Im Wolkenkuckucks-heim der Hochhausfelder |
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Zweifacher Gewinner: Für Scherbenpark von Bettina Blümner gab es den Drehbuch- und Darstellerinnenpreis |
»Shot on location in West-Berlin.« Das steht im Nachspann dieses Films aus dem Jahr 2012. Die provokative Ironie in Dragan Wende West Berlin macht Sinn: Nach einer guten Dekade mit viel Ostalgie wendet sich das deutsche Kino nun den westdeutschen Migrationshintergründen zu. In wenigen Wochen wird man das im Kino erleben, in der BRD-Tour-de-Force Quellen des Lebens, dem neuen Film von Oskar Roehler, dem bei der 34. Ausgabe des
deutschsprachigen »Festival Max-Ophüls-Preis« in Saarbrücken die diesjährige Werkschau gewidmet war. Aber auch die Filme junger Regisseure untersuchen plötzlich explizit Westdeutsches: Lena Müller und Dragan von Petrovic erzählen in ihrem Debüt das Leben von Dragan und seinen Freunden, Jugoslawen, die im West-Berlin der 70er und 80er Jahre von Türstehern zu kleinen Fürsten des Nachtlebens wurden. Der jugoslawische Pass war »der beste der Welt«, denn man konnte die Mauer in
beide Richtungen unbehelligt überqueren, konnte dealen und schmuggeln, was das Zeug hielt. Es gab Frauen, Drogen und Champagner im Überfluss – aber ab 1990 war es mit dem Glück schnell vorbei. Heute arbeitet Dragan wieder als Türsteher in Wilmersdorfer Puffs, und ist froh, wenn das Geld für Bier und Wodka reicht – aber immer noch trägt er weiße Slipper zum leicht beschmuddelten weißen Anzug, hält die Kippe lässig in der Linken; ein cooler Drifter »lost in
transition«.
Dragan Wende West Berlin, der am Samstag in Saarbrücken verdient den Dokumentarfilmpreis gewann, ist eine spannende, sehr gelungene Archäologie des vergessenen Berlin des Kalten Kriegs in Zeiten des Tauwetters, und vergisst auch das Ost-Berliner Nachtleben nicht, »Coco Loco« und Palace-Hotel, wo die Transitgäste sich austobten...
»Germany? Mausetot.« sagt er dann »Ich bau 'ne neue Mauer, 10 Meter höher. ... Der Geruch [im Osten] wird 100
Jahre bleiben.«
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Asphaltstadt. Eine weitere zu wenig sichtbare Seite Berlins zeigt der vom Theater bekannte Nuran David Calis: Seinen Woyzeck hat er da gedreht, wo Berlin noch wie New York aussieht: Im Wedding im Sommer. Büchner meets Taxi Driver in diesem apokalyptischen Strudel aus Weltuntergangsphantasie und Paranoia, und das im Stück viel verwendete Wort Moral bekommt plötzlich eine andere Bedeutung, wenn es in einen moslemisch-fundamentalistischen Kontext gestellt wird. Tom Schilling spielt diesen »Woyzeck« der Asphaltstädte als verschwitzten Gegenpol seines Oh Boy-Dandys, Nora von Waldstättens Marie ist ein hilfloser Engel der Straße.
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Verhältnismäßigkeit der Mittel. »Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstösst« – kein Geringerer als Heinrich von Kleist schrieb dies, und gleich doppelt zitiert es Aron Lehmann, Student an der HFF Potsdam, in Kohlhaas oder Die Verhältnismassigkeit der Mittel (Publikumspreis) – einem nicht weniger rasanten, nicht weniger originellen Zugang zu einem klassischen Stoff und eine der leider viel zu wenigen erwachsenen Komödien – nicht zu verwechseln mit Klamotten – im deutschen Gegenwartskino. Lehmanns Film ist nicht etwa die textgetreue Kleist-Verfilmung, die der Titel erwarten lässt. Doch dies ist eine geistreiche Variation und Aktualisierung des Kleist-Stoffes, die weit mehr mit dem Geist dieser klassischen Geschichte um einen Einzelnen zu tun hat, der eine ihm widerfahrene Ungerechtigkeit nicht akzeptieren will, und darüber vom sympathischen Idealisten zum zornigen Wüterich wird, als manch brave Nacherzählung. Hauptfigur ist in diesem Fall der von Robert Gwisdeck intensiv gespielte Regisseur, dem am ersten Drehtag einer epischen Kleist-Verfilmung die Finanzierung platzt. Doch er dreht weiter, mit dem übrig gebliebenen Teil des Teams, ohne Geld und große Ausstattung, mit Hilfe einiger Dorfbewohner. In einer Mischung aus Terry Gilliams Fimkatatstrophendoku Lost in La Mancha und Truffauts Amerikanischer Nacht gelingt Lehmann eine subtile Reflexion des deutschen Films in seiner gegenwärtigen Lage zwischen Kunstanspruch, Geldnot und Dilettantismus. Kohlhaas... ist sehr witzig, und nur gelegentlich zu albern, ohne aber Kleists Abgründigkeit je zu verraten.
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Idealismus und innere Widersprüche. Wie bei diesem, so fiel bei vielen Filmen eine neue Lust am Improvisieren auf. Mitunter ist diese auch schierem Geldmangel geschuldet: Das gilt für Freiland vom Berliner Moritz Laube, ein origineller Versuch, sich dem politischen Themenfeld rund um »Occupy«, Piraten und Krisendiagnose anzunehmen. Ein gescheiterter Lehrer und ein Krisen-Wanderprediger gründen irgendwo südlich vor den Toren Berlins einen eigenen Gegen-Staat um der Krise zu trotzen. Schnell finden sich dort allerlei schräge Typen und Gescheiterte ein, noch schneller implodiert der Idealismus – mag dies nun am Ende an der vom Dorfbürgermeister eingeschleusten blonden Spionin liegen oder an den bekannten »inneren Widersprüchen« namens Unterversorgung und Reproduktionskrise. Freiland, den man auch als späte DDR-Parodie verstehen kann, funktioniert gut als Satire, verschenkt allerdings den Ernst seines Stoffs, weil dem Zuschauer keine Gelegenheit bleibt, sich auf die Figuren einzulassen und mit ihren Ideen zu sympathisieren. Er verrät daher die Utopie, von der er handeln möchte.
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Kapitalismus in Schwaben. Ein Kalb wird geboren. Schwer ist das Handwerk der Geburtshelfer, mit aller Kraft, mit Schweiß, Seilen und einer Winde gehen Vater und Sohn zu zweit zur Sache und bringen alles schließlich zu einem Happy End: Eine prächtiges neues Lebewesen wird im Stroh getrocknet, Musik setzt ein, Hof und Feld sind sonnenumschienen... Das Glück dieses Anfangs täuscht aber, jedenfalls zum Teil. Denn diese hervorragend gelungene, vielschichtige Langzeitstudie über zwei
Bauern im Kreis Sigmaringen, zeichnet das Landleben keineswegs als Idylle: Harte Arbeit ist es heute, ein Bauer zu sein, und ob sie belohnt wird, ist keineswegs sicher. Denn sinkende Preise, Druck der industriellen Konkurrenz, und die Macht der Bürokratie machen den Bauern zu schaffen.
»Schwäbisch mit Untertiteln« stand in der Ankündigung zu dem Film Sauacker, der jetzt auf dem wichtigsten Schaufenster des deutschsprachigen Kinonachwuchs', im
Dokumentarfilmwettbewerb seine Uraufführung erlebte. Seit 1725 hat die Familie Kienle ihren Hof in Laiz im Kreis Sigmaringen, Sohn Philipp soll den Hof bald in zehnter Generation übernehmen. Aber noch ist Vater Konrad am Ruder. Mit viel Geduld, Sensibilität und spürbarer Sympathie zu seinem Gegenstand gelingt dem Regisseur Tobias Müller, der selbst in Sigmaringen geboren und aufgewachsen ist, in seinem ungewöhnlichen Heimatfilm das Portrait einer Familie, wie einer
Lebensweise. Und so wird der Zuschauer zum Zeugen von Dialogen wie diesen: »Man muss auch mal ein Tal durchstehen.« sagt Vater Konrad »Du bist nur im Tal.« antwortet der Sohn; »heute einen Hof zu halten, ist 'ne Kunst« erklärt der Vater, und verlangt, das der Sohn seiner Erfahrung vertraut. Aber die Mutter ermuntert Philipp: »Du musst deinen eigenen Weg gehen.« Der Sohn muss nebenbei arbeiten, und auch der Vater verdient sich etwas dazu – als Zeitungsausträger der »Schwäbischen
Zeitung«. Ihr Verhältnis ist konfliktreich, aber doch von großem Respekt und Liebe geprägt. Und Philipp opfert viel, um den Hof zu halten, und schließlich weiterzuführen: Sogar als ihn irgendwann die Freundin Manu, die doch so gut zu ihm passt, dann irgendwann verlässt, erschüttert ihn das nicht in seinem Entschluss.
Sauacker erzählt zugleich eine universale Geschichte vom Kapitalismus auf dem Land, der Machtergreifung der Betriebswirtschaftler und
Banker – letzterer vergleicht im Film sein Verhältnis zu »seinen« Bauern mit dem Verhältnis der Bauern zu ihren Milchkühen –, vom hässlichen Gesicht der heutigen Landwirtschaft: Die Politik sagt, was gefördert wird; was gefördert wird, macht der Bauer. Wenn es überall nur Monokultur gibt, steigt der Parasitendruck, und es gibt immer mehr Chemie und Insektizide. Das macht der Boden nicht lange mit. »Das ist praktisch Ausbeutung.« resümiert Philipp bitter, »Einfach nur:
Kohle machen. Da muss ich mitziehen – ob ich das will, oder nicht.«
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Little Lost Girl. Vor allem eine sehr gelungene Regie zeichnet Scherbenpark aus, das Spielfilmdebüt der Berlinerin Bettina Blümner, die 2007 bereits mit dem Dokumentarfilm Prinzessinnenbad beachtlichen Erfolg hatte. Jasna Fritzi Bauer spielt die so verlorene, wie begabte 17-jährige Sascha, die ohne Mutter in brüchigen Verhältnissen und anonymen Vorstadt-Hochhausfeldern im Stuttgarter Umland aufwächst. Auf die Anmache eines Nachbarflegels: »Wenn Du nicht bald ein bisschen netter bist, mach ich Dir das Leben zur Hölle.« antwortet sie: »Zu spät. Is schon.« Sie lernt einen Journalisten und dessen Sohn kennen, die gleichfalls ihr Kreuz zu tragen haben, sich aber rührend um Sascha kümmern, und ihr neue Lebensperspektiven öffnen. Scherbenpark war einer der überragenden Filme des Wettbewerbs. Neben dem Preis für die beste Darstellerin gewann er auch den Drehbuchpreis, obwohl hier gerade nicht seine Stärke liegt: Was in Alina Bronskys Romanvorlage funktioniert, wirkt auf der Leinwand zu überladen und konstruiert. Das beste an ihm ist sein facettenreiches Bild urbanen Lebens und das Portrait eines jungen Mädchens mit vielen Eigenschaften.
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Da fällt auch der schönste Satz des Festivals: »Ich brauch' kein Mathe mehr... Ich bin schwanger.«
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Zuviel, zuviel. Lust an Klassik, Interesse für die Provinz – dies sind einige der aktuellen Tendenzen des deutschen Kinos, so, wie es sich in Saarbrücken darstellte. Es gibt auch, wie gesagt, unglaublich viel Improvisiererei. Das wird mit der zeit redundant, das ist oft nur Klischee von Schauspielerei, und manchmal nur Geldmangel.
Generell überzeugten die deutschen Filme in Saarbrücken häufig visuell, in Inszenierung, Kamera und Schnitt, während die Drehbücher oft
deutliche Schwächen aufwiesen: Den Filmen fehlt der große Bogen, der Blick in die Tiefe der Gesellschaft, die Relevanz. Oft überwiegt plumpe Emotionalisierung, Politisches wirkt immer zu vorgedacht und durchdekliniert. Auch ein Büchner-Drehbuch funktioniert nur noch, wenn man es in einem Milieu arabischer Einwanderer ansiedelt; Auch Unpolitisches ist jedenfalls überfrachtet: Immer zuviel, zuviel. Aber wenn man auf Reduktion setzt, dann wird es wieder schnell irrelevant.
Vielleicht braucht der deutsche Film endlich die Einführung von Drehbuchcoaches, von Dramaturgen, die kein eigenes Interesse haben, nicht auch noch Autor sein wollen, sondern einen Blick von Außen, fremd, neugierig, auf die Stoffe werfen.
Andererseits gilt natürlich auch hier: Viele Köche verderben den Brei. Zu den Regisseuren, den Autoren, den Produzenten, von denen ja keiner mehr bloßer Geldbeschaffer sein will – Pfui Teufel! –, sondern bitteschön
»Autorenproduzent«, Mitschreiber, Mitcaster, Mitregisseur, treten dann noch die Redakteure der Fernsehanstalten, gleich zwei oder drei am besten, die wollen auch noch Co-Produzenten sein, also alles – dann verliert der Film sich endgültig aus den Augen, der Filmemacher seinen Stoff.
Es geht in vielen Saarbrücken-Filmen, so könnte man sagen, immer wieder um das richtige Leben. Thematisch immer wieder zwei Menschen, die sehr sehr gegensätzlich sind, und die in ihren
Gegensätzen vom Filmemacher zusammengeworfen und aufeinanderlosgelassen werden. Das gilt für Talea und Der Glanz des Tages (s.u.), das gilt für Scherbenpark, für Freiland, für Woyzeck, das gilt sogar für Sauacker. Das ist so häufig, dass es auffällt. Eine Mode offenbar.
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Drehbuchproblem. »Die leben doch in einem Wolkenkuckucksheim«, sagt einer, der auch viele deutsche Filme sieht. Und wir rätseln beim Frühstück im »Leidinger«, dem Ort, wo man irgendwann alles trifft, und auch mal mit Nora von Waldstätten oder Fred Kelemen frühstückt, wo beim deutschen Film das wehtun abfängt? Wo sind die Wunden? Außer bei Roehler. Der verkrachte sich prompt öffentlich mit Hannelore Elsner – »was du da redest, diese Anekdoten werden auch beim 100. Mal nicht
wahrer.«
Natürlich ist das Reden über Wunden, Schmerzen, Härte, etc. auch etwas blöd und allemal verdächtig. Aber wenn man viele dieser Filme sieht, möchte man schon irgendwann etwas entdecken, was die Filmemacher wirklich interessiert. wo man spürt – wie bei Roehler – das müssen sie jetzt erzählen. Das muss raus. Mit was zum Teufel beschäftigen sich die Leute? Was den Deutschen auch gemeinsam ist, ist ein unsicheres Tasten. Sie gehen egal was sie erzählen, nicht weit
genug,sie scheuen das Extrem.
Deutschland habe ein Drehbuchproblem – die These ist nicht neu. Man meint damit, dass es für Drehbücher zu wenig Zeit und hzu wenig Geld gibt, zu wenig Wertschätzung. ich glaube zwar auch, dass es ein Drehbuchproblem gibt, denke aber, das liegt eher darin, dass die Leute viel zu viel zeit haben. dass sie jahrelang rummachen, vor sich hingurken. Da wird dann nichts mehr schärfer, sondern nur stumpfer. Mike Boal schrieb das Drehbuch zu Zero Dark Thirty in sechs Monaten. Warum geht sowas nicht bei uns? Nicht ein einziges Mal?
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Österreichische Methode. So war es alles andere, als Zufall, dass wieder – 2012 gewann Markus Schleinzers MICHAEL – zwei der wichtigsten Preise an österreichische Filme gingen: Die österreichische Methode aus Genauigkeit und Präzision führt eben nicht nur bei den Exzeß-Stars Michael Haneke und Ulrich Seidl zu herausragenden Ergebnissen, sondern auch bei Haneke-Schülerin Katharina Mückstein (Regiepreis), die mit Talea eine Mutter-Tochter-Geschichte erzählt. Der Ophüls-Preis ging an den sehr einfallreichen, originellen, aber nicht unproblematischen Der Glanz des Tages von Rainer Frimmel und Tizza Covi. Die Mockumentary über einen Onkel und seinen Neffen führt mit Zirkus und Theater zwei Typen der Kunst zusammen, die sich auch im Kino verbünden.