09.02.2012

Sex, Lies & Video Tapes

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Atemberaubend:
Apnoe von Hund & Horn

Filme(n) in Zeiten der Krise – Das 41. Internationale Filmfestival Rotterdam

Von Dunja Bialas

Feierte Rotterdam letztes Jahr noch ein XL-Jubiläum, so herrschte im Jahre eins nach dem 40. Kater­stim­mung. Der Etat des größten europäi­schen Nach­wuchs­fes­ti­vals wurde um 10 Prozent auf nun mehr knapp eine Million Euro gekürzt, daraus resul­tierte eine sichtbare Verschlan­kung des Programms. Ausge­rechnet in der wich­tigsten Sektion des Festivals wurde das Programm um 20 Prozent geschrumpft: »Bright Future«, das seit jeher mit seinem Tiger-Wett­be­werb und den Newcomer-Filmen ein viel beob­ach­teter Talente-Kader ist, verklei­nerte sich wie die dahin schmel­zenden Eisplatten an der Arktis. Die jungen Filme­ma­cher müssen ange­sichts der kleiner werdenden Plattform erkennen: Die Zukunft ist gar nicht mehr so hell, strahlend und verheißungs­voll, wie »Bright Future« verheißt, es wird ganz schön eng im Nachwuchs-Biotop.

Grund­sätz­lich kann man natürlich den Ansatz in Zweifel ziehen, eine ganze Gene­ra­tion neuer Filme­ma­cher zu kreieren, deren Filme haupt­säch­lich nur von Festivals gezeigt werden. So findet man in Anträgen um Film­fi­nan­zie­rung bei offi­zi­ellen Stellen den Hinweis auf entspre­chende Screening fees (also Film­mieten), die Festivals gemeinhin zahlen; eine prozen­tuale Gegen­fi­nan­zie­rung der Film­pro­jekte allein durch den Festival-Zirkus sei gewähr­leistet. Filme nur für Festivals? Kann dies die Zukunft des Film­schaf­fens sein? Eine Frage, die sich auch an die Kino­land­schaft im Allge­meinen richtet. Und wenn dann Festi­val­leiter Rutger Wolfson im Interview konsta­tiert: »there are tough times for arthouse cinema«, dann spätes­tens wissen wir, dass es für viele junge Filme­ma­cher gerade keinen anderen Weg gibt, als sich an die Förder­töpfe der Festivals dran­zu­hängen.

Sex

Die Krise ist im Kino ange­kommen. Auch inhalt­lich. Viele der Filme, die dieses Jahr in Rotterdam zu sehen waren, waren ausge­spro­chen düstere Downer. So der ganz und gar zynische Une vie meilleure von Cédric Kahn (Feux rouges). Auf der Suche nach einem besseren Leben gerät das junge Paar Yann (arbeitslos) und Nadia (allein­er­zie­hend mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund) immer tiefer in die Schul­den­falle, bis sie nur noch das Verbre­chen vor dem Untergang retten kann. (Trailer zum Film) Oder Clip: Der unge­zähmte serbische Film zog hinein in die Abgründe jugend­li­cher Verzweif­lung. Familie kaputt, Schule egal, weitere Sinn­ent­lee­rung auf Sauf­par­ties, erste sexuelle »Erfah­rungen« in Form von Fleisch gewor­denen Alpträumen. Die Pornos, die dabei entstehen, filmen die Prot­ago­nisten mit dem eigenen Smart­phone und stellen sie dann ins Netz. Das ist weniger als eine Selbst­ent­blößung, viel mehr ein sich Zeigen, sich zur Schau stellen, um sich dabei zu behaupten, sich eine Identität zu geben. Selbst­fin­dung passiert hier immer nur auf medialem Umweg; die Selbst­ent­gren­zung dient einzig dazu, entspre­chenden »Content« der Selbst­ver­ge­wis­se­rung zu liefern. Die 28-jährige Regis­seurin Maja Milos hat aus der nackten Haut der Gene­ra­tion »Smart­phone« ein eindrucks­volles, unan­ge­nehm berüh­rendes Portrait geschaffen und wurde dafür mit einem Tiger-Award belohnt. (Trailer)

15.000 Euro hat sie bekommen, so hoch ist der Tiger-Award dotiert. Eine Menge Geld für junge Filme­ma­cher, so denkt man. Wie kost­spielig es aber ist, allein einen Inde­pen­dent-Film zu machen, der aussieht, als wäre er »mit Freunden« entstanden, zeigt das Beispiel von An Over­sim­pli­fi­ca­tion of Her Beauty des in New York lebenden Terence Nance. In ihm verliebt sich ein »quixotic young man« auf naive Weise in ein Mädchen und verliert sich dabei wie Don Quijote in seiner imaginären Welt. Hi8-Video, Anima­ti­ons­se­quenzen und Spiel­film­szenen mischen sich zur (psychi­schen) Lebens­welt des Prot­ago­nisten. Außerdem versucht er, die Ange­be­tene durch einen Kurzfilm von sich zu über­zeugen, der als Film-im-Film den roten Faden ergibt. An Over­sim­pli­fi­ca­tion ist in jedem Moment die jugend­liche, spie­le­ri­sche Leiden­schaft anzu­merken, mit der die Geschichte durch alle möglichen künst­le­ri­schen Ausdrucks­formen durch­de­kli­niert wird. Und bleibt dabei doch immer ernst, in dem Liebes­ver­langen, von dem er erzählt. Vor Rotterdam feierte An Over­sim­pli­fi­ca­tion seine Welt­pre­miere in Sundance, dem Festival schlechthin für den Inde­pen­dent-Film. Als Nance erfuhr, dass sein Film ange­nommen war, reali­sierte er konster­niert: »The challenge is that a rough cut of the film was accepted, so there is still a lot that needs to be done to get the film ready for the festival.« Für die Post­pro­duk­tion, die die Welt­pre­miere erfor­derte, startete er auf kick­starter.com einen Aufruf an die Internet-Community, insgesamt 20.000 Dollar zu spenden. Crowd­fun­ding als neue Art der Projekt­fi­nan­zie­rung, bei Kick­starter passiert dies im Alles-oder-Nichts-Prinzip: entweder gelingt es, die gesamte anvi­sierte Summe zu akqui­rieren, oder das Projekt geht komplett leer aus. Nance hatte Glück, über 400 Förderer gaben ihm Geld, die meisten von ihnen Privat­leute. Der Film wird jetzt weiter durch die Festivals touren, Ende September feiert er seine deutsche Premiere auf dem Film­fes­tival Hamburg. (Trailer) (Siehe zu dem Themen­kom­plex Krea­ti­vität und Internet-Community in Deutsch­land die lesens­werte Bestands­auf­nahme von Peter Haas und Silvia Hozinger »Kann man denn davon leben? – Erfolg­reiche Eigen­ver­mark­tung und Inter­ne­tö­ko­nomie«, Handbuch für unab­hän­gige Krea­tiv­ar­beiter, Verlag Il Mare)

Lies

Auf der Suche nach einer neuen Identität bleibt manchmal nur die Lüge, das Vorspielen falscher Tatsachen. Nicolas Provost, ein erfolg­rei­cher belgi­scher Video­künstler, hat letztes Jahr in Venedig seinen ersten Langfilm präsen­tiert, jetzt wurde The Invader in der Sektion »Bright Future« gezeigt. Er erzählt die Geschichte eines afri­ka­ni­schen Flücht­lings, der schiff­brüchig in Europa an den Strand gespült wird. Es ist ein Nudisten-Strand, und so ist das erste, was der gut gebaute Amadou bei seiner Ankunft erblickt, die nackte Schönheit einer weißen Frau. Natürlich ist dies die Umkehrung der »Wilden«-Thematik, wie einst die weißen Eroberer und Missio­nare trifft der schwarze »Invader« auf eine nicht versteh­bare Nacktheit, die er im weiteren Verlauf des Films als mehr oder minder explizite Einladung zum Sex inter­pre­tiert. Um diesen aber zu erreichen, um in den Körper der begeh­rens­werten weißen Frau »einzu­dringen«, muss Amadou sich eine erfundene Identität zulegen, so erkennt er bald. Dazu reiht Provost Klischee an Klischee und garniert seinen Film durch die Unwahr­schein­lich­keit. Was umso ärger­li­cher ist, als er ja zumindest von seiner Story her ein soziales, aktuelles poli­ti­sches Anliegen formu­liert.

Amadou arbeitet als Illegaler auf einer Baustelle in Brüssel, seine Bosse sind allesamt böse Ausnut­zer­schweine. Eines Tages sieht er Agnès, eine reiche Geschäfts­frau, die die Zusam­men­ar­beit mit den zwei­fel­haften Bauun­ter­neh­mern beendet. Amadou folgt ihr. Sie steigt in ein Taxi ein, er ihr hinterher, im Taxi (»folgen Sie dem Taxi!«). Bei einem Hotel der Upper class steigt sie aus, er hinterher. Sie verschwindet in einem Konfe­renz­raum im Erdge­schoss, er sitzt quasi schon drin, in der letzten Reihe. Dann geht sie wieder raus, er hinterher. Auf eine Zigarette kommen sie ins Gespräch. Sie: »Ich habe Sie gar nicht gesehen.« Er: »Ich saß ganz hinten im Dunkeln, dans le noir.« Kichern, das Eis ist gebrochen, Amadou hat seine Hautfarbe gesell­schaft­s­tüchtig ins Spiel gebracht. Als nächstes besorgt er sich bessere Klamotten, schaltet durch eine Finte den Partner eines Geschäfts­essen von Agnès aus, setzt sich an dessen Platz, und dann sind wir nur noch eine Szene vom unge­hemmten Sex der reichen weißen Frau mit dem großen, starken, faszi­nie­renden Schwarzen entfernt.

Das Ganze funk­tio­niert nur unter Vorspie­ge­lung falscher Tatsachen, Agnès hält ihn für ihres­glei­chen, er sagt, er sei Unter­nehmer im »Import – Export«-Bereich. Bald aber kommt Agnès ihm auf die Schliche, und Amadou wandelt sich zum berser­kernden Wilden, der aufgrund von Liebes­ver­zweif­lung plötzlich seinen ganzen intel­li­genten Schneid verliert, der ihn vorher charak­te­ri­sierte.

Was, bitte, will dieser Film? Über die Ausnut­zung von aktueller Proble­ma­tiken schafft Provost eine stili­sierte Welt der Reichen, in der sich der Schwarze als ange­nehmer, Kontrast schaf­fender Stör­faktor ausnimmt. Ihm geht es ums reine Clair-obscur, um die Schwarz­weiß­ma­lerei, für die er gnadenlos ein brisantes Themen­feld ausnutzt. (Film­aus­schnitt)

Seltsam war auch der Gewin­n­er­film von San Sebastian, Los pasos dobles, des Basken Isaki Lacuesta. Über eine verschlun­gene Konstruk­tion erzählt er von dem fran­zö­si­schen Schrift­steller und Maler François Augiéras, der eine Höhle in Mali mit Fresken versah und so die »Sixti­ni­sche Kapelle der Wüste« schuf. Der Film erzählt die Entste­hung dieser Höhlen­ma­lerei in der Hinwen­dung zu einem Afrika als »Wiege der Mensch­heit«. Ein kolo­nia­lis­tisch verbrämtes Bild vom kreativen Afrikaner mani­fes­tiert sich hier, der auch durch Natur­drogen in andere Sphären gelangt, undurch­sich­tige Sphären, die geheim­nis­voll sind, und die sich dem Europäer verschließen. Los pasos dobles geht es vor allem um den ästhe­ti­schen Über­schuss, den er kreiert. Er will Mythos, denn wir sind in Afrika, im Land der rituellen Hand­lungen und der ersten Symbol­sprache. Wie auch schon The Invader ist Los pasos dobles eine äußerst zwei­fel­hafte »Entde­ckung« des schwarzen Konti­nents als Projek­ti­ons­fläche für unsere Back-to-the-roots-Fantasien. (Trailer)

Ärgerlich waren in diesem Zusam­men­hang auch die L’Art-pour-l’art-Projekte, die auch dieses Jahr wieder im Programm vertreten waren, wenn die Filme­ma­cher ihre künst­le­ri­sche Position deutlich über ein soziales Anliegen drüber stülpten. So gesehen zum Beispiel in Corta des Kolum­bia­ners Felipe Guerrero. Sein Film über Arbeiter in einem Zucker­rohr­feld zeigt in starr kadrierten Kame­ra­ein­stel­lungen – und jeweils in der Länge einer 16mm-Rolle – die physi­schen Qualen der Zucker­rohr­ernte. Zwischen die einzelnen Tableaus vivants lässt der Filme­ma­cher die »stochas­ti­sche« Musik von Iannis Xenakis zu expe­ri­men­tellen Licht­blitzen ertönen. Dies eine fast zynische Über­höhung sozialer Wirk­lich­keit zu Kunst. Ignoriert wird hier, dass doch gerade die künst­le­ri­schen Video-Arbeiten sich seit Jahren bereit­willig doku­men­ta­ri­schen Formen und Inhalten öffnen und keine Angst mehr haben vor »Impu­rismus« oder dem Verlust des Status als Kunstwerk. (Trailer)

Video Tapes

Der Chilene José Luis Torres Leiva wurde mit seinen letzten Filmen in die Arthouse-Gemein­schaft des Kinos aufge­nommen. El cielo, la tierra, y la lluvia, vom Rotter­damer Hubert Bals Fund gefördert, lief bei uns ganz normal in den Kinosälen, was eher eine Ausnahme ist für die Filme­ma­cher aus den soge­nannten Schwel­len­län­dern. Jetzt war sein neuester Film, Verano, zu sehen, und anders als seine Bild-Elogen auf 35mm hat Torres Leiva hier bewusst auf eine minder­wer­tige Bildäs­t­hetik gesetzt. Mit einer Hi8-Kamera, seiner eigenen, ersten Video­ka­mera, wie er im Gespräch glaubhaft versi­chert, ist er an den Ort seiner Kindheit zurück­ge­kehrt, wo er mit seiner Oma immer die Sommer­fe­rien verbracht hat.

Für ihn ist Hi8 ganz klar das Erin­ne­rungs­format für die 80er Jahre, so wie Super8 das Format für die Kindheit in den 70ern steht. Und es funk­tio­niert sehr gut. Anfäng­lich ist man empört über die schlechte Bild­qua­lität, über das Verschwom­mene, Kontu­ren­lose der Bilder. Bald aber zeigt sich, dass sich die Billig-Ästhetik der Geschichte fügt, die der Film zu erzählen hat, eine sehr lose Neben­ein­an­der­stel­lung von Menschen, die sich in einer Umbruchs­phase befinden: Was wollen sie vom Leben? In welche Richtung soll es weiter­gehen? Sollen sie noch einmal durch­starten, neu ansetzen oder verfolgen sie den Weg, den sie in ihrem Leben einge­schlagen haben? Torres Leiva schafft ein unprä­ten­tiöses, uneitles Dokument viel­leicht seiner eigenen Midlife-Crises, in das sich über das gewählte Medium, dem Video Tape, sehr viel Melan­cholie mischt: es wird nie wieder so sein, wie es gerade ist. Aber das erkennen wir nur in der Rückschau, wenn wir uns die Aufahmen von »damals« ansehen. (Trailer)

Virtuos geht Eric Baude­laire mit dem anderen Format um, das Erin­ne­rung signa­li­siert. In seinem Film L’anabase de May et Fusako Shigenobu, Asao Adachi et 27 années sans images, kurz: L’anabase lässt er aus den Erin­ne­rungen von May, Tochter der Gründerin der Japa­ni­schen Roten Armee, die Zeit entsteigen, als diese 27 Jahre im Libanon unter­tauchte. May wurde in diese Situation hinein­ge­boren, musste ihre japa­ni­sche Abstam­mung verkleiden, wuchs wie eine aus Beirut auf. Hinzu kommen die Erin­ne­rungen des japa­ni­schen Regis­seurs Adachi Masao, der über Jahre in Beirut lebte und Sprecher der JRA war. Baude­laire hat für die Zeit, zu der es keine Bilder geben durfte, einen imaginären Bilder­reigen auf Super-8 geschaffen, aus Aufnahmen aus dem heutigen Beirut und Tokio. Sie lässt er laufen, während aus dem Off erzählt wird, wie May sich eine arabische Existenz gab, wie die Rückkehr nach Tokio sie zum ersten Mal mit ihrer wahren Identität konfron­tierte, wie die JRA Flugzeug entführte, sich die Kämpfer der Japa­ni­schen Roten Armee dem paläs­ti­nen­si­schen Befrei­ungs­kampf anschlossen. Zugleich sind die Super-8-Aufnahmen Bilder aus der heutigen Umbruchs­zeit: Sie zeigen zerschos­sene Häuser, die abge­rissen werden, um einer neuen Zukunft Platz zu machen, einer fried­vollen Zukunft viel­leicht, die aber in der Sicht auf die Vergan­gen­heit in jedem Moment trüge­risch erscheint. (Film­aus­schnitt)

Unter­tau­chen als Exis­tenz­form in der Krise. Die größte Krise, die wir alle im Laufe unseres Lebens erfahren, ist vermut­lich die Umbruchs­zeit des Coming-of-Age, wenn wir der Kindheit entwachsen. Das Duo Harald Hund und Paul Horn bringt dies eindrucks­voll in seinem Kurzfilm Apnoe auf den Punkt. Wir sehen eine normale Familie im Leben unter Extrem­be­din­gungen, unter der Form der Schwe­re­lo­sig­keit, die unter Wasser herrscht. Corn­flakes schweben durch die »Luft«, das Tanzen in der Disko wird für die halb­erwach­sene Tochter zur atem­be­rau­benden Heraus­for­de­rung. Zwischen­durch, das ist klar, müssen wir nach Luft schnappen, um die Krise auszu­halten. Ihr aber entkommen, das können wir nicht.