Sex, Lies & Video Tapes |
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Atemberaubend: Apnoe von Hund & Horn |
Von Dunja Bialas
Feierte Rotterdam letztes Jahr noch ein XL-Jubiläum, so herrschte im Jahre eins nach dem 40. Katerstimmung. Der Etat des größten europäischen Nachwuchsfestivals wurde um 10 Prozent auf nun mehr knapp eine Million Euro gekürzt, daraus resultierte eine sichtbare Verschlankung des Programms. Ausgerechnet in der wichtigsten Sektion des Festivals wurde das Programm um 20 Prozent geschrumpft: »Bright Future«, das seit jeher mit seinem Tiger-Wettbewerb und den Newcomer-Filmen ein viel beobachteter Talente-Kader ist, verkleinerte sich wie die dahin schmelzenden Eisplatten an der Arktis. Die jungen Filmemacher müssen angesichts der kleiner werdenden Plattform erkennen: Die Zukunft ist gar nicht mehr so hell, strahlend und verheißungsvoll, wie »Bright Future« verheißt, es wird ganz schön eng im Nachwuchs-Biotop.
Grundsätzlich kann man natürlich den Ansatz in Zweifel ziehen, eine ganze Generation neuer Filmemacher zu kreieren, deren Filme hauptsächlich nur von Festivals gezeigt werden. So findet man in Anträgen um Filmfinanzierung bei offiziellen Stellen den Hinweis auf entsprechende Screening fees (also Filmmieten), die Festivals gemeinhin zahlen; eine prozentuale Gegenfinanzierung der Filmprojekte allein durch den Festival-Zirkus sei gewährleistet. Filme nur für Festivals? Kann dies die Zukunft des Filmschaffens sein? Eine Frage, die sich auch an die Kinolandschaft im Allgemeinen richtet. Und wenn dann Festivalleiter Rutger Wolfson im Interview konstatiert: »there are tough times for arthouse cinema«, dann spätestens wissen wir, dass es für viele junge Filmemacher gerade keinen anderen Weg gibt, als sich an die Fördertöpfe der Festivals dranzuhängen.
Die Krise ist im Kino angekommen. Auch inhaltlich. Viele der Filme, die dieses Jahr in Rotterdam zu sehen waren, waren ausgesprochen düstere Downer. So der ganz und gar zynische Une vie meilleure von Cédric Kahn (Feux rouges). Auf der Suche nach einem besseren Leben gerät das junge Paar Yann (arbeitslos) und Nadia (alleinerziehend mit Migrationshintergrund) immer tiefer in die Schuldenfalle, bis sie nur noch das Verbrechen vor dem Untergang retten kann. (Trailer zum Film) Oder Clip: Der ungezähmte serbische Film zog hinein in die Abgründe jugendlicher Verzweiflung. Familie kaputt, Schule egal, weitere Sinnentleerung auf Saufparties, erste sexuelle »Erfahrungen« in Form von Fleisch gewordenen Alpträumen. Die Pornos, die dabei entstehen, filmen die Protagonisten mit dem eigenen Smartphone und stellen sie dann ins Netz. Das ist weniger als eine Selbstentblößung, viel mehr ein sich Zeigen, sich zur Schau stellen, um sich dabei zu behaupten, sich eine Identität zu geben. Selbstfindung passiert hier immer nur auf medialem Umweg; die Selbstentgrenzung dient einzig dazu, entsprechenden »Content« der Selbstvergewisserung zu liefern. Die 28-jährige Regisseurin Maja Milos hat aus der nackten Haut der Generation »Smartphone« ein eindrucksvolles, unangenehm berührendes Portrait geschaffen und wurde dafür mit einem Tiger-Award belohnt. (Trailer)
15.000 Euro hat sie bekommen, so hoch ist der Tiger-Award dotiert. Eine Menge Geld für junge Filmemacher, so denkt man. Wie kostspielig es aber ist, allein einen Independent-Film zu machen, der aussieht, als wäre er »mit Freunden« entstanden, zeigt das Beispiel von An Oversimplification of Her Beauty des in New York lebenden Terence Nance. In ihm verliebt sich ein »quixotic young man« auf naive Weise in ein Mädchen und verliert sich dabei wie Don Quijote in seiner imaginären Welt. Hi8-Video, Animationssequenzen und Spielfilmszenen mischen sich zur (psychischen) Lebenswelt des Protagonisten. Außerdem versucht er, die Angebetene durch einen Kurzfilm von sich zu überzeugen, der als Film-im-Film den roten Faden ergibt. An Oversimplification ist in jedem Moment die jugendliche, spielerische Leidenschaft anzumerken, mit der die Geschichte durch alle möglichen künstlerischen Ausdrucksformen durchdekliniert wird. Und bleibt dabei doch immer ernst, in dem Liebesverlangen, von dem er erzählt. Vor Rotterdam feierte An Oversimplification seine Weltpremiere in Sundance, dem Festival schlechthin für den Independent-Film. Als Nance erfuhr, dass sein Film angenommen war, realisierte er konsterniert: »The challenge is that a rough cut of the film was accepted, so there is still a lot that needs to be done to get the film ready for the festival.« Für die Postproduktion, die die Weltpremiere erforderte, startete er auf kickstarter.com einen Aufruf an die Internet-Community, insgesamt 20.000 Dollar zu spenden. Crowdfunding als neue Art der Projektfinanzierung, bei Kickstarter passiert dies im Alles-oder-Nichts-Prinzip: entweder gelingt es, die gesamte anvisierte Summe zu akquirieren, oder das Projekt geht komplett leer aus. Nance hatte Glück, über 400 Förderer gaben ihm Geld, die meisten von ihnen Privatleute. Der Film wird jetzt weiter durch die Festivals touren, Ende September feiert er seine deutsche Premiere auf dem Filmfestival Hamburg. (Trailer) (Siehe zu dem Themenkomplex Kreativität und Internet-Community in Deutschland die lesenswerte Bestandsaufnahme von Peter Haas und Silvia Hozinger »Kann man denn davon leben? – Erfolgreiche Eigenvermarktung und Internetökonomie«, Handbuch für unabhängige Kreativarbeiter, Verlag Il Mare)
Auf der Suche nach einer neuen Identität bleibt manchmal nur die Lüge, das Vorspielen falscher Tatsachen. Nicolas Provost, ein erfolgreicher belgischer Videokünstler, hat letztes Jahr in Venedig seinen ersten Langfilm präsentiert, jetzt wurde The Invader in der Sektion »Bright Future« gezeigt. Er erzählt die Geschichte eines afrikanischen Flüchtlings, der schiffbrüchig in Europa an den Strand gespült wird. Es ist ein Nudisten-Strand, und so ist das erste, was der gut gebaute Amadou bei seiner Ankunft erblickt, die nackte Schönheit einer weißen Frau. Natürlich ist dies die Umkehrung der »Wilden«-Thematik, wie einst die weißen Eroberer und Missionare trifft der schwarze »Invader« auf eine nicht verstehbare Nacktheit, die er im weiteren Verlauf des Films als mehr oder minder explizite Einladung zum Sex interpretiert. Um diesen aber zu erreichen, um in den Körper der begehrenswerten weißen Frau »einzudringen«, muss Amadou sich eine erfundene Identität zulegen, so erkennt er bald. Dazu reiht Provost Klischee an Klischee und garniert seinen Film durch die Unwahrscheinlichkeit. Was umso ärgerlicher ist, als er ja zumindest von seiner Story her ein soziales, aktuelles politisches Anliegen formuliert.
Amadou arbeitet als Illegaler auf einer Baustelle in Brüssel, seine Bosse sind allesamt böse Ausnutzerschweine. Eines Tages sieht er Agnès, eine reiche Geschäftsfrau, die die Zusammenarbeit mit den zweifelhaften Bauunternehmern beendet. Amadou folgt ihr. Sie steigt in ein Taxi ein, er ihr hinterher, im Taxi (»folgen Sie dem Taxi!«). Bei einem Hotel der Upper class steigt sie aus, er hinterher. Sie verschwindet in einem Konferenzraum im Erdgeschoss, er sitzt quasi schon drin, in der letzten Reihe. Dann geht sie wieder raus, er hinterher. Auf eine Zigarette kommen sie ins Gespräch. Sie: »Ich habe Sie gar nicht gesehen.« Er: »Ich saß ganz hinten im Dunkeln, dans le noir.« Kichern, das Eis ist gebrochen, Amadou hat seine Hautfarbe gesellschaftstüchtig ins Spiel gebracht. Als nächstes besorgt er sich bessere Klamotten, schaltet durch eine Finte den Partner eines Geschäftsessen von Agnès aus, setzt sich an dessen Platz, und dann sind wir nur noch eine Szene vom ungehemmten Sex der reichen weißen Frau mit dem großen, starken, faszinierenden Schwarzen entfernt.
Das Ganze funktioniert nur unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, Agnès hält ihn für ihresgleichen, er sagt, er sei Unternehmer im »Import – Export«-Bereich. Bald aber kommt Agnès ihm auf die Schliche, und Amadou wandelt sich zum berserkernden Wilden, der aufgrund von Liebesverzweiflung plötzlich seinen ganzen intelligenten Schneid verliert, der ihn vorher charakterisierte.
Was, bitte, will dieser Film? Über die Ausnutzung von aktueller Problematiken schafft Provost eine stilisierte Welt der Reichen, in der sich der Schwarze als angenehmer, Kontrast schaffender Störfaktor ausnimmt. Ihm geht es ums reine Clair-obscur, um die Schwarzweißmalerei, für die er gnadenlos ein brisantes Themenfeld ausnutzt. (Filmausschnitt)
Seltsam war auch der Gewinnerfilm von San Sebastian, Los pasos dobles, des Basken Isaki Lacuesta. Über eine verschlungene Konstruktion erzählt er von dem französischen Schriftsteller und Maler François Augiéras, der eine Höhle in Mali mit Fresken versah und so die »Sixtinische Kapelle der Wüste« schuf. Der Film erzählt die Entstehung dieser Höhlenmalerei in der Hinwendung zu einem Afrika als »Wiege der Menschheit«. Ein kolonialistisch verbrämtes Bild vom kreativen Afrikaner manifestiert sich hier, der auch durch Naturdrogen in andere Sphären gelangt, undurchsichtige Sphären, die geheimnisvoll sind, und die sich dem Europäer verschließen. Los pasos dobles geht es vor allem um den ästhetischen Überschuss, den er kreiert. Er will Mythos, denn wir sind in Afrika, im Land der rituellen Handlungen und der ersten Symbolsprache. Wie auch schon The Invader ist Los pasos dobles eine äußerst zweifelhafte »Entdeckung« des schwarzen Kontinents als Projektionsfläche für unsere Back-to-the-roots-Fantasien. (Trailer)
Ärgerlich waren in diesem Zusammenhang auch die L’Art-pour-l’art-Projekte, die auch dieses Jahr wieder im Programm vertreten waren, wenn die Filmemacher ihre künstlerische Position deutlich über ein soziales Anliegen drüber stülpten. So gesehen zum Beispiel in Corta des Kolumbianers Felipe Guerrero. Sein Film über Arbeiter in einem Zuckerrohrfeld zeigt in starr kadrierten Kameraeinstellungen – und jeweils in der Länge einer 16mm-Rolle – die physischen Qualen der Zuckerrohrernte. Zwischen die einzelnen Tableaus vivants lässt der Filmemacher die »stochastische« Musik von Iannis Xenakis zu experimentellen Lichtblitzen ertönen. Dies eine fast zynische Überhöhung sozialer Wirklichkeit zu Kunst. Ignoriert wird hier, dass doch gerade die künstlerischen Video-Arbeiten sich seit Jahren bereitwillig dokumentarischen Formen und Inhalten öffnen und keine Angst mehr haben vor »Impurismus« oder dem Verlust des Status als Kunstwerk. (Trailer)
Der Chilene José Luis Torres Leiva wurde mit seinen letzten Filmen in die Arthouse-Gemeinschaft des Kinos aufgenommen. El cielo, la tierra, y la lluvia, vom Rotterdamer Hubert Bals Fund gefördert, lief bei uns ganz normal in den Kinosälen, was eher eine Ausnahme ist für die Filmemacher aus den sogenannten Schwellenländern. Jetzt war sein neuester Film, Verano, zu sehen, und anders als seine Bild-Elogen auf 35mm hat Torres Leiva hier bewusst auf eine minderwertige Bildästhetik gesetzt. Mit einer Hi8-Kamera, seiner eigenen, ersten Videokamera, wie er im Gespräch glaubhaft versichert, ist er an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt, wo er mit seiner Oma immer die Sommerferien verbracht hat.
Für ihn ist Hi8 ganz klar das Erinnerungsformat für die 80er Jahre, so wie Super8 das Format für die Kindheit in den 70ern steht. Und es funktioniert sehr gut. Anfänglich ist man empört über die schlechte Bildqualität, über das Verschwommene, Konturenlose der Bilder. Bald aber zeigt sich, dass sich die Billig-Ästhetik der Geschichte fügt, die der Film zu erzählen hat, eine sehr lose Nebeneinanderstellung von Menschen, die sich in einer Umbruchsphase befinden: Was wollen sie vom Leben? In welche Richtung soll es weitergehen? Sollen sie noch einmal durchstarten, neu ansetzen oder verfolgen sie den Weg, den sie in ihrem Leben eingeschlagen haben? Torres Leiva schafft ein unprätentiöses, uneitles Dokument vielleicht seiner eigenen Midlife-Crises, in das sich über das gewählte Medium, dem Video Tape, sehr viel Melancholie mischt: es wird nie wieder so sein, wie es gerade ist. Aber das erkennen wir nur in der Rückschau, wenn wir uns die Aufahmen von »damals« ansehen. (Trailer)
Virtuos geht Eric Baudelaire mit dem anderen Format um, das Erinnerung signalisiert. In seinem Film L’anabase de May et Fusako Shigenobu, Asao Adachi et 27 années sans images, kurz: L’anabase lässt er aus den Erinnerungen von May, Tochter der Gründerin der Japanischen Roten Armee, die Zeit entsteigen, als diese 27 Jahre im Libanon untertauchte. May wurde in diese Situation hineingeboren, musste ihre japanische Abstammung verkleiden, wuchs wie eine aus Beirut auf. Hinzu kommen die Erinnerungen des japanischen Regisseurs Adachi Masao, der über Jahre in Beirut lebte und Sprecher der JRA war. Baudelaire hat für die Zeit, zu der es keine Bilder geben durfte, einen imaginären Bilderreigen auf Super-8 geschaffen, aus Aufnahmen aus dem heutigen Beirut und Tokio. Sie lässt er laufen, während aus dem Off erzählt wird, wie May sich eine arabische Existenz gab, wie die Rückkehr nach Tokio sie zum ersten Mal mit ihrer wahren Identität konfrontierte, wie die JRA Flugzeug entführte, sich die Kämpfer der Japanischen Roten Armee dem palästinensischen Befreiungskampf anschlossen. Zugleich sind die Super-8-Aufnahmen Bilder aus der heutigen Umbruchszeit: Sie zeigen zerschossene Häuser, die abgerissen werden, um einer neuen Zukunft Platz zu machen, einer friedvollen Zukunft vielleicht, die aber in der Sicht auf die Vergangenheit in jedem Moment trügerisch erscheint. (Filmausschnitt)
Untertauchen als Existenzform in der Krise. Die größte Krise, die wir alle im Laufe unseres Lebens erfahren, ist vermutlich die Umbruchszeit des Coming-of-Age, wenn wir der Kindheit entwachsen. Das Duo Harald Hund und Paul Horn bringt dies eindrucksvoll in seinem Kurzfilm Apnoe auf den Punkt. Wir sehen eine normale Familie im Leben unter Extrembedingungen, unter der Form der Schwerelosigkeit, die unter Wasser herrscht. Cornflakes schweben durch die »Luft«, das Tanzen in der Disko wird für die halberwachsene Tochter zur atemberaubenden Herausforderung. Zwischendurch, das ist klar, müssen wir nach Luft schnappen, um die Krise auszuhalten. Ihr aber entkommen, das können wir nicht.