Performing Cinema |
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Setzt die Schwerkraft außer Kraft: La Région centrale von Michael Snow |
Von Dunja Bialas
Es schneit in Rotterdam. Ein seltenes Ereignis, das die Stadt unter einer weißen Daunendecke vergräbt. Die Holländer fahren trotzdem Rad, und auf dem zugefrorenen Stadtbach sind ein paar überdimensionale Schwäne aus Plastik gelandet, die nachts von innen beleuchtet werden: schöner Kitsch.
Schnee auch im Kino: Der kanadische Avantgardefilmemacher und Komponist Michael Snow, Jahrgang 1929, ist nach Rotterdam gekommen, um die Aufführung seines selten zu sehenden Filmes La Région centrale von 1971 zu begleiten. Einziger Protagonist in diesem tektonischen Film ist ein Kameraroboter, der sich sukzessive auf einer Hochebene in Kanada vorantastet. Das Kameraauge fährt Stein für Stein den kargen Boden entlang, schwingt sich dann in einem schnellen Blick in den Himmel hinauf, fährt wieder zurück auf den Boden und tastet und schwingt sich so immer weiter voran, einmal, zweimal, zigmal ringsum, im vollständigen Raum-Zeit-Panoramablick. Immer wieder taucht für einen kurzen Augenblick der Schatten des mehrarmigen und bedächtig sich bewegenden Kamera-Roboters auf, eine irritierende und schockartige Selbstreflexivität des Bildes. Bei jedem Kreisschwenk, den die Kamera unternimmt, sind die Bewegungen ein wenig anders, und ganz allmählich schraubt sich der Roboter in die Höhe, verliert den Boden aus dem Blick und gibt ihn auf das weite Tal und den strahlend blauen Himmel frei, in immer variierenden Choreographien. Die dreistündige Ertastung der Landschaft wird von abstrakten, sich durchziehenden Signaltönen begleitet, alarmhaft und durchdringend, in einer Mischung aus einer alten Bahnschranke, die schlagend heruntergelassen wird, und einem dumpf erklingenden Nebelhorn. Die totale Abwesenheit von Menschen oder O-Tönen entrücken die Landschaftsbilder in eine irreale Sphäre, als würden sie nicht von dieser Welt stammen, sondern wären direkt von den Außerirdischen geschickt worden – Science Fiction auf 16mm.
Snow drehte mit seinem Kameraroboter fünf Tage lang auf dem Québec-Plateau, und hat dann in der Montage einen vollständigen Tageszyklus erstellt, mit dem strahlenden Mittagshimmel, dem ab- und anschwellendem Licht bei Abend- und Morgendämmerung, mit einem Vollmond in der Dunkelheit, den die Kamera mit ihren Bewegungen zum Tanzen bringt. Herausgekommen ist ein monumentaler Landschaftsfilm, den Snow mit den großen Landschaftsgemälden eines Cézanne, Poussin, Monet oder Matisse verglich. Es ist tatsächlich groß, bewegend und – vor allem – auratisch, was Snow mit La Région centrale für das Kino gelingt. Die Kamera fährt wie ein Pinsel auf und nieder, um die Bilder später an die Kinoleinwand zu malen. Dabei schält sich die Dramaturgie nur langsam aus der abstrakten Kamerachoreographie heraus. Der Zuschauer muss sich erst an das Langsame gewöhnen, entdecken, dass sich die Bilder nur vordergründig wiederholen, und wird dann zunehmend eine atemlose Spannung versetzt: Wie geht es weiter? Welche neuen Wege bahnt sich der Kamera-Roboter in seinem 360°-Schwenk über die Hochebene? Von der Erde geht es immer mehr in den Himmel, dann stürzt das Bild, und Himmel und Erde haben den Platz gewechselt. Dann, plötzlich, ein Zoom, der in atemberaubender Geschwindigkeit auf die gegenüberliegende Bergwand heranfährt. Diese inhärente Spannung, dazu die Seltenheit der Aufführung des Films, verwandeln das Kino in eine anbetungswürdige Kathedrale: Nur hier, nur jetzt ist dieser Film für uns da.
Das Materielle, Auratisch-Einmalige der 16mm-Vorführung zeigte wieder einmal den Unterschied zum digitalen Medium. In den Pixeln der Bilder, auf den DCPs und in der Cloud sind nur noch fertige Produkte enthalten, die prinzipiell jederzeit und überall zu sehen sind. Eine omnipräsente Verfügbarkeit der Filme macht sich breit, die eine gewisse Relativierung und Beliebigkeit des einzelnen Films mit sich bringt: Wieso sich hier aufhalten und nicht in die nächsten Pixel hineinsehen? Man kann ja jederzeit auf jeden Film zurückkommen. Rotterdam hat dem experimentellen Kino schon immer einen wichtigen Platz eingeräumt, und dieses Jahr in der Sektion »Signals: Sound Stages« eine ganze Reihe geschaffen für Filme, die nicht bloß »gezeigt« werden können, sondern die zur Aufführung gebracht werden müssen, da sie zwingend den Live-Moment erfordern. Assoziert zu der Reihe war das WORM, eine Mischung aus Platten- und Buchladen, Videothek und Bar, mit zwei Räumen im oberen Stockwerk, in denen Konzerte und Kinovorführungen stattfinden, eine traumhafte Konstellation.
Und hier gab es dann Projektoren-Perfomances zu sehen. Herausragend war der Live-Act der französischen Gruppe Split Second, die mit drei 16mm-Prokjetoren, Gitarre und Saxophon anrückten. Die teils abstrakten, teils konkreten Schwarzweißbilder, die von den drei Projektoren in einer ausgetüftelten Projektionschoreographie auf die Leinwand projiziert wurden, begleiteten die Improv-Musiker in einer anwachsenden Live-Komposition bis zum großen Finale, in dem sich die Lampe des Projektors in das 16mm-Material brennen durfte und ein großes Loch hinterlies. Gewaltig war auch die Aufführung von Hyperbang aus Grenoble, die Bilder und Stroboskop-Licht projizierten und dazu einen kraftvollen Bass-Punk spielten. Ein physisch-emotionales Erlebnis, das einen ganz in die Bilder und die Musik hineinzog und befreite von jeglicher Referentialität des Kinos.
Die Performance des Kinos in seiner Unwiederbringlichkeit – jedesmal wird das Kino-Konzert ein wenig anders sein – gab der abstrakten Materialität von Sound und Bild eine Bühne. Hier, im experimentellen Kino, bildet sich die Nische, um noch einmal zu erleben, was Film bedeutet, wie er in seiner bloßen Anwesenheit faszinieren kann, unabhängig von Erzählungen oder Inhalten.
Aber es gab auch das Kino der Performance in Rotterdam zu entdecken. Der philippinische Regisseur und Dauergast des Festivals, Khavn de la Cruz, der mittlerweile mit dem Kölner Filmlabel Rapid Eye Movies seine Filme co-produziert, ging in seinem neuem Film Misericordia: The Last Mystery of Kristo Vampiro ganz in seine brachial-beobachtenden Kinoanfänge zurück. Er zeigt eine blutgetränkte Interpretation eines fundamental-christlichen Ritus, in dem junge Männer, sich selbst geißelnd, den Leidensweg Christi bis zum Kreuz performen, bis ihre gepeitschten Rücken aus offenen Wunden bluten. Synkretistisch montiert werden dazu Voodoo-ähnliche Hahnenkämpfe, bei denen den Geister-Tieren ihre klaffenden Hiebstellen zugenäht werden, um sie anschließend umso wütender in den Kampf zurück zu schicken. Khavn hat dem Film, der ein suggestives Shockumentary ist, eine Off-Stimme unterlegt, in dem der blutdürstige Kristo Vampiro die Bilder kommentiert und Ausdruck davon gibt, dass unter seiner Herrschaft die Welt in einem ewigen Leiden angekommen ist.
Khavn macht nicht zum ersten Mal die synkretistischen Auswüchse des philippinischen Christentums zum Thema; schon in The Middle Mystery of Christo Negro von 2009 versetzte er die biblische Geschichte in einen rituellen Fiebertraum von Opferung, Selbstkasteiung und Kreuzigung. Vielleicht kommt als dritter Teil dann Zombie-Christo, der als heidnisch interpretierter Untoter nach seiner Auferstehung noch einmal 40 Tage über die Erde wandelt.
Eine singuläre Figur ist auch Kaspar Hauser: Ohne Sozialität, Sprache und menschlichen Verhaltensweisen aufgewachsenen, zeigt er der Zivilisation den Spiegel der Instinkte und euphorisiert durch die Möglichkeiten seiner Domestikation. O quinto evanxeo de Gaspar Hauser hieß die galizische Version des Kaspar-Hauser-Mythos von Alberto Garcia, die den Preis der Fipresci erhielt. Kaspar Hauser lebt hier in einem Stall, mit einem Pferd als Kompagnon. Der Stall ist mit seltsamen Figuren bevölkert: einem Zwerg in SM-Lackleder, einer Vampirette, einem Fledermaus-Mann, einem Matrosen. Sie ergehen sich in seltsamen, nicht dekodierbaren Riten und Spielen, die sich in tableauartigen Bildern manifestieren. Der Schwarzweißfilm wurde gedreht auf 16mm und taucht dadurch die Figuren in ein tiefes, sattes Schwarz, das fast schon klebrig erscheint, wie dicke schwarze Tinte oder Teer. Wie eine archaische Feststellung des noch ungezähmten, vorzivilisatorischen Zustandes von Kaspar Hauser, dessen vage Fantasien sich in den Figuren konkretisieren, ohne jedoch eine Erzählung bereit zu halten. Auch hier, mit dem »Evangelium«, eine Anknüpfung und provokante Fortschreibung des Christentums, die dumpf und surreal aus einer unbestimmten Vorzeit kommt.
Spiele sind gesellschaftsbildend, vereinen in einem nicht narrativen Zusammenhalt. Der Debütfilm Ma belle gosse der Französin Shalimar Preuss, der letztes Jahr auf dem Rotterdamer Cinemart vorgestellt wurde, war ganz getaucht in die Letargie eines Sommerurlaubs am Meer, der vorübergeht mit Spaziergängen im seichten Watt, mit Ausflügen in die nahe Stadt, mit verbotenen Spielen auf einem Militärgelände. Protagonisten der Spiele sind Kinder von fünf bis siebzehn, die in schwer durchschaubaren, patchworkartigen Verhältnissen zueinander stehen. Undurchschaubar ist auch das Gefühlsleben von Maden, der Ältesten, die heimlich eine Brieffreundschaft zu einem doppelt so alten Gefängnisinsassen pflegt und sich vor der Familienschar ins Dunkel des Zimmers flüchtet. Als ihr Geheimnis auffliegt, kann man – während der Vater ausflippt und sie mit Verboten belegt – teilwerden davon, wie die Kinder es schaffen, Maden in die Gemeinschaft zurückzuholen. Und die Gemeinschaft, sie passiert hier ohne Worte, sie ist das Spiel. Ma belle gosse ist ein atmosphärisches Zeugnis davon, was narratives Kino auch sein kann: Ein Vertrauen auf die Sinnlichkeit der Bilder, auf die Beiläufigkeit der Figurenkonstellationen, auf die Andeutungen, die genügen für eine Erzählung, ganz ohne Worte. Ein stiller, beeindruckender Gegenentwurf zu einem Kino der Unterhaltsamkeit.
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Rotterdam macht Ende Januar den Auftakt zum neuen Kinojahr, mit einer anspruchsvollen Vorlage, an die andere Festivals in Europa schwerlich herankommen: Sie würden die Art der Programmierung, wie Rotterdam sie Jahr für Jahr vorführt, niemals wagen. Rotterdam ist mit seinem umfangreichen Programm im guten Sinne maßlos und hält durch die programmatische Offenheit tatsächlich immer wieder neue Visionen bereit. Breit gefächert sind die Sektionen: In der »Hivos Tiger Awards Competition« konkurrieren 16 Filme von noch unbekannten Filmemachern um den Tiger, teils Projekte, die im Jahr zuvor auf dem festivaleigenen Markt, dem Cinemart, Produzenten fanden. In »Bright Future« laufen Filme von Regisseuren, die in den vergangenen Jahren in Rotterdam entdeckt wurden; im »Spectrum« finden sich Filme der »Maestros«. Im großen »Signals«-Programm, dieses Jahr mit vier Sektionen, werden Retrospektiven und thematische Schwerpunkte gezeigt. Eine der Retrospektiven galt dieses Jahr Dominik Graf, die demnächst auch im Österreichischen Filmmuseum und in Teilen in München im Werkstattkino zu sehen sein wird.
Unter dem Titel »Changing Channels« zeigte Rotterdam erstmals komplette TV-Serienstaffeln im Kino, und wie als Gegengewicht zu dieser neuen narrativen Entwicklung gab es unter dem Titel »Sound Stages« das nichtnarrative Kino (wieder-) zu entdecken. So fächert sich Rotterdam weit auf: Zwischen etlichen publikumsträchtigen Filmen, die als Vorpremiere für das niederländische Publikum laufen (wie The Master von Paul Thomas Anderson oder Post tenebras lux des Argentiniers Carlos Reygadas) oder den Gewinner-Filmen anderer großer Festivals, wie beispielsweise Rengaine, Fipresci-Gewinner von Cannes in der Reihe Quinzaine des Réalisateurs, lassen sich in Rotterdam auch neue populäre und elitäre Strömungen des zeitgenössischen Kinos entdecken. Und, was den Besuch des Festivals so spannend macht, immer sind in allen Sektionen Filme zu finden, die weit über die kinematographischen Ränder hinausmalen und alle herkömmlichen Erwartungen an das Kino zurücklassen.