Die Unterwelt von Oberhausen |
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Hauptpreis des Internationalen Wettbewerbs für Gangster Backstage |
Mit dem Staunen, so heißt es, beginnt das Denken. Aber nicht nur das – auch das Kino wird erst richtig interessant, wenn man staunen kann. Wenn man in der letzten Woche die berühmten Internationalen Kurzfilmtage in der traditionsreichen Zechen- und Arbeiterstadt Oberhausen besuchte, dann traf man auf viele Gründe, sich produktiv zu wundern, zu staunen und nachzudenken.
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Es war 1954, Deutschland hatte gerade sein Fußball-Weltmeisterwunder von Bern erlebt, da fanden die Westdeutschen Kurzfilmtage erstmals in Oberhausen statt. Schnell mauserte sich die Veranstaltung zu einer schau mit höchstem Renommee – und heute ist Oberhausen das bedeutendste Kurzfilmfestival der Welt, weit über Kino- und Filmkreise hinaus auch bekannt in der Kunst-, Musik- und Wissenschaftsszene.
Denn längst, das merkt man bei einem Kurzfilmfestival besser
als bei einem Festival für Langfilme, verlässt der Film den zu eng gewordenen und immer weiter schrumpfenden Raum des Kinos, und hat Einzug gehalten ins Internet, ins Museum, in Seminarräume und Hörsäle der Universitäten. Und gerade der Kurzfilm, also Filme zwischen wenigen Sekunden und mindestens 45 Minuten, ist viel flexibler als das starre 90-Minutenformat der Spielfilme.
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Von Anfang an bewies Oberhausen in seiner Geschichte eine sichere und mutige Hand bei der Auswahl. Gleich im ersten Jahr spielte man Alain Resnais umstrittenen Holocaust-Klassiker Nacht und Nebel, gegen den die Bonner Regierung gerade wenige Wochen zuvor noch in Cannes wütend protestiert hatte – ein btw heute in seiner verstockten Unbelehrbarkeit unvorstellbarer Vorgang.
Aber warum eigentlich ausgerechnet in der Arbeiterstadt Oberhausen? Genau darum! Gründer der Kurzfilmtage war seinerzeit Hilmar Hoffmann, als Kulturpolitiker ein Revolutionär der bundesdeutschen Kulturpolitik. Kulturpolitik steht für Hoffmann unter dem Motto »Kultur für alle!« Und das ließ sich an diesem Ort besonders gut praktizieren. Nicht um elitäre Veranstaltungen gehe es bei Kultur, sondern um Bildung und sozialen Kitt.
In Oberhausen erzählte die 88-jährige lebende Legende jetzt noch einmal die besten Anekdoten seiner Amtszeit als Direktor der Kurzfilmtage und Kulturdezernent bis 1970 – eine Kabarett-reife Veranstaltung, bei der Hoffmann immer wieder für fassungsloses Staunen wie für Lachsalven unter dem jungen Oberhausener Publikum sorgte, etwa bei seiner Schilderung der Ereignisse um den Skandalfilm des Unruhejahres 1968, Helmuth Costards Besonders wertvoll.
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Die Eröffnung war wohlausgewogen, würdig und warmherzig. Nur der Vortragsstil der Kurzeinlagen von Herbert Fritsch war unpassend, denn Fritsch las Briefe des CDU-Innenministers Höcherl wie Texte von Handke in der gleichen unpassenden Diktion, die am ehesten noch an Reden von Nazis erinnerten, statt sie zu ironisieren, oder sanft der eigenen Lächerlichkeit preiszugeben.
Einige Glanzstücke der alten Programme wurden zur Eröffnung gezeigt, und neben den kuriosen
Briefauszügen gab es Grußworte von Regisseuren wie Werner Herzog und Klaus Lemke, dem ungarischen Oscargewinner Istvan Szabo und George Lucas. Sie alle hatten, wie so viele andere, wie Polanski und Godard, Scorsese und Cate Shortland ihre Karrieren an der Talentschmiede Kurzfilmtage begründet.
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Einer der interessantesten Sätze kam von NRW-Ministerpräsidentin Kraft: »Den kommerziell erfolgreichen Film gäbe es nicht ohne breite künstlerische Basis.«
Hintersinnig, denn die Funktionäre argumentieren gern genau umgekehrt.
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Man ist hier bis heute gewollt Anti-Establishment und ein Bollwerk gegen die »Diktatur des Mehrheitsgeschmacks« wie es der heutige Leiter Lars Henrik Gass in seiner Rede nannte. »Wer jedem gefallen will, sieht so aus, wie deutsches Fernsehen zur prime time.«
Das Festival gilt der Filmwirtschaft als Kunst und der Kunstwelt als Film.
In Oberhausen laufen nach wie vor nur ästhetisch besondere und gute Filme – aber aller Art, aller Längen vom abstrakten Experimentalfilm
bis zur Dokumentation. Im Programm wie in den begleitenden hochinteressanten Diskussionsveranstaltungen bemüht man sich auch immer besonders um die Frage der Zukunft des Mediums und des Kinos als Raum einmaliger Möglichkeiten und Erfahrungen, als Kulturtechnik. »Jetzt entscheidet sich, was das Kino uns als Kulturtechnik wert ist.«
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In diesem Jahr spürt die Retrospektive darum nicht in einer Nabelschau der eigenen Geschichte nach, sondern dem nur auf den ersten Blick absurden Thema des Films ohne Film, dem, was im Kino jenseits des Films und digitaler Projektion möglich ist: Exercises in cinematic reduction. Da begegnete man dann einer Projektionsperformance von Vally Export, einem Panorama aus dem 19. Jahrhundert oder dem Filmregisseur Walter Ruttmann (Berlin – Die Symphonie der Großstadt): Weekend heißt Ruttmanns »Film ohne Bild« aus dem Jahr 1930. Es war ein rein technisches Experiment für den ganz neuen Filmton, lief aber bald deutschlandweit im Radio als Hörspiel – und funktioniert heute als Beispiel klassischer avantgardistischer Montagekunst, der hypermodernen Zusammenfügung des Unvereinbaren.
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Eine Leinwand blieb weiß und das Publikum sollte mal wieder »Stille aushalten«. Dann flogen Papierflieger und es durfte kindisch sein. Ach...
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Im Ergebnis war die Retrospektive unbefriedigend, oft bemüht und nicht immer zwingend, auch da die Gegenwart ausgeklammert blieb. Alles befand sich auf einer abschüssigen Ebene. Irgendwie sollte es um Film gehen, irgendwie kann alles ein Film sein.
In jedem Fall war fast alles viel zu lang, und was in 2 oder 5 Minuten einen Effekt hat, nutzt sich in zehn oder 20 ab.
Vor allem aber hebelte die Schau ihre eigenen Grundlagen aus. Denn das Expanded Cinema und anderes hier
war ursprünglich als Spiel und Bruch mit Zuschauererwartungen gedacht. Wenn aber die Zuschauer den Bruch erwarten, hätte man ihren Erwartungen eher gebrochen, wenn er ausgeblieben wäre.
Warum hat das Festival sich nicht getraut, die Reihe innerhalb des anderen Programms einzubetten. Dann wäre das Unerwartete tatsächlich ein wenig unerwartet gekommen.
Am besten war die Location: Europa hieß das Kino, wo sich heute bezeichnenderweise das Transatlantik befindet, nicht nur unser Lieblingslokal mit seinen Pommesschnitzeln und dem Wiener dazu und der typischen Oberhausener Jägersoße drauf...
Schon vor zwei Jahren zeigte uns der Wirt, was jetzt auch die anderen sehen durften: Das leerstehende, ganz im 50er-Jahre-Stil gebaute Kellerkino. Heute nur noch Probebühne des Stadttheaters, feuerpolizeilich für 88
Besucher zugelassen, weshalb wir das Programm mit einem Feuerwehrmann sahen, den wir leider am Ende nicht gefragt haben, wie er den Schmarrn fand. Das wars nämlich.
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Zum ersten Mal gab es ein »Seminar« – nichtöffentlich, für die 30 Teilnehmer die Gelegenheit eines privilegierten Blicks auf das Festival. Nach allem, was man währenddessen von Teilnehmern hörte, eine sehr gute, überaus gelungene Veranstaltung. erst das öffentliche »Podium« am Schluss relativierte diesen Eindruck. Da war alles extrem amerikanisiert in Ausdruck und Denken... Man sah lauter weiße bürgerliche Studentinnen, die gut und akzentfrei amerikanisches
Englisch reden können, und etwas sehr beflissen im Jargon herumturnten: »How do we look at films now... this institutional tradition, this is not us.«
Oh gottogott, so wird das nichts mit der Revolution.
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Die Retrospektiven und Podien wurden in den letzten zwei Jahren schwächer, ist mein Eindruck. Die Themen verlocken zu apokalyptischen Diskussionen.
Ausgerechnet das Podium zu Film without Film war aber so super, dass wir darüber bald was Eigenes schreiben.
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Wenn es unter 440 Kurzfilmen zwischen wenigen Sekunden und rund 45 Minuten Länge aus 66 Ländern überhaupt so etwas wie feststellbare Tendenzen und Gemeinsamkeiten gibt, dann ist das neben einer angenehmen formalen Unaufgeregtheit und der völligen Abwesenheit eines wieder mal neuen technischen Hypes, die Tatsache, dass in vielen Filmen das Vertraute fremd wird und das Fremde vertraut.
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Das galt für den deutschen Wettbewerb. Dort zeigte die in Bayern geborene Berlinerin Lola Randl, deren dritter Langfilm gerade im Kino läuft, Landschwärmer, den Auftakt einer Kurzfilm-Serie über die neue Landflucht der Städter, genauer gesagt der neobürgerlichen Ökohipster aus den Berliner Bionade-Vierteln. Mit absurdem Humor karikiert Randl treffend Männer, die das Weben lernen, und Frauen, die gesund kochen – alle finden sich selbst und verlieren dabei die Realität aus den Augen.
Wenn der Sommer vorbe ist, geht es zurück in die Stadt – dieser Aufbruch ins Vertraute inspirierte die in Hamburg studierende Marlene Denningmann zu einem der mutigsten, spannendsten Experimente in Oberhausen: Schon der Titel »Eine Liebeserklärung wird im entscheidenden Moment Wunder wirken« signalisiert die Sprödigkeit dieses Versuchs. Denningmann macht es dem Zuschauer nicht leichter, als nötig, aber gerade ihr kompromissloser Mut, ihre ästhetische Unverfrorenheit macht diesen sperrig-faszinierenden Film zum stärksten Beitrag im deutschen Wettbewerb.
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Auch ein Film der Internationalen Konkurrenz spielte im Berliner Künstlermilieu – der in der Hauptstadt lebende Israeli Lior Shamritz erzählt in L’amour sauvage zunächst von einem Paar, das sich nach Jahren der Trennung für einen Tag wieder trifft – man ist sehr vertraut begegnet alten Freunden und Orten. Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Erzählt aus der Perspektive des Mannes wandelt sich dann die Handlung ins ein alptraumhaftes Szenario, das eindringlich die Bildwelt totalitären Terrors, von Genozid und Shoah beschwört – alles könnte nur ein böser Traum sein, doch ebenso war vielleicht das Wiedersehensglück nur ein kurzer letzter Traum vor dem Ende. L’amour sauvage ist ein kaleidoskopischer Film wie ein Kipp-Bild, mit einem Erzähler, dem man nicht trauen kann.
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Völlig verschieden war Quality Time vom Israeli Doron Levin: Er filmt sich selbst, seine Schwestern und seinen Vater beim Besuch am Grab des toten Bruders, das der Vater zuletzt vor 30 Jahren, die Schwestern noch nie gesehen haben. Eine bewegende, unerwartet gut gelaunte Meditation über das Erinnern und das Vergessen. Über den Verlust.
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Ganz anders unvertraut ist Südafrika. Das scheinbar glamouröse Leben der Gangster fasziniert auch dort wie an vielen Orten die Kids der Unterschicht: Mit der Knarre glauben sie an Geld und Macht zu kommen, und finden oft nur den Tod. Teboho Edkins sprach in seinem Dokumentarfilm Gangster Backstage mit einigen von ihnen – und trifft auf viel Angst und Resignation. Ein spannendes Milieu-Portrait.
Wie wenig wir immer noch über Südafrika und seine Einzigartigkeit wissen, zeigte die Schau von Aryan Kaganoff, bei dem Filmemachen zur Praxis des Widerstandes wird. Kaganoff macht überaus engagiertes, politisches Kino, das den Atem stocken lässt. Denn hier sieht man den brutalen Alltag einer immer noch rassistischen Gesellschaft, in der die Befreiung keine war, und die alten Herrscher in besserer Tarnung auch die neuen sind. Eine Erfahrung, die nicht nur den Deutschen der Nachkriegszeit vertraut ist.
Und man sieht den Westen: hilflos und zynisch, in der Rolle des Auftraggebers von nettem Kunstkino, das sich plötzlich im Fall von Kaganoff als sperrig erweist.
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Und dann war da noch der deutsche Independent schlechthin, der innerlich ganz junge deutsche Godard Klaus Lemke, der einen Kurzfilm im Musikvideoprogramm laufen hatte. Im Internet kommentiert Lemke seinen Oberhausen-Besuch mit schnoddrig-einfallsreichen Kurzfilmen.
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Bei den Internationalen Kurzfilmtagen von Oberhausen konnte man das Staunen wieder lernen. Zwischen Lemke und Ruttmann erweist sich Oberhausen auch mit 60 Jahren als das jüngste, frischeste, wachste deutsche Filmfestival – in Stärken wie Schwächen ein Spiegel der Geschichte der Bundesrepublik und ein Seismograph unseres Zeitalters.