Lovemobil-Debatte
All documentaries are lies? |
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Auf Eis gelegt: Das Lovemobil | ||
(Foto: Elke Margarete Lehrenkrauss) |
Von Dunja Bialas
Es gehört zum Anspruch eines Dokumentarfilms: Er muss wahr und wahrhaftig sein und die Realität wiedergeben, wie sie ist. Am besten gelangt man zur Realität, wenn man die Mittel des »Direct Cinema« einsetzt, so zumindest praktiziert es der Dokumentarfilm seit den 1950er Jahren. Große Namen verbinden sich mit dieser hohen Kunst der unkommentierten Wirklichkeitswiedergabe: Der hierzulande leider unbekannte Kanadier Michel Brault, der große Richard Leacock oder der kürzlich verstorbene D. A. Pennebaker sind Meister ihres Fachs.
Eine »authentischere Realität« als das Direct Cinema wollte hingegen die Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss. In ihrem Dokumentarfilm Lovemobil hat sie Szenen reinszeniert und damit Einblicke in die Prostitution gewährt, die sie kaum hätte dokumentarisch drehen können. Der Film gewann letztes Jahr den Deutschen Dokumentarfilmpreis und war jetzt für den Grimme-Preis nominiert. Es gab aber ein Problem: Lehrenkrauss hatte verschwiegen, dass sie mit angeheuerten Darsteller*innen Szenen inszeniert hatte. Nach der Aufklärungsreportage »Lovemobil: Dokumentarfilm über Prostitution gefälscht?«, die am vergangenen Dienstag auf dem NDR-Youtubekanal „Strg-F“ veröffentlicht wurde, wurde die Nominierung zurückgenommen, und am gestrigen Mittwoch gab dann Lehrenkrauss den Dokumentarfilmpreis zurück. Der Film war übrigens auch eine NDR-Produktion.
Die Dokumentarfilmherzen schlagen jetzt aufgeregt hoch, allerdings in unterschiedliche Richtung. Fühlen die einen sich absichtlich von der Regisseurin getäuscht, weil sie von ihr zum Inszenierungsstatus einzelner Szenen belogen wurden, nehmen andere es schwerer, dass Lehrenkrauss anscheinend von der NDR-Redaktion eingeschüchtert war und sich nicht traute, ihre unkonventionellen Mittel der Redaktion zu offenbaren. Sie war der »Wahrheit und Realität verpflichtet«, unterstreicht der zuständige NDR-Redakteur Timo Großpietsch in der Reportage. »Die Geschäftsgrundlage dieses Films ist Realität und Authentizität.« Seine Worte verraten den großen Druck, der auf der Regisseurin gelegen haben muss.
Nora Moschüring, die beim Münchner Dokfest vor zwei Jahren das Werkstattgespräch mit der Regisseurin besuchte, kommentiert neben Rüdiger Suchsland und Sedat Aslan, HFF-Absolvent, den „Fall“ um Lovemobil für „artechock“, Dokfest-Mitarbeiter Ludwig Sporrer hat zusammen mit der Dokumentarfilmerin und -kuratorin Grit Lemke mit der Regisseurin gesprochen. In dem Interview kommt Elke Maria Lehrenkrauss selbst ausführlich zu Wort. Da bleibt Gelegenheit, um über das weitverbreitete Lügen und Verfälschen im Dokumentarfilm zu sprechen.
So wie das „Direct Cinema“ als realitätsnahe Technik für den Dokumentarfilm einen Nimbus hat, ist es ein Gemeinplatz, dass sich im Augenblick, in dem die Kamera eingeschaltet wird, die Realität verändert. Die Menschen nehmen andere Verhaltens- und Sprechweisen an, was man nur vermeiden kann, indem man sie wochenlang an das beobachtende „dritte Auge“ namens Kamera gewöhnt. Außerdem wird der Bildausschnitt gewählt und dadurch die Wirklichkeit zwangsläufig perspektiviert. Mittlerweile anerkannte Techniken des Dokumentarfilms sind aber auch, Animationssequenzen für nicht filmbare Szenen als Platzhalter einzusetzen wie die Traumsequenzen in Valentin Riedls preisgekröntem Dokumentarfilm Lost In Face (2020), oder auch Szenen nachzustellen oder zu reinszenieren. Andres Veiel erzählte einmal, wie er in Black Box BRD (2001) die Herrnhausen-Witwe mehrmals die Freitreppe ihres Wohnhauses herunterkommen ließ, weil er mit dem Take nicht zufrieden war. Wenn man aber wie im Fall von Lovemobil die vorgefundene Wirklichkeit vielfach substituiert ohne dies zu kennzeichnen, entsteht ein Problem, weil der Vertrauenspakt mit dem Zuschauer suspendiert wird. Seine Grundannahme ist, dass der Dokumentarfilmer die Wirklichkeit zeigt, nicht aber nachempfindet oder nachstellt. Und wenn, dann will er es wissen.
Es ist aber auch schon lange akzeptiert, dass Dokumentarfilme auch lügen können. »All documentaries are lies«, verriet James Benning bei einer Lecture. Der Dokumentarfilm-Trapper, der sein Publikum dazu bringt, minutenlang auf die Einstellung eines stillen Sees zu starren und damit die minimalste und reinste Form des dokumentarischen Bildes feiert, ist Meister von ideellen Soundscapes, die nichts mit dem Hier und Jetzt der dokumentarischen Bildaufnahme zu tun haben. Auch dies ist die maximale Täuschung des Publikums. Empört hat sich darüber aber keiner.
Wellen schlug hingegen 2012 This Ain’t California. Regisseur Marten Persiel hatte Super-8-Rollen auf einem Speicher gefunden und daraus einen mitreißenden Film über die DDR-Skaterszene montiert. Problem war: Alles war von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Zwar gab es eine solche Szene, wie mich die Grit Lemke auf meine fälschliche Annahme hinweist, so etwas hätte es nie gegeben. Der Filmemacher Tilman Kenigu ergänzt: »Wir haben uns damals in Merseburg Bretter in eine halbwegs skateboardähnliche Form gesägt und dann irgendwelche Rollen drunter geschraubt, und wir waren da nicht mal zehn Jahre alt – die Älteren hatten da noch ganz andere Möglichkeiten, bzw. gab es ja auch Westimporte.« Aber die Super-8-Rollen mit dem atemberaubenden Aufnahmen gab es nicht, die wurden nachgestellt, mit Kostümen, Aufnahmetechnik und im Spirit ins richtige Licht gesetzt. Anstatt aber darüber offenherzig zu sprechen und sich für seine Inszenierungskunst beklatschen zu lassen, führte Persiel das begeisterte Publikum beharrlich an der Nase herum. Allein: die Nichtoffenlegung der Fiktion – zumindest bis zu einem gewissen Punkt – gehörte in diesem Fall zur Strategie des „Mockumentary“. Es war ein Fake Documentary, das die Wirklichkeit absichtlich als reine Illusion auferstehen lässt und damit das Grundprinzip des Dokumentarfilms gegen das Grundprinzip des Kinos ausspielt. Perfide.
Wer glaubt, es hätte so viel Filmmaterial über die Underground-Skaterszene existiert, dass sich daraus nahtlos in eine schlüssige Erzählung montieren ließe, ist aber irgendwie auch selber schuld. Wenn man die Lüge nicht durchschauen will, ist das auch eine kindliche Sichtweise, Märchen bauen darauf auf. Und so wurde der Film dann später gelabelt: als Dokumentarfilmmärchen. Die Unwahrscheinlichkeit des Realen war schon vorher dem Filmmaterial eingeschrieben.
Ein großer Schlingel des Dokumentarfilms ist der Pole Stanislaw Mucha. In Zigeuner (2007) portraitiert er Roma und Sinti in der Ost-Slowakei. In einer der ersten Szenen fragt er sie, wie sie genannt werden wollen. »Zigeuner«, erklären sie fröhlich. Beim Publikumsgespräch verrät Mucha, dass er vor dem Dreh seinen Protagonisten Geld gezahlt habe, damit sie ihm das Statement für die Kamera bringen. Auch für andere Szenen habe er Geld gezahlt. Mit dem Ziel, für die Portraitierten leidenschaftlich Partei zu ergreifen, weil die Abschaffung des Z-Worts nichts an ihrer Situation verbessert hat. Hier wird der Zuschauer auf sehr schlaue Weise an der Nase herumgeführt.
Geld an die Protagonisten zu zahlen gehört wegen der Gefahr, damit der Wirklichkeitsmanipulation Tür und Tor zu öffnen, nicht gerade zum Ehrenkodex der Dokumentarfilmszene. Diese Tatsache wiederum sorgte für Aufregung, als der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert 2002 mit seinem Zwergenschulenfilm Sein und Haben einen kommerziellen Erfolg einfuhr und der Protagonist Lehrer Lopez einen Prozess anstrengte. Er sprach von »Exploitation«, also der Ausbeutung seiner Person, und verlangte nachträglich 2 Millionen Euro Gage (bei einem Einspielergebnis von über 13 Millionen Euro). Das wurde abgeschmettert, was gerade noch den »Tod des Dokumentarfilms«, so die einst hitzige Diskussion unter den französischen Filmemachern, abwenden konnte. Ob der sympathische Herr Bachmann auch so reagieren wird, wenn Maria Speths preisgekrönter Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Herr Bachmann und seine Klasse erfolgreich wird?
Der Dokumentarfilm hat ein Wirklichkeitsproblem. Das lässt sich zum moralischen Aufrichtigkeitsproblem steigern, wie bei Lovemobil. Andererseits verfügt der Dokumentarfilm aber auch über unzählige verfälschende Mittel, und benutzt sie auch unbeanstandet. Das Problem ergibt sich erst, wenn man der Manipulation nachgibt, oder selbst verführt wird. Oder wenn die Intention nicht plausibel macht, oder es überhaupt verschwiegen wird. Wie jetzt bei Lovemobil.
Es möge aber doch lieber ein Bonmot aus Guy Maddins My Winnipeg gelten. Der experimentelle Filmemacher sagt: »There are no facts, but truth.«