25.03.2021
Lovemobil-Debatte

All documentaries are lies?

Lovemobil
Auf Eis gelegt: Das Lovemobil
(Foto: Elke Margarete Lehrenkrauss)

Lovemobil ist ein inszenierter Dokumentarfilm, ohne dass dies jemand wusste. Jetzt gibt die Regisseurin Lehrenkrauss ihren Dokumentarfilmpreis zurück. Inszenierung, Fake und „Lüge“ aber haben eine gute Dokumentarfilmtradition – man muss das nur offenlegen

Von Dunja Bialas

Es gehört zum Anspruch eines Doku­men­tar­films: Er muss wahr und wahr­haftig sein und die Realität wieder­geben, wie sie ist. Am besten gelangt man zur Realität, wenn man die Mittel des »Direct Cinema« einsetzt, so zumindest prak­ti­ziert es der Doku­men­tar­film seit den 1950er Jahren. Große Namen verbinden sich mit dieser hohen Kunst der unkom­men­tierten Wirk­lich­keits­wie­der­gabe: Der hier­zu­lande leider unbe­kannte Kanadier Michel Brault, der große Richard Leacock oder der kürzlich verstor­bene D. A. Penne­baker sind Meister ihres Fachs.

Eine authen­ti­schere Realität

Eine »authen­ti­schere Realität« als das Direct Cinema wollte hingegen die Regis­seurin Elke Margarete Lehren­krauss. In ihrem Doku­men­tar­film Lovemobil hat sie Szenen reinsze­niert und damit Einblicke in die Prosti­tu­tion gewährt, die sie kaum hätte doku­men­ta­risch drehen können. Der Film gewann letztes Jahr den Deutschen Doku­men­tar­film­preis und war jetzt für den Grimme-Preis nominiert. Es gab aber ein Problem: Lehren­krauss hatte verschwiegen, dass sie mit ange­heu­erten Darsteller*innen Szenen insze­niert hatte. Nach der Aufklärungs­re­por­tage »Lovemobil: Doku­men­tar­film über Prosti­tu­tion gefälscht?«, die am vergan­genen Dienstag auf dem NDR-Youtube­kanal „Strg-F“ veröf­fent­licht wurde, wurde die Nomi­nie­rung zurück­ge­nommen, und am gestrigen Mittwoch gab dann Lehren­krauss den Doku­men­tar­film­preis zurück. Der Film war übrigens auch eine NDR-Produk­tion.

Die Doku­men­tar­film­herzen schlagen jetzt aufgeregt hoch, aller­dings in unter­schied­liche Richtung. Fühlen die einen sich absicht­lich von der Regis­seurin getäuscht, weil sie von ihr zum Insze­nie­rungs­status einzelner Szenen belogen wurden, nehmen andere es schwerer, dass Lehren­krauss anschei­nend von der NDR-Redaktion einge­schüch­tert war und sich nicht traute, ihre unkon­ven­tio­nellen Mittel der Redaktion zu offen­baren. Sie war der »Wahrheit und Realität verpflichtet«, unter­streicht der zustän­dige NDR-Redakteur Timo Großpietsch in der Reportage. »Die Geschäfts­grund­lage dieses Films ist Realität und Authen­ti­zität.« Seine Worte verraten den großen Druck, der auf der Regis­seurin gelegen haben muss.

Nora Moschüring, die beim Münchner Dokfest vor zwei Jahren das Werk­statt­ge­spräch mit der Regis­seurin besuchte, kommen­tiert neben Rüdiger Suchsland und Sedat Aslan, HFF-Absolvent, den „Fall“ um Lovemobil für „artechock“, Dokfest-Mitar­beiter Ludwig Sporrer hat zusammen mit der Doku­men­tar­fil­merin und -kuratorin Grit Lemke mit der Regis­seurin gespro­chen. In dem Interview kommt Elke Maria Lehren­krauss selbst ausführ­lich zu Wort. Da bleibt Gele­gen­heit, um über das weit­ver­brei­tete Lügen und Verfäl­schen im Doku­men­tar­film zu sprechen.

Die Wahrheit über den lügen­haften Doku­men­tar­film

So wie das „Direct Cinema“ als reali­täts­nahe Technik für den Doku­men­tar­film einen Nimbus hat, ist es ein Gemein­platz, dass sich im Augen­blick, in dem die Kamera einge­schaltet wird, die Realität verändert. Die Menschen nehmen andere Verhal­tens- und Sprech­weisen an, was man nur vermeiden kann, indem man sie wochen­lang an das beob­ach­tende „dritte Auge“ namens Kamera gewöhnt. Außerdem wird der Bild­aus­schnitt gewählt und dadurch die Wirk­lich­keit zwangs­läufig perspek­ti­viert. Mitt­ler­weile aner­kannte Techniken des Doku­men­tar­films sind aber auch, Anima­ti­ons­se­quenzen für nicht filmbare Szenen als Platz­halter einzu­setzen wie die Traum­se­quenzen in Valentin Riedls preis­ge­kröntem Doku­men­tar­film Lost In Face (2020), oder auch Szenen nach­zu­stellen oder zu reinsze­nieren. Andres Veiel erzählte einmal, wie er in Black Box BRD (2001) die Herrn­hausen-Witwe mehrmals die Frei­treppe ihres Wohn­hauses herun­ter­kommen ließ, weil er mit dem Take nicht zufrieden war. Wenn man aber wie im Fall von Lovemobil die vorge­fun­dene Wirk­lich­keit vielfach substi­tu­iert ohne dies zu kenn­zeichnen, entsteht ein Problem, weil der Vertrau­ens­pakt mit dem Zuschauer suspen­diert wird. Seine Grund­an­nahme ist, dass der Doku­men­tar­filmer die Wirk­lich­keit zeigt, nicht aber nach­emp­findet oder nach­stellt. Und wenn, dann will er es wissen.

Es ist aber auch schon lange akzep­tiert, dass Doku­men­tar­filme auch lügen können. »All docu­men­ta­ries are lies«, verriet James Benning bei einer Lecture. Der Doku­men­tar­film-Trapper, der sein Publikum dazu bringt, minu­ten­lang auf die Einstel­lung eines stillen Sees zu starren und damit die mini­malste und reinste Form des doku­men­ta­ri­schen Bildes feiert, ist Meister von ideellen Sound­scapes, die nichts mit dem Hier und Jetzt der doku­men­ta­ri­schen Bild­auf­nahme zu tun haben. Auch dies ist die maximale Täuschung des Publikums. Empört hat sich darüber aber keiner.

Die Wirk­lich­keit als Illusion

Wellen schlug hingegen 2012 This Ain’t Cali­fornia. Regisseur Marten Persiel hatte Super-8-Rollen auf einem Speicher gefunden und daraus einen mitreißenden Film über die DDR-Skater­szene montiert. Problem war: Alles war von vorne bis hinten erstunken und erlogen. Zwar gab es eine solche Szene, wie mich die Grit Lemke auf meine fälsch­liche Annahme hinweist, so etwas hätte es nie gegeben. Der Filme­ma­cher Tilman Kenigu ergänzt: »Wir haben uns damals in Merseburg Bretter in eine halbwegs skate­boar­dähn­liche Form gesägt und dann irgend­welche Rollen drunter geschraubt, und wir waren da nicht mal zehn Jahre alt – die Älteren hatten da noch ganz andere Möglich­keiten, bzw. gab es ja auch West­im­porte.« Aber die Super-8-Rollen mit dem atem­be­rau­benden Aufnahmen gab es nicht, die wurden nach­ge­stellt, mit Kostümen, Aufnah­me­technik und im Spirit ins richtige Licht gesetzt. Anstatt aber darüber offen­herzig zu sprechen und sich für seine Insze­nie­rungs­kunst beklat­schen zu lassen, führte Persiel das begeis­terte Publikum beharr­lich an der Nase herum. Allein: die Nicht­of­fen­le­gung der Fiktion – zumindest bis zu einem gewissen Punkt – gehörte in diesem Fall zur Strategie des „Mocku­men­tary“. Es war ein Fake Docu­men­tary, das die Wirk­lich­keit absicht­lich als reine Illusion aufer­stehen lässt und damit das Grund­prinzip des Doku­men­tar­films gegen das Grund­prinzip des Kinos ausspielt. Perfide.

Wer glaubt, es hätte so viel Film­ma­te­rial über die Under­ground-Skater­szene existiert, dass sich daraus nahtlos in eine schlüs­sige Erzählung montieren ließe, ist aber irgendwie auch selber schuld. Wenn man die Lüge nicht durch­schauen will, ist das auch eine kindliche Sicht­weise, Märchen bauen darauf auf. Und so wurde der Film dann später gelabelt: als Doku­men­tar­film­mär­chen. Die Unwahr­schein­lich­keit des Realen war schon vorher dem Film­ma­te­rial einge­schrieben.

Hier kam Geld ins Spiel

Ein großer Schlingel des Doku­men­tar­films ist der Pole Stanislaw Mucha. In Zigeuner (2007) portrai­tiert er Roma und Sinti in der Ost-Slowakei. In einer der ersten Szenen fragt er sie, wie sie genannt werden wollen. »Zigeuner«, erklären sie fröhlich. Beim Publi­kums­ge­spräch verrät Mucha, dass er vor dem Dreh seinen Prot­ago­nisten Geld gezahlt habe, damit sie ihm das Statement für die Kamera bringen. Auch für andere Szenen habe er Geld gezahlt. Mit dem Ziel, für die Portrai­tierten leiden­schaft­lich Partei zu ergreifen, weil die Abschaf­fung des Z-Worts nichts an ihrer Situation verbes­sert hat. Hier wird der Zuschauer auf sehr schlaue Weise an der Nase herum­ge­führt.

Geld an die Prot­ago­nisten zu zahlen gehört wegen der Gefahr, damit der Wirk­lich­keits­ma­ni­pu­la­tion Tür und Tor zu öffnen, nicht gerade zum Ehren­kodex der Doku­men­tar­film­szene. Diese Tatsache wiederum sorgte für Aufregung, als der fran­zö­si­sche Doku­men­tar­filmer Nicolas Philibert 2002 mit seinem Zwer­gen­schu­len­film Sein und Haben einen kommer­zi­ellen Erfolg einfuhr und der Prot­ago­nist Lehrer Lopez einen Prozess anstrengte. Er sprach von »Exploita­tion«, also der Ausbeu­tung seiner Person, und verlangte nach­träg­lich 2 Millionen Euro Gage (bei einem Einspiel­ergebnis von über 13 Millionen Euro). Das wurde abge­schmet­tert, was gerade noch den »Tod des Doku­men­tar­films«, so die einst hitzige Diskus­sion unter den fran­zö­si­schen Filme­ma­chern, abwenden konnte. Ob der sympa­thi­sche Herr Bachmann auch so reagieren wird, wenn Maria Speths preis­ge­krönter Berlinale-Wett­be­werbs­bei­trag Herr Bachmann und seine Klasse erfolg­reich wird?

There are no facts, but truth

Der Doku­men­tar­film hat ein Wirk­lich­keits­pro­blem. Das lässt sich zum mora­li­schen Aufrich­tig­keits­pro­blem steigern, wie bei Lovemobil. Ande­rer­seits verfügt der Doku­men­tar­film aber auch über unzählige verfäl­schende Mittel, und benutzt sie auch unbe­an­standet. Das Problem ergibt sich erst, wenn man der Mani­pu­la­tion nachgibt, oder selbst verführt wird. Oder wenn die Intention nicht plausibel macht, oder es überhaupt verschwiegen wird. Wie jetzt bei Lovemobil.

Es möge aber doch lieber ein Bonmot aus Guy Maddins My Winnipeg gelten. Der expe­ri­men­telle Filme­ma­cher sagt: »There are no facts, but truth.«