|
Die Erkenntnis, Kino sei eine Traum- und damit auch
Alptraumfabrik, ist nicht neu. Doch wer es darauf beschränkt,
entschärft die Macht der Bilder, verkennt, dass das Kino noch mehr
als das auch eine Denkfabrik ist, Instrument, um in Bildern wie
Worten eine Sprache zu finden für das bisher Undenkbare,
Unvorstellbare, Unaussprechliche. Einübung ins Neue. Produktion
ungesehener Bilder.
Selten ist das so klar geworden wie an jenem 11.September, den
die heute Erwachsenen kaum je wieder ganz aus ihrem Gedächtnis
werden streichen können. Was da an den Bildschirmen plötzlich zu
sehen war, schien unglaublich. Nicht wenigen, die versuchten dieses
in Worte zu fassen, schien es als einziges adäquat, zu sagen: "Wie
im Kino". Es verrät viel über Rang und Bedeutung des Films in
unserer visuellen Kultur, dass kaum einer sagte: "wie gemalt". Auch
Vergleiche mit Videospielen oder Operninszenierungen blieben in der
Regel aus. Wo das Fernsehen in unserer Gegenwart für das
visuelle Herstellen von Vertrautheiten, für Normalität und die
ewige Wiederholung des Immergleichen zuständig ist - und diese
Aufgabe auch nach dem 11.September perfekt erfüllte, indem es die
Bilder des Terrors immer aufs Neue wiederholte, und durch Analysen
und Diskussionen einordnete, zunehmend auch regulierte (also
bestimmte Bilder vervielfältigte, andere verbannte) bis sie
allmählich zur Gewohnheit wurden, ja: das Publikum langweilten -,
beherrscht der Film seit einem Jahrhundert die Domäne des
Außergewöhnlichen, Extremen, Unbekannten - kurz: der Phantasien,
mit denen wir alle unseren Alltag variieren und kritisieren, ihn in
Frage stellen und zu überbieten versuchen, oder einfach vor ihm
fliehen, in andere Welten, oder ins Reich der inneren Abgründe.
Einige dieser Phantasien wurden am 11. September wahr. Und wenn das
Kino sich in diesem Sinn bestätigt hat als Medium für Prognose und
für die Einübung in zukünftige Wahrnehmungen - was gezeigt werden
kann, wird auch gemacht werden -, aber damit auch als Medium der
Verständigung einer Gesellschaft und Kultur mit sich selber, dann
lohnt es sich, noch einmal hinzuschauen, und dem nachzuspüren, was
da, weit über die vielfach erwähnten, zerberstenden Hochhäuser
hinaus noch alles zu sehen ist.
Mit zerstörerischen Angriffen auf Großstädte beschäftigte sich
das Kino der 90er oft. In Filmen wie INDEPENDENCE DAY, DEEP IMPACT oder ARMAGEDDON war es das ganz
Andere, dass angriff: Aliens oder ein Meteoritenschwarm,
unsichtbar, unkontrollierbar. Es traf vor allem die Ostküste und
manch einer spürte darin über ganz bewusst sich Luft machende
politische Abneigung und heimliche Ängste vor dem Unbekannten
hinaus auch etwas von der Verachtung der Filmindustrie in
Kalifornien gegenüber der "intellektuellen", "europäischen"
Metropole, dem modernen Babylon - klassische Großstadtfeindschaft
also seitens einer Regisseursgeneration, die vor allem aus
ländlichen Regionen stammt, und die hier einmal etwas von der
Geringschätzung zurückgab, die sie in New York erfuhr. Ausgerechnet
der Deutsche Roland Emmerich zerstörte New York gleich doppelt, als
er zwei Jahre nach INDEPENDENCE DAY das Monster GODZILLA aus Japan nach
Amerika verpflanzte und durch Manhattan watscheln ließ. Man könnte
leicht belegen: Wir haben uns Vergleichbares wie den 11.September
längst vorgestellt. Wirklich überraschen konnte uns daran wenig,
vielmehr erwies sich das Kino wieder einmal als Werkzeug dessen,
was einst Robert Musil einforderte: "Wenn es einen
Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn
geben."
Die Frage, ob und inwieweit die "fiktiven" Bilder auf der
Leinwand nun am Ende auch den "realen" Terror inspirierten, hat
Konjunktur - wieder einmal. Diese Diskussion, die sich in
verschiedener Variation nach jeder größeren Gewalttat wiederholt,
ist dort naiv, wo tatsächlich geglaubt wird, Filme ließen sich als
Gebrauchsanweisung und Rezept lesen, oder man annimmt, sie könnten
überhaupt zum Auslöser für Taten werden. Wenn derzeit der Film
imitiert wird, dann geschieht dies - Thoimas Willman hat es bereits
an dieser Stelle geschrieben - eher auf Seiten der US-Regierung,
deren Rhetorik derzeit dem einfachsten aller Film-Plots folgt: dem
des "monumentalen Kampfs des Guten gegen das Böse" (George W.
Bush). Das brennende World Trade Center erscheint da plötzlich wie
der Trailer zu einem besonders spannenden Thriller mit garantiertem
Happy-End, der Präsident wird zum
größten Held der Nation. Und hier mag der Fehler liegen, in
der auch durch Kino geschürten Unfähigkeit, die Ereignisse anders
zu begreifen und zu interpretieren, denn als dramaturgischen Kniff,
der unweigerlich doch einen Sinn hat, indem er auf etwas zuführt,
das "gut ausgeht", in der Unfähigkeit einen schlechten Ausgang,
oder - schlimmer noch - die Möglichkeit, dass es immer so
weitergehen könnte, überhaupt auch nur zu denken. Doch auch dies
alles teilt das Kino mit den Handlungsmustern, die aus Roman,
Märchen und Religion vertraut sind - man darf eben nicht vergessen,
dass der Film nichts anderes ist, als ein moderner Mythos, der
neueste Ausdruck des alten Spiels der Archetypen. Paul Virilio
hat schon früher in anderen Zusammenhängen vom "Zwang zum Sehen"
gesprochen, der unsere Gegenwartskultur durchdringe, und von der
zwangsläufigen Folge, dass es nämlich immer schwerer wird, an die
Realität des Sichtbaren zu glauben, nicht auch die
zusammenstürzenden Zwillingstürme nur als faszinierendes Bild, als
nun sichtbar gewordenes Phantasma wahrzunehmen, bestenfalls als
extraordinäres Symbol. Sich das Leid und seine Dimension aber
tatsächlich bewusst zu machen scheint unmöglich, und das nicht nur
aufgrund seiner Quantität - obwohl die Werbeweisheit "Size does
matter" sich hier aufs Brutalste bewahrheitet.
Es gibt eine Tendenz, neuerdings auch im Film nach der
Glaubwürdigkeit der Bilder zu fragen, ihren Scheincharakter zum
Thema zu machen. Es hat etwas Paranoides, wenn die Helden von TRUMAN SHOW oder MATRIX ihrer Umwelt zu
misstrauen beginnen, schließlich entdecken, dass sie selbst nur
Spielfiguren in einem so unendlichen wie künstlichen Paradies sind.
Was folgt, ist jeweils ein erfolgreicher Aufstand, der das Pathos,
mit dem die existentialistischen Prometheus-Nachfolger gegen Gott
revoltieren, ebenso in sich birgt, wie das neoliberale Ideal eines
Menschen, der eine Freiheit mit Blut, Schweiß und Tränen dem
stärker regulierten Glück des Sozialstaats vorzieht. Auf die
derzeitigen Ereignisse bezogen sind diese Filme aber auch Ausdruck
eines schlechten Gewissens, der eher unterbewusst formulierte
Einsicht, wie irreal, wie fern der Nöte der allermeisten übrigen
Menschen das Leben in der westlichen Zivilisation doch ist. Analyse
von Entfremdungsprozessen. Und einmal mehr die Hoffnung auf ein
Anderes, "Ursprünglicheres", "Wahrhaftigeres", die alle
Zivilisation seit jeher begleitet. In solchen Vorstellungen
verbirgt sich aber nicht nur die positive Sehnsucht jeder
Zivilisation nach einem Paradies, in dem ihre Entzweiungen
aufgehoben sind. Stärker als zuvor machen Filme der letzten Jahre
in versteckter Form auch einen Überdruss an der Zivilisation, einen
heimlichen Affekt moderner Gesellschaften gegen sie zum Thema, der
nun - vor dem Hintergrund der neuesten Attentate noch weniger
unschuldig erscheint, als zuvor.
Waren einst Hollywood-Helden nämlich quasi selbstverständlich
Verteidiger einer Zivilisation, die unter anderem auch als
Rechtsordnung und komplexe Gesellschaft verstanden wurde, stellen
einige der erfolgreichsten Filme der letzten Jahre plötzlich
barbarische Helden ins Zentrum, Figuren, die genau gegen das ins
Feld ziehen, was man gemeinhin mit "Zivilisation" konnotiert:
unübersichtliche Verhältnisse, Gesellschaften, in denen Konflikte
in Diskurse und Gesetze verwandelt wurden. Mit Stallones RAMBO,
einem von den Institutionen verratenen Einzelkämpfer begann, was in
BRAVEHEART, GLADIATOR, dem
PATRIOT auf die Spitze
getrieben wurde: Der Held ist plötzlich ein im Wald geläuterter
Zivilist, Gerechtigkeit wird verstanden als etwas, dass man eher in
der Natur, im Männerbund, in sich selbst in "Freiheit" findet,
nicht in Kultur und Gesellschaft. Seine Gegner sind "Rom" oder
"England" - kulturhistorisch die beiden Inbegriffe des
Zivilisatorischen, das in diesen Filmen plötzlich als dekadent
verstanden wird. Man könnte leicht detailliert zeigen, wie sehr
sich diese Helden zum Beispiel von den Hollywood-Römern der 50er
unterscheiden, wie hier plötzlich ein Filmheld der klassischen
Ikonographie des Anarchisten und damit auch Terroristen
nahekommt.
Subtiler und im vollen Bewusstsein aller Abgründigkeit geschah
das auch in David Finchers großartigem FIGHT CLUB (an dessen Ende
übrigens eine Reihe von Wolkenkratzern gesprengt werden - und es
bleibt unklar, ob hier die Hauptfigur ihre letzte Schreckentat
vollbringt, oder nur phantasiert). Hier immerhin - und schon das
macht den Unterschied zu den anderen erwähnten Filmen - liegt der
Konflikt innerhalb einer Gesellschaft, wird nach dem Barbarischen
innerhalb der modernen Zivilisation gefragt. Und das dort
ungebrochene Helden vorgestellt würden, kann auch keiner behaupten.
So kommt FIGHT CLUB der Realität etwa des inzwischen hingerichteten
Attentäters von Oklahoma, Timothy McVeigh erschreckend nahe.
Man sieht, dass das Kino zu heutigen Fragestellungen weit mehr zu
zeigen hat, als nur Zerstörungen, die jetzt erstmals durch die
Wirklichkeit eingeholt wurden. Darum irren auch all jene, die mit
Wim Wenders jetzt wohl ernsthaft glauben, so etwas wie Einkehr,
Umkehr gar werde in Hollywood oder irgendwo anders auf der welt
einsetzen, man könne "gewisse Bilder" jetzt nicht mehr zeigen.
Falsch: gerade jetzt. Die Behauptung sei gestattet, dass es
tendenziell mehr solche Filme, mehr Terroristenstoffe und mehr
zerberstende Hochhäuser im US-Kino geben wird. Vielleicht nicht
sofort. Vielleicht außer mit Zeitverzögerung auch mit räumlicher
Versetzung, also zunächst getarnt als Science Fiction, Kostümfilm a
la Pearl Harbor, als Horror und Monsterstoff. Die Mysterys der
letzten Jahre werden weniger esoterisch, dafür visuell gewaltsamer
werden. Film ist eben nicht Flucht aus der Gegenwart, sondern
Diskurs über sie Organisation von Wahnehmung und Reaktion auf
Wahrnehmungsereignisse.
Ein letztes Beispiel dafür ist ein zu Unrecht unterschätzter
Film, der sich bereits 1998 das Szenario einer terroristischen
Bedrohung New Yorks zum Thema hatte: THE SIEGE von Edward
Zwick, der in Deutschland unter dem Titel AUSNAHMEZUSTAND lief.
Hierin geht es um das, was Terror mit einer Gesellschaft machen
kann: Eine Serie von Terroranschlägen durch fundamentalistische
Islamisten führt zur Verhängung des Kriegsrechts in den USA. Panzer
rollen über die Brooklyn-Bridge, arabische Amerikaner werden
interniert. Während Denzel Washington als FBI-Agent letztlich den
Rechtssaat rettet, zeigt Bruce Willis in einer seiner abgründigsten
Rollen als usurpatorischer Armee-General, dass der schlimmste
Angriff auf die Zivilität von denen kommt, die in kritischen
Situationen bereit sind, rechtsstaatliche Prinzipien zu opfern.
Auch diese Fiktionen enthalten mögliche Gegenwart. Wie
mögliche Zukunft: In Spielbergs A.I. - ARTIFICIAL INTELLIGENCE sieht man New York nach der
Katastrophe. Überall ewiges Eis. Nur die Ruinen des World Trade
Center ragen noch hervor.
Rüdiger
Suchsland
|