07.02.2013

Perfor­ming Cinema

La Région centrale von Michael Snow
Setzt die Schwerkraft außer Kraft: La Région centrale von Michael Snow

Das Rotterdamer Filmfestival feiert das Kino-Material

Von Dunja Bialas

Snow in Rotterdam

Es schneit in Rotterdam. Ein seltenes Ereignis, das die Stadt unter einer weißen Daunen­decke vergräbt. Die Holländer fahren trotzdem Rad, und auf dem zuge­fro­renen Stadtbach sind ein paar über­di­men­sio­nale Schwäne aus Plastik gelandet, die nachts von innen beleuchtet werden: schöner Kitsch.

Schnee auch im Kino: Der kana­di­sche Avant­gar­de­fil­me­ma­cher und Komponist Michael Snow, Jahrgang 1929, ist nach Rotterdam gekommen, um die Auffüh­rung seines selten zu sehenden Filmes La Région centrale von 1971 zu begleiten. Einziger Prot­ago­nist in diesem tekto­ni­schen Film ist ein Kamera­ro­boter, der sich sukzes­sive auf einer Hochebene in Kanada voran­tastet. Das Kame­ra­auge fährt Stein für Stein den kargen Boden entlang, schwingt sich dann in einem schnellen Blick in den Himmel hinauf, fährt wieder zurück auf den Boden und tastet und schwingt sich so immer weiter voran, einmal, zweimal, zigmal ringsum, im voll­s­tän­digen Raum-Zeit-Panora­ma­blick. Immer wieder taucht für einen kurzen Augen­blick der Schatten des mehr­ar­migen und bedächtig sich bewe­genden Kamera-Roboters auf, eine irri­tie­rende und schock­ar­tige Selbst­re­fle­xi­vität des Bildes. Bei jedem Kreis­schwenk, den die Kamera unter­nimmt, sind die Bewe­gungen ein wenig anders, und ganz allmäh­lich schraubt sich der Roboter in die Höhe, verliert den Boden aus dem Blick und gibt ihn auf das weite Tal und den strahlend blauen Himmel frei, in immer vari­ie­renden Choreo­gra­phien. Die dreis­tün­dige Ertastung der Land­schaft wird von abstrakten, sich durch­zie­henden Signal­tönen begleitet, alarmhaft und durch­drin­gend, in einer Mischung aus einer alten Bahn­schranke, die schlagend herun­ter­ge­lassen wird, und einem dumpf erklin­genden Nebelhorn. Die totale Abwe­sen­heit von Menschen oder O-Tönen entrücken die Land­schafts­bilder in eine irreale Sphäre, als würden sie nicht von dieser Welt stammen, sondern wären direkt von den Außer­ir­di­schen geschickt worden – Science Fiction auf 16mm.

Snow drehte mit seinem Kamera­ro­boter fünf Tage lang auf dem Québec-Plateau, und hat dann in der Montage einen voll­s­tän­digen Tages­zy­klus erstellt, mit dem strah­lenden Mittags­himmel, dem ab- und anschwel­lendem Licht bei Abend- und Morgen­däm­me­rung, mit einem Vollmond in der Dunkel­heit, den die Kamera mit ihren Bewe­gungen zum Tanzen bringt. Heraus­ge­kommen ist ein monu­men­taler Land­schafts­film, den Snow mit den großen Land­schafts­ge­mälden eines Cézanne, Poussin, Monet oder Matisse verglich. Es ist tatsäch­lich groß, bewegend und – vor allem – auratisch, was Snow mit La Région centrale für das Kino gelingt. Die Kamera fährt wie ein Pinsel auf und nieder, um die Bilder später an die Kino­lein­wand zu malen. Dabei schält sich die Drama­turgie nur langsam aus der abstrakten Kame­ra­cho­reo­gra­phie heraus. Der Zuschauer muss sich erst an das Langsame gewöhnen, entdecken, dass sich die Bilder nur vorder­gründig wieder­holen, und wird dann zunehmend eine atemlose Spannung versetzt: Wie geht es weiter? Welche neuen Wege bahnt sich der Kamera-Roboter in seinem 360°-Schwenk über die Hochebene? Von der Erde geht es immer mehr in den Himmel, dann stürzt das Bild, und Himmel und Erde haben den Platz gewech­selt. Dann, plötzlich, ein Zoom, der in atem­be­rau­bender Geschwin­dig­keit auf die gegenüber­lie­gende Bergwand heran­fährt. Diese inhärente Spannung, dazu die Selten­heit der Auffüh­rung des Films, verwan­deln das Kino in eine anbe­tungs­wür­dige Kathe­drale: Nur hier, nur jetzt ist dieser Film für uns da.

Ohr-WORM

Das Mate­ri­elle, Auratisch-Einmalige der 16mm-Vorfüh­rung zeigte wieder einmal den Unter­schied zum digitalen Medium. In den Pixeln der Bilder, auf den DCPs und in der Cloud sind nur noch fertige Produkte enthalten, die prin­zi­piell jederzeit und überall zu sehen sind. Eine omni­prä­sente Verfüg­bar­keit der Filme macht sich breit, die eine gewisse Rela­ti­vie­rung und Belie­big­keit des einzelnen Films mit sich bringt: Wieso sich hier aufhalten und nicht in die nächsten Pixel hinein­sehen? Man kann ja jederzeit auf jeden Film zurück­kommen. Rotterdam hat dem expe­ri­men­tellen Kino schon immer einen wichtigen Platz eingeräumt, und dieses Jahr in der Sektion »Signals: Sound Stages« eine ganze Reihe geschaffen für Filme, die nicht bloß »gezeigt« werden können, sondern die zur Auffüh­rung gebracht werden müssen, da sie zwingend den Live-Moment erfordern. Assoziert zu der Reihe war das WORM, eine Mischung aus Platten- und Buchladen, Videothek und Bar, mit zwei Räumen im oberen Stockwerk, in denen Konzerte und Kino­vor­füh­rungen statt­finden, eine traum­hafte Konstel­la­tion.

Und hier gab es dann Projek­toren-Perfo­mances zu sehen. Heraus­ra­gend war der Live-Act der fran­zö­si­schen Gruppe Split Second, die mit drei 16mm-Prok­je­toren, Gitarre und Saxophon anrückten. Die teils abstrakten, teils konkreten Schwarz­weiß­bilder, die von den drei Projek­toren in einer ausge­tüf­telten Projek­ti­ons­cho­reo­gra­phie auf die Leinwand proji­ziert wurden, beglei­teten die Improv-Musiker in einer anwach­senden Live-Kompo­si­tion bis zum großen Finale, in dem sich die Lampe des Projek­tors in das 16mm-Material brennen durfte und ein großes Loch hinter­lies. Gewaltig war auch die Auffüh­rung von Hyperbang aus Grenoble, die Bilder und Stro­bo­skop-Licht proji­zierten und dazu einen kraft­vollen Bass-Punk spielten. Ein physisch-emotio­nales Erlebnis, das einen ganz in die Bilder und die Musik hineinzog und befreite von jeglicher Refe­ren­tia­lität des Kinos.

Material, Ritus, Spiel

Die Perfor­mance des Kinos in seiner Unwie­der­bring­lich­keit – jedesmal wird das Kino-Konzert ein wenig anders sein – gab der abstrakten Mate­ria­lität von Sound und Bild eine Bühne. Hier, im expe­ri­men­tellen Kino, bildet sich die Nische, um noch einmal zu erleben, was Film bedeutet, wie er in seiner bloßen Anwe­sen­heit faszi­nieren kann, unab­hängig von Erzäh­lungen oder Inhalten.

Aber es gab auch das Kino der Perfor­mance in Rotterdam zu entdecken. Der phil­ip­pi­ni­sche Regisseur und Dauergast des Festivals, Khavn de la Cruz, der mitt­ler­weile mit dem Kölner Filmlabel Rapid Eye Movies seine Filme co-produ­ziert, ging in seinem neuem Film Mise­ri­cordia: The Last Mystery of Kristo Vampiro ganz in seine brachial-beob­ach­tenden Kino­an­fänge zurück. Er zeigt eine blut­ge­tränkte Inter­pre­ta­tion eines funda­mental-christ­li­chen Ritus, in dem junge Männer, sich selbst geißelnd, den Leidensweg Christi bis zum Kreuz performen, bis ihre gepeitschten Rücken aus offenen Wunden bluten. Synkre­tis­tisch montiert werden dazu Voodoo-ähnliche Hahnen­kämpfe, bei denen den Geister-Tieren ihre klaf­fenden Hiebstellen zugenäht werden, um sie anschließend umso wütender in den Kampf zurück zu schicken. Khavn hat dem Film, der ein sugges­tives Shock­u­m­en­tary ist, eine Off-Stimme unterlegt, in dem der blut­dürs­tige Kristo Vampiro die Bilder kommen­tiert und Ausdruck davon gibt, dass unter seiner Herr­schaft die Welt in einem ewigen Leiden ange­kommen ist.

Khavn macht nicht zum ersten Mal die synkre­tis­ti­schen Auswüchse des phil­ip­pi­ni­schen Chris­ten­tums zum Thema; schon in The Middle Mystery of Christo Negro von 2009 versetzte er die biblische Geschichte in einen rituellen Fieber­traum von Opferung, Selbst­kas­teiung und Kreu­zi­gung. Viel­leicht kommt als dritter Teil dann Zombie-Christo, der als heidnisch inter­pre­tierter Untoter nach seiner Aufer­ste­hung noch einmal 40 Tage über die Erde wandelt.

Eine singuläre Figur ist auch Kaspar Hauser: Ohne Sozia­lität, Sprache und mensch­li­chen Verhal­tens­weisen aufge­wach­senen, zeigt er der Zivi­li­sa­tion den Spiegel der Instinkte und eupho­ri­siert durch die Möglich­keiten seiner Domes­ti­ka­tion. O quinto evanxeo de Gaspar Hauser hieß die gali­zi­sche Version des Kaspar-Hauser-Mythos von Alberto Garcia, die den Preis der Fipresci erhielt. Kaspar Hauser lebt hier in einem Stall, mit einem Pferd als Kompagnon. Der Stall ist mit seltsamen Figuren bevölkert: einem Zwerg in SM-Lackleder, einer Vampi­rette, einem Fleder­maus-Mann, einem Matrosen. Sie ergehen sich in seltsamen, nicht deko­dier­baren Riten und Spielen, die sich in tableau­ar­tigen Bildern mani­fes­tieren. Der Schwarz­weiß­film wurde gedreht auf 16mm und taucht dadurch die Figuren in ein tiefes, sattes Schwarz, das fast schon klebrig erscheint, wie dicke schwarze Tinte oder Teer. Wie eine archai­sche Fest­stel­lung des noch unge­zähmten, vorzi­vi­li­sa­to­ri­schen Zustandes von Kaspar Hauser, dessen vage Fantasien sich in den Figuren konkre­ti­sieren, ohne jedoch eine Erzählung bereit zu halten. Auch hier, mit dem »Evan­ge­lium«, eine Anknüp­fung und provo­kante Fort­schrei­bung des Chris­ten­tums, die dumpf und surreal aus einer unbe­stimmten Vorzeit kommt.

Spiele sind gesell­schafts­bil­dend, vereinen in einem nicht narra­tiven Zusam­men­halt. Der Debütfilm Ma belle gosse der Französin Shalimar Preuss, der letztes Jahr auf dem Rotter­damer Cinemart vorge­stellt wurde, war ganz getaucht in die Letargie eines Sommer­ur­laubs am Meer, der vorüber­geht mit Spazier­gängen im seichten Watt, mit Ausflügen in die nahe Stadt, mit verbo­tenen Spielen auf einem Militär­gelände. Prot­ago­nisten der Spiele sind Kinder von fünf bis siebzehn, die in schwer durch­schau­baren, patch­work­ar­tigen Verhält­nissen zuein­ander stehen. Undurch­schaubar ist auch das Gefühls­leben von Maden, der Ältesten, die heimlich eine Brief­freund­schaft zu einem doppelt so alten Gefäng­nis­in­sassen pflegt und sich vor der Fami­li­en­schar ins Dunkel des Zimmers flüchtet. Als ihr Geheimnis auffliegt, kann man – während der Vater ausflippt und sie mit Verboten belegt – teil­werden davon, wie die Kinder es schaffen, Maden in die Gemein­schaft zurück­zu­holen. Und die Gemein­schaft, sie passiert hier ohne Worte, sie ist das Spiel. Ma belle gosse ist ein atmo­s­phä­ri­sches Zeugnis davon, was narra­tives Kino auch sein kann: Ein Vertrauen auf die Sinn­lich­keit der Bilder, auf die Beiläu­fig­keit der Figu­ren­kon­stel­la­tionen, auf die Andeu­tungen, die genügen für eine Erzählung, ganz ohne Worte. Ein stiller, beein­dru­ckender Gegen­ent­wurf zu einem Kino der Unter­halt­sam­keit.

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Rotterdam macht Ende Januar den Auftakt zum neuen Kinojahr, mit einer anspruchs­vollen Vorlage, an die andere Festivals in Europa schwer­lich heran­kommen: Sie würden die Art der Program­mie­rung, wie Rotterdam sie Jahr für Jahr vorführt, niemals wagen. Rotterdam ist mit seinem umfang­rei­chen Programm im guten Sinne maßlos und hält durch die program­ma­ti­sche Offenheit tatsäch­lich immer wieder neue Visionen bereit. Breit gefächert sind die Sektionen: In der »Hivos Tiger Awards Compe­ti­tion« konkur­rieren 16 Filme von noch unbe­kannten Filme­ma­chern um den Tiger, teils Projekte, die im Jahr zuvor auf dem festi­val­ei­genen Markt, dem Cinemart, Produ­zenten fanden. In »Bright Future« laufen Filme von Regis­seuren, die in den vergan­genen Jahren in Rotterdam entdeckt wurden; im »Spectrum« finden sich Filme der »Maestros«. Im großen »Signals«-Programm, dieses Jahr mit vier Sektionen, werden Retro­spek­tiven und thema­ti­sche Schwer­punkte gezeigt. Eine der Retro­spek­tiven galt dieses Jahr Dominik Graf, die demnächst auch im Öster­rei­chi­schen Film­mu­seum und in Teilen in München im Werk­statt­kino zu sehen sein wird.

Unter dem Titel »Changing Channels« zeigte Rotterdam erstmals komplette TV-Seri­en­staf­feln im Kino, und wie als Gegen­ge­wicht zu dieser neuen narra­tiven Entwick­lung gab es unter dem Titel »Sound Stages« das nicht­nar­ra­tive Kino (wieder-) zu entdecken. So fächert sich Rotterdam weit auf: Zwischen etlichen publi­kumsträch­tigen Filmen, die als Vorpre­miere für das nieder­län­di­sche Publikum laufen (wie The Master von Paul Thomas Anderson oder Post tenebras lux des Argen­ti­niers Carlos Reygadas) oder den Gewinner-Filmen anderer großer Festivals, wie beispiels­weise Rengaine, Fipresci-Gewinner von Cannes in der Reihe Quinzaine des Réali­sa­teurs, lassen sich in Rotterdam auch neue populäre und elitäre Strö­mungen des zeit­genös­si­schen Kinos entdecken. Und, was den Besuch des Festivals so spannend macht, immer sind in allen Sektionen Filme zu finden, die weit über die kine­ma­to­gra­phi­schen Ränder hinaus­malen und alle herkömm­li­chen Erwar­tungen an das Kino zurück­lassen.