanon der Gegenwart geworden sind, sondern darüber hinaus Eingang ins kollek­tive Bewusst­sein gefunden haben: Die Über­blen­dung vom Venti­lator zum Hubschrau­ber­rotor, der Hubschrau­ber­an­griff zur Kaval­le­rie­trom­pete und Wagners Walkü­ren­ritt, die im Bomben­hagel surfenden GIs am Strand, das Gesicht Marlon Brandos im Dschungel – jeder kennt diese Bilder und Töne. Die bekann­testen Fakten – unglaub­liche 237 Drehtage; die Über­schrei­tung des ursprüng­li­chen Budgets um das Doppelte; Tropen­s­türme, die das Set zerstörten; der Austausch des Haupt­dar­stel­lers Harvey Keitel nach zehn Drehtagen; der Herz­in­farkt seines Ersatzes Martin Sheen – sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Apoca­lypse Now, dem von der Kritik glei­cher­maßen Kriegs­ver­herr­li­chung wie falsch angelegte Kriegs­kritik vorge­worfen wurden (und für beide Vorwürfe gibt es Gründe), verein­facht nie. Gerade dadurch ist diese tiefen­psy­cho­lo­gi­sche brillante Reflexion über den Charakter unserer Zivi­li­sa­tion der richtige Film zur richtigen Zeit.

Wer Colonel Willard auf seinen verschlun­genen Pfaden durch den Dschungel folgt, entdeckt noch etwas anderes: Im Kern ist Apoca­lypse Now, der ursprüng­lich Psycho­delic Soldier heißen sollte, eine Parsi­fal­ge­schichte. Und der heilige Gral, den der tumbe Tor Willard schließ­lich findet, ist nichts anderes als der Faschismus, verkör­pert von Colonel Kurtz.
In diesem Sumpf aus Mythen, Zitaten und Gewalt fungiert Willard als Coppolas listen­rei­ches, verschla­genes Alter Ego, das sich wie Odysseus an den Mast seines Schiffs ketten lässt – denn auf die Sire­nen­ge­sänge will er nicht verzichten.
Wie wir heute, vor den Fern­seh­nach­richten aus Kabul, wie damals 1975 in Saigon: Wenn schon Apoka­lypse, dann möchte man doch wenigs­tens dabei gewesen sein.

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Als ob sie es geahnt hätten: In der ZDF-Mediathek kann man jetzt Philip Leine­manns Film Das Ende der Wahrheit ansehen, und viel­leicht sollten Heiko Maas und Annegret Kramp-Karren­bauer genau das tun: Denn dieser brisante Polit­thriller bringt dann bei allem, was ihn von fran­zö­si­schen, italie­ni­schen und ameri­ka­ni­schen Vorbil­dern unter­scheidet, doch ganz gut auf den Punkt, was bei uns im Hinblick auf außer­eu­ropäi­sche Gebiete und die Außen­po­litik des Westens alles schief­läuft: Irreale Annahmen und Mora­lismus, das Blame-Game, das die Falschen zu Sünden­bö­cken stempelt, und die Unfähig­keit, zu herrschen, die auch eine Unfähig­keit zum Imperium ist. Kipling, Conrad und Greene haben das gewusst, was die Russen und die Chinesen uns jetzt vormachen werden.

Wir Europäer dagegen, wir Deutschen voran, trauen uns noch nocht einmal die nahe­lie­genden Fragen zu stellen: In welche Taschen sind die geschätzten drei Billionen (also 3000 Milli­arden) Dollar gewandert, die der westliche Einsatz seit 2001 nach derzei­tigen Schät­zungen gekostet hat? Warum hat man diese Gelder nicht besser einfach gleich­mäßig in der Bevöl­ke­rung verteilt, anstatt sie in die Taschen der Warlords und Clan­führer zu spülen?
Vor allem aber: Wer finan­ziert eigent­lich die Taliban? Wer rüstet sie aus? Die Antwort würde lauten: Nicht Russen, China, der Iran. Die werden sich hüten. Sondern unsere Verbün­deten: Pakistan, die Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Aber da wollen wir ja nächstes Jahr Fußball-WM feiern.

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»The Great Game« nannte man im 19. Jahr­hun­dert das imperiale Ringen zwischen dem briti­schen Empire und dem Zaren­reich um Zentral­asien.
Kaum zu glauben, dass es schon 14 Jahre her ist, dass Mike Nichols seinen letzten Film gedreht hat, die bittere wahre Komödie Charlie Wilson’s War, in der er vom neuen »Great Game« unseres Zeital­ters erzählt, dessen neuesten Feldzug der Westen jetzt verloren hat. Der Film zeigt, wie die USA zum Geburts­helfer des neuesten isla­mis­ti­schen Terrors wurden und man seinen heutigen Feind an der eigenen Brust nährte.

(to be continued)