04.02.2016

Im Glashaus des Begehrens

Accademia delle muse
Durch Glas hindurch gefilmt: L’ACCADEMIA DELLE MUSE

Das internationale Filmfestival von Rotterdam zeigt einen bestechend schönen Film, in dem unglaublich viel geredet wird: L’Accademia delle Muse, ein meisterlicher Kinostreich von José Luís Guerín

Von Dunja Bialas

Es ist ein Gedan­ken­ex­pe­ri­ment, das sich beim dies­jäh­rigen, wie gewohnt heraus­ra­genden Festival von Rotterdam auf die Leinwand gießt. Der kata­la­ni­sche Regisseur José Luis Guerín hat sich schon immer für die Frauen und die Kraft der Verfüh­rung inter­es­siert, jetzt lässt er sich in L’Accademia delle Muse von der Vorlesung des Lite­ra­tur­pro­fes­sors Raffaele Pinto an der Univer­sität Barcelona zu Dante, Beatrice und das Musen­kon­zept verführen. Gemeinsam mit ihm und seinen Studen­tinnen initiiert Guerín ein Projekt, in dem es um die Wieder­be­le­bung der Musen­tra­di­tion geht. Das fordert Wider­spruch und Diskus­sionen heraus, denen Guerín in seinem Film Raum gibt: Das Konzept der Musen ist eine auf den ersten Blick überholte und anti-femi­nis­ti­sche Idee über das Entstehen von Kultur durch weibliche Inspi­ra­tion. Im patri­ar­chalen Vorle­sungs­saal der Univer­sität will Pinto das Konzept nun femi­nis­tisch deuten: Demnach wären die Frauen Subjekte und Urhe­be­rinnen des Univer­sums und der Kultur, der Mann wäre nur das Medium oder Sprach­rohr ihrer Ideen.

Die Insze­nie­rung spiegelt aufs Meis­ter­liche die Anordnung des Projekts wieder. Ausgehend von der doku­men­ta­ri­schen und reali­täts­ver­haf­teten Situation im Hörsaal, in dem der Professor seine Vorlesung hält, gleitet L’Accademia delle Muse in die Fiktion hinüber und lässt auf geniale Art sein eigenes Thema zur Geschichte seiner Kreation werden. Die Studen­tinnen entstammen zwar dem realen Seminar, sind jedoch auch gleich­zeitig gecastet, die Dialoge, entlang derer sich der Film entfaltet, sind in Gueríns Methode der Mise en situation zwar nicht insze­niert, so doch in einer herge­stellten Situation impro­vi­siert. Mit gedank­li­chen Einwürfen drängen die Studen­tinnen von den Rängen des Hörsaals im Gegen­schnitt in die Vorlesung des Profes­sors und über­nehmen allmäh­lich als kine­ma­to­gra­phi­sche Figuren die Direktive der Erzählung. Dies erinnert an frühere Filme des Regis­seurs, so an En la ciudad de Sylvia (In der Stadt von Sylvia, 2007), wo er sich ebenfalls durch Dante und seine Muse Beatrice leiten ließ und die Stadt als große Bühne der Verfüh­rung insze­nierte.

In L’Accademia delle Muse setzt Guerín Innen­räume als Gedan­ken­räume in Szene. Mini­ma­lis­tisch im Stil, konzen­triert er sich auf das gespro­chene Wort – es wird beinahe unun­ter­bro­chen geredet – und überlässt den Prot­ago­nis­tinnen in nahen Portrait-Shots die Dimen­sionen der Leinwand. Gleich­zeitig arbeitet er mit Spie­ge­lungen, filmt oft durchs Fenster und zeigt die ausge­schlos­sene Welt auf den Scheiben der im Glaushaus ihres Wort-Begehrens Sitzenden. Viel wird auf theo­re­ti­scher Basis verhan­delt, ohne dass der Film jedoch thesen­haft würde. Es geht um Diskurs­ent­fal­tung und leiden­schaft­liche Diskus­sionen, die Begehren, Sexua­lität, Liebe und Inspi­ra­tion verhan­deln. Die Figuren sind, bezeich­nen­der­weise bis auf den real-doku­men­ta­ri­schen Professor, dem das Projekt im Laufe des Films über den Kopf zu wachsen scheint, sehr sinnlich, mit wie im Halb­schlaf flat­ternden Augen­li­dern, schnee­witt­chen­haftem Teint oder dem silber­grauen Haar der Ehefrau und ihren ironi­schen Mund­win­keln.

Die Figuren bespielen als unter­schied­liche Musen-Perso­ni­fi­ka­tionen das Expe­ri­ment, hauchen ihm Szenen und Leben ein. Da ist die Geliebte, die klas­si­sche, fast schon klischee­haft geratene Muse, die dem Professor, nur in ein Handtuch gewickelt und mit nassem Haar in einem Hotel­zimmer Einfälle schenkt, während er am Schreib­tisch sitzt und sich Notizen macht. Da ist dessen Frau, die ihn im häus­li­chen Raum daran erinnert, dass die Liebe nur eine Erfindung der Literatur ist und sich über ihren Mann mokiert, der die Bücher im Regal umstellt, um eine Neuord­nung im Gefühls­leben auszu­drü­cken. Die Studen­tinnen disku­tieren im lichten Innenhof der Univer­sität die Virtua­lität und Vergeb­lich­keit der Chatroom-Liebe, die fast reinste Form des Musen­kusses, die allein aufgrund von Worten Begehren und wiederum Text erzeugt. Außerdem lassen sie Wort­neu­schöp­fungen in ihre Lyrik­ver­suche fließen, die sie im Sprech­stun­den­zimmer dem Professor vortragen, um ihn zu beein­dru­cken und zu seiner neuen Muse zu werden. Das ist der Wett­streit des Expe­ri­ments.

Gear­beitet hat Guerín auf der Grundlage von Inter­views, die er mit dem Professor und den Studen­tinnen geführt hat, einer Ansamm­lung von Dialog­vor­gaben, jedoch noch ohne zu wissen, ob jemals ein Film daraus werde. Ein No-Budget-Projekt, mit dem sich Guerín die komplette Autonomie künst­le­ri­scher Freiheit behielt, eine notwen­dige Voraus­set­zung für das filmische Expe­ri­ment, das sich selbst der Musen-Idee aussetzte: Vom Regisseur initiiert, wurde das Projekt zu dessen eigener Inspi­ra­ti­ons­quelle. Filmen, Schneiden und Schreiben wech­selten einander ab, und so entstand nach und nach, als work in progress, der Film.

In jeder seiner Einstel­lungen akzen­tu­iert Guerín das Vorläu­fige, Tastende des Expe­ri­ments, nicht wissend, was am Ende heraus­kommen werde. Das ist durch und durch philo­so­phi­sches Filmen: Hinter den Glas­scheiben finden sich Räume des Denkens, hier wird den Gedanken bei der Arbeit zugesehen und beob­achtet, wie sie allmäh­lich auf das Leben, auf die Praxis einwirken. Der Filmraum gestaltet sich demgemäß als ein Labo­ra­to­rium, das sich am Ende im Wider­streit seiner Kräfte erschöpft. Die Trans­pa­renz der Bilder und Gedanken weicht dem Regen, der auf das Auto­fenster prasselt und die Sicht auf den Innenraum nimmt, in dem sich Tragi­sches abspielt.

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Nach En cons­truc­ción, mit dem José Luis Guerín schlag­artig inter­na­tional bekannt wurde, En la ciudad de Sylvia und seinem Gegen­s­tück Unas fotos en la ciudad de Sylvia, die alle auf dem IFF Rotterdam zu sehen waren, ist L’Accademia delle Muse ein weiteres Bravour­s­tück des Katalanen. Die hollän­disch-kata­la­ni­sche Liaison ist sicher­lich noch nicht vorbei!