![Jean Painlevé](tierfilme/PAINLEVE.jpg)
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Jean Painlevé
Der Surrealismus
war gefräßig, er konnte nicht genug kriegen von der Wirklichkeit.
Von der um ihn herum, dem Leben in den Vierteln von Paris, aber auch von
der, die er am andern Ende der Welt vermutete - in fernen Ländern,
exotischen Regionen.
Jean Painlevé, 1902 geboren, 1989 gestorben, hat seinen Surrealismus
ins Meer verlegt, in die Welt der ozeanischen Gefühle. Auf den richtigen
Weg gebracht hat ihn die Schulschwänzerei, eines Tages hat er sich
geweigert, weiter den Unterricht zu besuchen - und um den Vater zu täuschen
hat er in der Früh zwar das Haus verlassen, den Tag aber im Jardin
des Plantes verbracht. Nicht daß er sich mit dem Vater nicht verstanden
hätte - Paul Painlevé war ein Linker, ist Minister für
Erziehung, Krieg und Luftfahrt gewesen und wurde vom Sohn immer wieder
spontan vorgeschickt, wenn es galt, den Freunden zu helfen aus irgendeiner
politischen Misere.
Die Schwänzerei hat den Blick, den Rhythmus geprägt für
Jean, auf Lebenszeit. Das lange Warten, das geduldige Schauen - Jahre
der Arbeit an einzelnen Projekten sind bei ihm in zehn Minuten Film komprimiert.
Das macht die Bilder zum Platzen voll, die er seinen Zuschauern anbringt,
den Kollegen in der Wissenschaft und dem Publikum der Kinos. Painlevé
hat die Tiere des Meeres gefilmt, eine Kette von Einzelporträts,
die irgendwie ein phantasmagorisches kleines Universum ergeben: Seespinnen
und Gespenstkrabben, Asselspinnen und Seepferdchen, Süßwassermörder
und
Seeigel, Garnelen und Akera: "Bei den Kugelschnecken, den Akera -
Zwittern, die bei der Kopulation eine Kette bilden - übernimmt das
Tier am Anfang die Rolle des Weibchens, das am Ende die Rolle des Männchens.
Die Tiere dazwischen spielen eine Doppelrolle: Weibchen für das folgende
Tier, Männchen für das vorhergehende."
Die Vermehrung steht immer wieder im Mittelpunkt dieser Filme, die Kopulation,
die Fortpflanzung. Painlevé liebt den Überschuß, das
Kino ist für ihn auch eine Kunst der Verschwendung, der unaufhörlichen
Verwandlungen. Manchmal, wenn die Tierchen miteinander zu kommunizieren
versuchen, scheinen die Formen sich aufzulösen, entsteht in seinen
Filmen ein Gemenge von Farben und Klängen und Tönen.
Er hat wissenschaftliche Institute gleichermaßen wie filmische Organisationen
geleitet in seinem Leben, hat sich für die linke Regierung vor dem
Weltkrieg engagiert und in der Résistance gekämpft. Und ist
Surrealist geblieben mit Leib und Seele. Und hat gezeigt, der Surrealismus
war nicht nur ein verspielter Schnickschnack, ein literarisch selbstverliebtes
Gesellschaftsspiel. Der Surrealismus war ein seriöses, ein wissenschaftliches
Projekt. Die aquatische Tradition des Kinos, sagt Frieda Grafe: "Die
Transparenz, genau die bekommt man zu sehen in Painlevés Filmen
... es ist ein positiv Unheimliches, das der Appparat ans Licht bringt",
schreibt sie in ihrem Text Ein Wilderer: "Das Wasser konkretisiert,
es dokumentiert das Verlangen zu sehen, die Lust des Wissenschaftlers,
seine Skopophilie und, o Wunder! die Unsichtbarkeit des Unbewußten.
In Sachen Wunder, schrieb Eisenstein an Painlevé, halte ich Sie
für den einzigen ernsthaften Konkurrenten der Muttergottes von Lourdes."
Sehen machen, das war das große Programm für Painlevé
und für das große Biotop des französischen Vorkriegssurrealismus
- Breton und Cocteau, Desnos und Vigo. Als einziger von ihnen harrt er
weiter der Entdeckung, der Würdigung. Mit seinem Tauchkamera-Apparat
wirkt er inzwischen wieder ganz modern, wie einer der Cyberspace-Freaks
heute, und manche seiner submarinen Aufnahmen sehen aus wie Fantasmen
eines Tauchers, der Schwierigkeiten mit der Sauerstoffzufuhr bekommen
hat.
Vor Tausenden Eiern platzende Körper, schwellende Tentakel, mit Gelatine
sichtbare Qualleninnereien - die Grenzen zwischen der Wissenschaft und
der Imagination, zwischen Wirklichkeit und Traum verschwimmen, und die
Wirklichkeit zeigt ihre halluzinativen Momente.
Das Wasser hat einen merkwürdigen Schimmer in den Bildern von Painlevé,
und man hat eine Ahnung von nietzscheanischer Klarheit. Und mitten in
dem Gewimmel von Kopulation und Kommunikation, in diesem Chaos von Gebärden
und Gebären plötzlich der große Einzelgänger. Der
Einsame, der Solitär. Der Vampir, in dessen Kuß Schrecken und
Zärtlichkeit sich mischen, und dessen Gruß unmißverständlich
ist. Gefilmt im Jahr 1939, im Rhythmus von Duke Ellingtons Echos, in der
Ahnung des Krieges, der kommen wird. Auch das ist Surrealismus, auch das
ist Painlevé, die Vermählung von Politik und Poesie.
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