Liebe, Fußball, Kommunismus |
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Verdienter Sieger: Chrieg des Schweizers Simon Jacquemet |
Ein Jüngling, irgendwo im Niemandsland zwischen Kind und Mann, hängt über einem Abgrund. Wortwörtlich, denn er ist auf einen Strommast geklettert und balanciert zwischen Leben und Tod, ein malerisches Alpental unter sich. »Pit Bull« haben ihn die harten Jungs verspottet. Aber als er sich dann tatsächlich traut, und die übertriebene Mutprobe wagt, sind sie schockiert und für einen Augenblick ganz still, bevor sie die naheliegende menschliche Reaktion zeigen: »Wie Du drauf? Bist' wahnsinnig?«
Chrieg heißt der Film des Schweizers Simon Jacquemet, aus dem diese Szene stammt, einer jener Momente, die man auch nach einer Woche nicht vergisst. Am Samstag gewann er in Saarbrücken den Max-Ophüls-Preis, den renommiertesten Nachwuchsfilmpreis fürs deutschsprachige Kino. Mit Laien gedreht, aber reif und spannend inszeniert, handelt der Film von einem Lager für auffällige Jugendliche, die hier durch Sport und Naturnähe auf die rechte Bahn gebracht werden sollen. Aber in Wirklichkeit geschieht das Gegenteil. Chrieg, also schweizerdeutsch für Krieg, ist ein harter Film, der ein wenig den Eindruck des Unfassbaren spiegelt, den man beim Blick auf manche Jugendszenen leicht bekommen kann. Wahrhaftig, kämpferisch, politisch und visuell packend ist Chrieg ein Blick in den Abgrund der anderen Art – und ein verdienter Preisträger.
Zwar gab es diesmal unter den 16 Wettbewerbsfilmen keinen haushohen Favoriten, der alle verband. Aber einige starke und viele auffällige Filme und nur einen echten Reinfall: (Thomas Szabos billiger Pro-7-Film Die Liebe unserer Eltern, Fantasy für Arme, der zu schlecht war, um hier zu laufen und unfreiwillige Lacher in Serie provozierte) – das war schon eine sehr gute Bilanz im ersten Jahr, in dem Gabriella Bandel das Festival als Direktorin allein verantwortete. Bandel ist eine sehr gute Managerin, und mit ihrer offenen Art und ihrer Herzenswärme auch die Seele dieses Festivals, das ja nicht nur Abspielfläche für neue Filme ist, sondern noch viel mehr ein Treffpunkt, an dem sich die Szene austauscht, ruhiger und konzentrierter als in 14 Tagen bei der hektischen Berlinale.
Es ist nicht nur das allererste Filmfestival des Jahres, sondern es ist auch das wichtigste Treffen der Nachwuchsfilmemacher der Bundesrepublik: Das »Festival Max-Ophüls-Preis« in Saarbrücken. 16 Spielfilme und 12 dokumentarische Werke konkurrieren um die hochdotierten Preise der 36. Ausgabe des Festivals. Was ist der Stand des deutschen Kinos, was sind erste Themen und Tendenzen, die das Filmjahr womöglich prägen werden – hierfür ist Saarbrücken seit jeher ein recht verlässlicher Seismograph. Gerade in den letzten Jahren unter der Leitung einer Doppelspitze, die endlich einmal länger Bestand hatte, ist Saarbrücken immer stärker geworden und hat als Ort für Entdeckungen die übrige Konkurrenz hinter sich gelassen.
Sucht man zum Abschluss nach Trends und Tendenzen, so springt diesmal vor allem die Vielfalt der Ansätze ins Auge. Es gab etwas weniger Regie-Frauen – ausgerechnet im Jahr der »Pro-Quote-Regie«-Erklärung, in der Regisseurinnen gleichberechtigte Finanzierungschancen für Frauen fordern.
Eine weitere Tendenz liegt bei einem Festival für Newcomer nahe: Es geht oft um Familie, um sprachlose und irgendwie überforderte Eltern und um haltlose, irgendwie auch hilflose Jugendliche. Und so handeln dann Filme von Eltern, die für ihre Kinder über Leichen gehen (Wir Monster), oder die das Kind in ein Erziehungscamp verfrachten (neben Chrieg auch Freistatt), in dem es durch die Hölle geht und dort dann eine Ersatzfamilie findet. Driften, für den Michael Proehl verdient den Drehbuchpreis erhielt, handelt von Tempojunkies, die einander zur Ersatzfamilie werden.
Um so auffälliger, wenn einer mal etwas ganz anderes macht: Confusion, der dritte der in diesem Jahr auffallend starken Schweizer Beiträge setzt nicht nur auf die Hektik einer fließend-subjektiven Kamera, sondern findet für sie auch einen adäquaten Schauplatz: den Schweizer Politbetrieb und die widerstreitenden Interessensvertreter und Strippenzieher. Es geht um die Aufnahme eines Flüchtlings und um eine Politikerin, die erpresst wird.
Verfehlung von Gert Schneider hätte einen Preis verdient: Der Film setzt auf den ersten Blick recht spekulativ auf ein Medienthema und die Erwartungen des Publikums, denn es geht um katholische Priester und eine Missbrauchsklage. Doch der Zugang ist originell und zeigt im Guten wie Schlechten die weltliche Seite der Kirche. Kleine Schwächen des Drehbuchs, das sich viel aufgebürdet hat, gleicht die souveräne Regie ebenso aus, wie das großartige Spiel der Hauptdarsteller Sebastian Blomberg und Kai Schuhmann.
Brennend aktuell, spannend, wie zuweilen humorvoll erzählt Andreas Pieper in Nachspielzeit von Identitäten, die von gegensätzlichen Erfahrungen geprägt sind: Gentrifizierung, Fremdenhass und Ost-West-Konflikte. Immer wieder ist es die Sorge vor dem Unbekannten, Unkontrollierbaren, die Menschen entzweit. Der Stoff aus dem Pegida ist. Trost spenden nur Fußball, die Liebe und ein Großvater im Altenheim mit anständiger kommunistischer Biographie.
Um Fußball und Liebe ging es auch in Lilli Thalgotts rasantem Improvisationsfilm Ein Endspiel. Mitten während des WM-Finales will Johanna ihren Freund verlassen, und es geht erkennbar drunter und drüber. Die spontanen Einfälle der Akteure – allen voran Mignon Remé wie von einem anderen Stern – waren witziger und klüger als die meisten ausgefeilten Drehbuchdialoge.
Im Dokumentarfilmwettbewerb beeindruckte Die Böhms – Architektur einer Familie vom Kölner Maurizius Staerkle Drux, der bereits diese Woche im Kino zu sehen sein wird. Ein sehr gediegener, ruhiger Film über Intellektualität und das Geheimnis schöpferischer Tätigkeit – der gelungene Versuch, Gedanken darzustellen, Kultur. Es geht darin um die Familie des 95-jährigen Architekten Gottfried Böhm. Drei seiner vier Söhne sind ebenfalls Architekten geworden, arbeiten teilweise mit und unter dem Vater, teilweise versuchen sie sich, von ihm zu lösen. Es geht zugleich um die Arbeit an ungewöhnlichen Bauten, etwa auch der politisch umstrittenen Kölner Moschee, als auch um die Dynamik der Familie Böhm. So verbindet der Film ein spannendes Arbeitsporträt wiederum mit der Entfaltung sehr spezieller Familienverhältnisse.