Lost in Politics |
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Der humanitäre Gangster-Terrorist: Eric Valettes LE SERPENT AUX MILLE COUPURES als Weltpremiere in Rotterdam |
Von Dunja Bialas
»Kino«. So heißt das neue Kino in Rotterdam, schlicht und trendy wie die Hafenstadt. Früher war Rotterdam mal die hässlichste Stadt, die ich kannte. Als ich vor über zehn Jahren zum ersten Mal das Rotterdamer Filmfestival mit dem sagenhaften Ruf besuchte, machte ich mich vergeblich auf die Suche nach einer Ansichtskarte, die ich verschicken wollte. Die Stadt war so unattraktiv, dass in der ganzen Stadt keine aufzutreiben war. Und heute? Ist es eine glanzvolle Architekturmetropole. Und das Festival heute?
Wenn man allen Vorworten des Katalogs glauben will, dann geht es dem IFFR heute darum, politisch zu sein. Mehrfach wird auf das »pivotal year of politicum momentum« hingewiesen, in deutlicher Anspielung auf den »Trump turn«. Bero Beyer, seit zwei Jahren Festivalleiter, formuliert: »We are faced with deep fault lines of inclusion and exclusion dividing us into opposing groups with different points of view. Filmmakers, artists, thinkers, journalists and the public are invited to discuss current shifts and fractures as these are represented in films featured throughout the festival programme.« Der Black-Rebels-Schwerpunkt möchte sich so auch als »comment on the cultural divide and emerging racism« verstanden wissen. Sogar der mit »Criss-Cross« übertitelte Fokus auf den zeitgenössischen französischen Gangsterfilm ist politisch gemeint: »French politcal thriller use the popular genre of action thriller to harshly criticise power structures, racism and divisiveness in France and, in so doing, actively try to bridge the societal and cultural divide by combining entertainment with enlightening narratives.«
Folglich sollten dann auch die Gangsterfilm-Regisseure auf dem von Kurator Olaf Möller abgehaltenen Panel »Gangland, Copland, Terrorland« über den »politischen Mainstream« ihres Kinos sprechen. Dies brachte sichtlich in Verlegenheit: Godfather Frédéric Schoendoerffer, in der Reihe mit zwei Filmen vertreten, wobei vor allem Le convoi (2016) eine adrenalingetränkte Nuance ins Programm brachte, Eric Valette, der in Weltpremiere seinen sich zuspitzenden Serpent au mille coupures zeigte, und den relativ unbeleckten Olivier Panchot (mit seinem zweiten Film De guerre lasse von 2014 vertreten). »Entertainment« schrieben sie ganz groß und outeten sich als Genre-Afficionados aus der Abteilung »…denn sie wissen nicht, was sie tun«. Dass das Gangster-Genre willig ist, einen politischen Subplot mitzuerzählen, wurde im dezidiert antirassistischen Serpent deutlich, der die Reihe eröffnete. Hier wird ein blutdürstiger Mob in einer Art inszeniert, die den Gangster-Terroristen (nach einer Romanvorlage von Hervé Albertazzi) als Humanisten moralisch freispricht; die gesellschaftliche Übereinkunft, nach der der redliche Bürger die Ordnung wieder herstellen soll, wird in einem subversiven, anarchischen Akt pervertiert. Deutlicher kann der Kommentar zum aktuellen Zustand, vielleicht sogar zur Spaltung der französischen Zivilgesellschaft nicht ausfallen. Und doch möchte Valette keinesfalls politisch erscheinen. Er verschanzt sich hinter Autor Albertazzi wie ein Gangster vor dem Kugelhagel: »Das stand alles im Roman!« Ebenso wie die starke Frauenfigur in seinem Une affaire d’état (2009), gespielt von Rachida Brakni, die der Autorin und Grande Dame des Polar Dominique Manotti geschuldet ist, gleichfalls anwesend. Manotti artikulierte ein politisches Bewusstsein und bereicherte im übrigen die Runde der Gangster-Filmer mit reflektiertem Bewusstsein: denn sie weiß genau, was sie tut.
Auch das Attribut des Mainstream-Kinos konnte nicht greifen. Dies ist klar, angesichts des Komödien-Booms, der alles in den Schatten stellt. Mit 20,4 Millionen Besuchern in Frankreich überholt Bienvenue chez les Ch'tis (2008) locker selbst den erfolgreichen Leon – der Profi (1994) mit damals 3,5 Millionen Zuschauern. Léon ist der einzige »Polar« und zugleich Initialfilm der französischen Mainstream-Ikone Luc Besson, der seit 2000 mit EuropaCorp einen neuen Filmtypus gegen den Autorenfilm antreteten lässt: den kalkulierten Produzentenfilm. (Alles übrigens nachzulesen in meinem Beitrag im gerade frisch erschienenen Buch »Gangsterwelten«.)
Luc Besson, so wurde auf dem Panel deutlich, ist erklärtes Feindbild der versammelten Genre-Autorenfilmer. Auch den Schmusekurs, den der Gangsterfilm-Erneuerer Olivier Marchal (in der Reihe mit 36 Quai des Orfèvres vertreten) mit dem Produzenten-Mogul einging, stritten sie ab. »Marchal hat nie mit Besson gesprochen«, lautete das einstimmige Credo auf den Hinweis auf ein bestehendes Produktionsverhältnis zwischen EuropaCorp und Marchal anlässlich seiner Serie »Section Zéro«. Diese startete im April letzten Jahres und erwies sich als totaler Flop. Produziert hat aber dennoch: Luc Besson.
Eine ähnliche Diskussionsrunde hätte man wohl mit den Regisseuren der französischen Erfolgskomödien abhalten können. Die Quintessenz des französischen Gangsterfilms und das Geheimnis seines Erfolgs (oder Misserfolgs) wurde nicht einmal touchiert.
Aber so ist das mit den Panels.
Heute muss wohl alles politisch sein. Jetzt, wo wir Donald Trump haben, umso mehr. Wim Wenders hat jüngst im »Tagesspiegel« dazu aufgerufen, von nun an nur noch politische Filme zu drehen: »Das Kino hat geradezu die Aufgabe, 'Politik' im weitesten Sinne wieder miteinzubeziehen.« Insbesondere fordert Wenders Filme zum Klimawandel.
Muss man denn wirklich immer Godard mit seinem berühmten Ausspruch zitieren, nach dem es nicht darum gehe politische Filme zu machen, sondern Filme politisch, weil nie jemand von allein daran denkt? Kein engagiertes Kino, sondern ein Kino, das aufschreckt, weil es andere Sicht- und Denkweisen öffnet. Egal, ob es um den Klimawandel oder um den französischen Gangster geht. Insofern wäre der »Polar« politisches Kino, als er die Schwarzgalligkeit hochhält und düstere Visionen der Gesellschaft inszeniert, entgegen die zum real gesellschaftlichen Mainstream erhobene Fröhlichkeit, wie sie die netten französischen Nachbarschaftskomödien inszenieren. (Zum Überdruss am vordergründig politischen Kino, das das eigentlich Politische von Kunst vergessen lässt, sei hier auf die Debatte »Lost in Politics« vor Berlinale-Beginn hingewiesen, moderiert von artechock-Autor Rüdiger Suchsland und veranstaltet vom Verband der deutschen Filmkritik.)
Dabei hätte Bero Beyer solche Politik-Verrenkungen bis hinein in die Nebensektionen gar nicht ausrufen müssen. Rotterdam ist das Mekka dieses anderen Kinos, mit den politisch gemachten, eben nicht mit den politischen Filmen. Für letzteres gibt es in den Niederlanden das Dokumentarfilmfestival IDFA, eine Goldgrube des, mit Verlaub gesagt, kalkulierten Betroffenheitsfilms. Rotterdam war immer frei von Funktion: der Experimentalfilm wird hier traditionell in einem Kurzfilmwettbewerb hochgehalten, der große Wettbewerb zeigt die noch tastenden Filme der »emerging film talents«. Die sich einen Dreck um die »message« kümmern.
Moonlight ist einer der erfolgreichsten Filme des Jahres. Mit acht Oscars nominiert, wird er nun endlich das Kino der alten weißen Männer ablösen, die letztes Jahr bei der Oscar-Verleihung einen Skandal produziert hatten, wegen des Ermangelung an »diversity«. Heute, wo der letzte der weißen Männer die USA regiert, weiß jeder, dass »diversity« auf die Triple Oppression von »race«, »gender« und »class« abzielt.
Das Schielen auf »diversity« kann manchmal aber auch nach hinten losgehen: Fünf Frauen wurden zuletzt mit dem Bayerischen Filmpreis in der Kategorie Beste Regie ausgezeichnet. Soll man sie jetzt alle aufzählen, diese besten fünf Regisseurinnen? Und sind sie alle fünf besser als alle anderen männlichen Regiekollegen? Sonst wäre die Auszeichnung doch sexistisch, oder etwa nicht?
Vor diesem Hintergrund sagen wir jetzt einfach mal: Barry Jenkins ist nicht schwarz. Beziehungsweise: Leute, darum geht es nicht. Barry Jenkins macht einfach großartige Filme. Seine Protagonisten sind einfach so alle schwarz. Weil es die nämlich auch gibt, in Miami, wo Barry Jenkins aufgewachsen ist. Seine Filme erzählen ganz generell vom Leben, vom Suchen, vom Werden, sind leichthändig, überwältigend, mit der atemberaubenden Kamera von James Laxton. Rotterdam zeigte eine Werkschau des begandeten Jenkins, darunter sein Filmdebüt Medecine for Melancholy (2008) (Moonlight ist übrigens erst sein zweiter Langfilm). Immer wieder zitiert der Film Jean-Luc Godards À bout de souffle, aber eigentlich erzählt er einfach nur von einem verlängerten One Night Stand als Medizin gegen die Melancholie, der über eine frische Trennung und die Einsamkeit hinweghelfen soll. Dem Credo des »Boy meets girl« der Nouvelle Vague folgend, streunert die Erzählung zusammen mit ihren Protagonisten durch San Francisco. Geht mit ihnen ins MoMA, folgt ihnen ins winzige Appartment, das ganz von einem Bett ausgefüllt wird, und in der es zur Spiegelszenen-Hommage an Jean-Paul Belmondo kommt. Reinkarniert von Micah (gespielt von Stand-up-Comedian Wyatt Cenec), der Melancholiker, während Joanne (!) (Tracey Heggins) mit ihren kurzen Haaren eine Wiederkehr von Jean Seberg ist.
Medecine for Melancholy ist ein durch und durch melancholischer und ganz und gar glücklich machender Mumblecore, und vielleicht morgen schon nur noch eine Erinnerung an ein freies Amerika. Und sogar: politisch. Ganz ohne Politik.