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Was gezeigt werden kann, wird auch gemacht werden
Wie das Kino unsere Wahrnehmung des Terrors organisiert

  27.09.2001
 
 
 
 

Die Erkenntnis, Kino sei eine Traum- und damit auch Alptraumfabrik, ist nicht neu. Doch wer es darauf beschränkt, entschärft die Macht der Bilder, verkennt, dass das Kino noch mehr als das auch eine Denkfabrik ist, Instrument, um in Bildern wie Worten eine Sprache zu finden für das bisher Undenkbare, Unvorstellbare, Unaussprechliche. Einübung ins Neue. Produktion ungesehener Bilder.

Selten ist das so klar geworden wie an jenem 11.September, den die heute Erwachsenen kaum je wieder ganz aus ihrem Gedächtnis werden streichen können. Was da an den Bildschirmen plötzlich zu sehen war, schien unglaublich. Nicht wenigen, die versuchten dieses in Worte zu fassen, schien es als einziges adäquat, zu sagen: "Wie im Kino". Es verrät viel über Rang und Bedeutung des Films in unserer visuellen Kultur, dass kaum einer sagte: "wie gemalt". Auch Vergleiche mit Videospielen oder Operninszenierungen blieben in der Regel aus.
Wo das Fernsehen in unserer Gegenwart für das visuelle Herstellen von Vertrautheiten, für Normalität und die ewige Wiederholung des Immergleichen zuständig ist - und diese Aufgabe auch nach dem 11.September perfekt erfüllte, indem es die Bilder des Terrors immer aufs Neue wiederholte, und durch Analysen und Diskussionen einordnete, zunehmend auch regulierte (also bestimmte Bilder vervielfältigte, andere verbannte) bis sie allmählich zur Gewohnheit wurden, ja: das Publikum langweilten -, beherrscht der Film seit einem Jahrhundert die Domäne des Außergewöhnlichen, Extremen, Unbekannten - kurz: der Phantasien, mit denen wir alle unseren Alltag variieren und kritisieren, ihn in Frage stellen und zu überbieten versuchen, oder einfach vor ihm fliehen, in andere Welten, oder ins Reich der inneren Abgründe.
Einige dieser Phantasien wurden am 11. September wahr. Und wenn das Kino sich in diesem Sinn bestätigt hat als Medium für Prognose und für die Einübung in zukünftige Wahrnehmungen - was gezeigt werden kann, wird auch gemacht werden -, aber damit auch als Medium der Verständigung einer Gesellschaft und Kultur mit sich selber, dann lohnt es sich, noch einmal hinzuschauen, und dem nachzuspüren, was da, weit über die vielfach erwähnten, zerberstenden Hochhäuser hinaus noch alles zu sehen ist.

Mit zerstörerischen Angriffen auf Großstädte beschäftigte sich das Kino der 90er oft. In Filmen wie INDEPENDENCE DAY, DEEP IMPACT oder ARMAGEDDON war es das ganz Andere, dass angriff: Aliens oder ein Meteoritenschwarm, unsichtbar, unkontrollierbar. Es traf vor allem die Ostküste und manch einer spürte darin über ganz bewusst sich Luft machende politische Abneigung und heimliche Ängste vor dem Unbekannten hinaus auch etwas von der Verachtung der Filmindustrie in Kalifornien gegenüber der "intellektuellen", "europäischen" Metropole, dem modernen Babylon - klassische Großstadtfeindschaft also seitens einer Regisseursgeneration, die vor allem aus ländlichen Regionen stammt, und die hier einmal etwas von der Geringschätzung zurückgab, die sie in New York erfuhr. Ausgerechnet der Deutsche Roland Emmerich zerstörte New York gleich doppelt, als er zwei Jahre nach INDEPENDENCE DAY das Monster GODZILLA aus Japan nach Amerika verpflanzte und durch Manhattan watscheln ließ. Man könnte leicht belegen: Wir haben uns Vergleichbares wie den 11.September längst vorgestellt. Wirklich überraschen konnte uns daran wenig, vielmehr erwies sich das Kino wieder einmal als Werkzeug dessen, was einst Robert Musil einforderte: "Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben."

Die Frage, ob und inwieweit die "fiktiven" Bilder auf der Leinwand nun am Ende auch den "realen" Terror inspirierten, hat Konjunktur - wieder einmal. Diese Diskussion, die sich in verschiedener Variation nach jeder größeren Gewalttat wiederholt, ist dort naiv, wo tatsächlich geglaubt wird, Filme ließen sich als Gebrauchsanweisung und Rezept lesen, oder man annimmt, sie könnten überhaupt zum Auslöser für Taten werden. Wenn derzeit der Film imitiert wird, dann geschieht dies - Thoimas Willman hat es bereits an dieser Stelle geschrieben - eher auf Seiten der US-Regierung, deren Rhetorik derzeit dem einfachsten aller Film-Plots folgt: dem des "monumentalen Kampfs des Guten gegen das Böse" (George W. Bush). Das brennende World Trade Center erscheint da plötzlich wie der Trailer zu einem besonders spannenden Thriller mit garantiertem Happy-End, der Präsident wird zum größten Held der Nation. Und hier mag der Fehler liegen, in der auch durch Kino geschürten Unfähigkeit, die Ereignisse anders zu begreifen und zu interpretieren, denn als dramaturgischen Kniff, der unweigerlich doch einen Sinn hat, indem er auf etwas zuführt, das "gut ausgeht", in der Unfähigkeit einen schlechten Ausgang, oder - schlimmer noch - die Möglichkeit, dass es immer so weitergehen könnte, überhaupt auch nur zu denken. Doch auch dies alles teilt das Kino mit den Handlungsmustern, die aus Roman, Märchen und Religion vertraut sind - man darf eben nicht vergessen, dass der Film nichts anderes ist, als ein moderner Mythos, der neueste Ausdruck des alten Spiels der Archetypen.
Paul Virilio hat schon früher in anderen Zusammenhängen vom "Zwang zum Sehen" gesprochen, der unsere Gegenwartskultur durchdringe, und von der zwangsläufigen Folge, dass es nämlich immer schwerer wird, an die Realität des Sichtbaren zu glauben, nicht auch die zusammenstürzenden Zwillingstürme nur als faszinierendes Bild, als nun sichtbar gewordenes Phantasma wahrzunehmen, bestenfalls als extraordinäres Symbol. Sich das Leid und seine Dimension aber tatsächlich bewusst zu machen scheint unmöglich, und das nicht nur aufgrund seiner Quantität - obwohl die Werbeweisheit "Size does matter" sich hier aufs Brutalste bewahrheitet.

Es gibt eine Tendenz, neuerdings auch im Film nach der Glaubwürdigkeit der Bilder zu fragen, ihren Scheincharakter zum Thema zu machen. Es hat etwas Paranoides, wenn die Helden von TRUMAN SHOW oder MATRIX ihrer Umwelt zu misstrauen beginnen, schließlich entdecken, dass sie selbst nur Spielfiguren in einem so unendlichen wie künstlichen Paradies sind. Was folgt, ist jeweils ein erfolgreicher Aufstand, der das Pathos, mit dem die existentialistischen Prometheus-Nachfolger gegen Gott revoltieren, ebenso in sich birgt, wie das neoliberale Ideal eines Menschen, der eine Freiheit mit Blut, Schweiß und Tränen dem stärker regulierten Glück des Sozialstaats vorzieht.
Auf die derzeitigen Ereignisse bezogen sind diese Filme aber auch Ausdruck eines schlechten Gewissens, der eher unterbewusst formulierte Einsicht, wie irreal, wie fern der Nöte der allermeisten übrigen Menschen das Leben in der westlichen Zivilisation doch ist. Analyse von Entfremdungsprozessen. Und einmal mehr die Hoffnung auf ein Anderes, "Ursprünglicheres", "Wahrhaftigeres", die alle Zivilisation seit jeher begleitet. In solchen Vorstellungen verbirgt sich aber nicht nur die positive Sehnsucht jeder Zivilisation nach einem Paradies, in dem ihre Entzweiungen aufgehoben sind. Stärker als zuvor machen Filme der letzten Jahre in versteckter Form auch einen Überdruss an der Zivilisation, einen heimlichen Affekt moderner Gesellschaften gegen sie zum Thema, der nun - vor dem Hintergrund der neuesten Attentate noch weniger unschuldig erscheint, als zuvor.

Waren einst Hollywood-Helden nämlich quasi selbstverständlich Verteidiger einer Zivilisation, die unter anderem auch als Rechtsordnung und komplexe Gesellschaft verstanden wurde, stellen einige der erfolgreichsten Filme der letzten Jahre plötzlich barbarische Helden ins Zentrum, Figuren, die genau gegen das ins Feld ziehen, was man gemeinhin mit "Zivilisation" konnotiert: unübersichtliche Verhältnisse, Gesellschaften, in denen Konflikte in Diskurse und Gesetze verwandelt wurden. Mit Stallones RAMBO, einem von den Institutionen verratenen Einzelkämpfer begann, was in BRAVEHEART, GLADIATOR, dem PATRIOT auf die Spitze getrieben wurde: Der Held ist plötzlich ein im Wald geläuterter Zivilist, Gerechtigkeit wird verstanden als etwas, dass man eher in der Natur, im Männerbund, in sich selbst in "Freiheit" findet, nicht in Kultur und Gesellschaft. Seine Gegner sind "Rom" oder "England" - kulturhistorisch die beiden Inbegriffe des Zivilisatorischen, das in diesen Filmen plötzlich als dekadent verstanden wird. Man könnte leicht detailliert zeigen, wie sehr sich diese Helden zum Beispiel von den Hollywood-Römern der 50er unterscheiden, wie hier plötzlich ein Filmheld der klassischen Ikonographie des Anarchisten und damit auch Terroristen nahekommt.

Subtiler und im vollen Bewusstsein aller Abgründigkeit geschah das auch in David Finchers großartigem FIGHT CLUB (an dessen Ende übrigens eine Reihe von Wolkenkratzern gesprengt werden - und es bleibt unklar, ob hier die Hauptfigur ihre letzte Schreckentat vollbringt, oder nur phantasiert). Hier immerhin - und schon das macht den Unterschied zu den anderen erwähnten Filmen - liegt der Konflikt innerhalb einer Gesellschaft, wird nach dem Barbarischen innerhalb der modernen Zivilisation gefragt. Und das dort ungebrochene Helden vorgestellt würden, kann auch keiner behaupten. So kommt FIGHT CLUB der Realität etwa des inzwischen hingerichteten Attentäters von Oklahoma, Timothy McVeigh erschreckend nahe.

Man sieht, dass das Kino zu heutigen Fragestellungen weit mehr zu zeigen hat, als nur Zerstörungen, die jetzt erstmals durch die Wirklichkeit eingeholt wurden. Darum irren auch all jene, die mit Wim Wenders jetzt wohl ernsthaft glauben, so etwas wie Einkehr, Umkehr gar werde in Hollywood oder irgendwo anders auf der welt einsetzen, man könne "gewisse Bilder" jetzt nicht mehr zeigen. Falsch: gerade jetzt. Die Behauptung sei gestattet, dass es tendenziell mehr solche Filme, mehr Terroristenstoffe und mehr zerberstende Hochhäuser im US-Kino geben wird. Vielleicht nicht sofort. Vielleicht außer mit Zeitverzögerung auch mit räumlicher Versetzung, also zunächst getarnt als Science Fiction, Kostümfilm a la Pearl Harbor, als Horror und Monsterstoff. Die Mysterys der letzten Jahre werden weniger esoterisch, dafür visuell gewaltsamer werden. Film ist eben nicht Flucht aus der Gegenwart, sondern Diskurs über sie Organisation von Wahnehmung und Reaktion auf Wahrnehmungsereignisse.

Ein letztes Beispiel dafür ist ein zu Unrecht unterschätzter Film, der sich bereits 1998 das Szenario einer terroristischen Bedrohung New Yorks zum Thema hatte: THE SIEGE von Edward Zwick, der in Deutschland unter dem Titel AUSNAHMEZUSTAND lief. Hierin geht es um das, was Terror mit einer Gesellschaft machen kann: Eine Serie von Terroranschlägen durch fundamentalistische Islamisten führt zur Verhängung des Kriegsrechts in den USA. Panzer rollen über die Brooklyn-Bridge, arabische Amerikaner werden interniert. Während Denzel Washington als FBI-Agent letztlich den Rechtssaat rettet, zeigt Bruce Willis in einer seiner abgründigsten Rollen als usurpatorischer Armee-General, dass der schlimmste Angriff auf die Zivilität von denen kommt, die in kritischen Situationen bereit sind, rechtsstaatliche Prinzipien zu opfern. Auch diese Fiktionen enthalten mögliche Gegenwart.
Wie mögliche Zukunft: In Spielbergs A.I. - ARTIFICIAL INTELLIGENCE sieht man New York nach der Katastrophe. Überall ewiges Eis. Nur die Ruinen des World Trade Center ragen noch hervor.

Rüdiger Suchsland

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